Читать книгу Steirerland - Claudia Rossbacher - Страница 10
3.
ОглавлениеDie weißen Folientunnel auf dem Gemüseacker zu ihrer Linken ließen Sandra die Streifenwagen, die dahinter auf dem Feldweg parkten, zu spät erkennen, um noch rechtzeitig vor der Kreuzung abbremsen und abbiegen zu können. Den Gedanken, zurückzusetzen oder den Toyota zu wenden und zur Abzweigung zurückzufahren, verwarf sie gleich wieder. Stattdessen stellte sie den Kleinwagen hinter einer Funkstreife am Bankett ab. Der Forstweg, der von dort in ein Waldstück führte, war durch das Einsatzfahrzeug ohnehin schon blockiert. Wen störte es also, wenn sie auch noch dahinter parkte?
Bevor Sandra den Sicherheitsgurt öffnen konnte, stand ein Uniformierter neben dem Wagen und deutete ihr, dass sie hier nicht stehen bleiben durfte. Sie hielt ihren Dienstausweis gegen die Scheibe. Nur gut, dass sie ihn – im Gegensatz zu ihrer Dienstwaffe, den Handschellen und anderen kriminalpolizeilichen Ausrüstungsgegenständen – auch privat stets bei sich trug. Augenblicklich wich der Polizist zurück und kam neben seiner hageren Kollegin zu stehen, die inzwischen ebenfalls die Funkstreife verlassen hatte.
Sandra stieg aus dem Leihwagen aus und stellte sich offiziell vor. »Abteilungsinspektorin Sandra Mohr, LKA Steiermark.«
Die beiden Uniformierten von der Polizeiinspektion Halbenrain nannten ihrerseits Namen und Dienstränge.
»Die Kollegen aus Graz sollten etwa in einer Viertelstunde hier eintreffen. Wo ist die Leiche?«, kam Sandra direkt zur Sache.
»Hier drin.« Der Polizist deutete in den Wald.
»Kommt wer mit zur Fundstelle oder finde ich sie allein?«, fragte Sandra.
»Ich komm schon mit«, bot sich der Kollege an.
»Vom Feldweg, wo die anderen Einsatzwagen stehen, ist es aber näher«, warf die Polizistin ein.
»Wir können genauso gut durch den Wald gehn«, entgegnete ihr Partner, offenbar genervt von ihrer Besserwisserei.
»Wie weit ist die Stelle denn von hier entfernt?«, fragte Sandra.
»Keine 300 Meter.«
»Haben Sie Handschuhe für mich?«
Die Polizistin holte ein Paar Einweghandschuhe aus der Funkstreife und überreichte sie der LKA-Ermittlerin.
»Danke. Gehen wir.« Sandra setzte sich in Bewegung. »Wo ist die Zeugin, die den Toten aufgefunden hat?«, wandte sie sich an ihren Begleiter.
»Drüben am Feldweg. Beim Inspektionskommandanten Stöckler«, sagte er. »Wir kennen die Frau. Krenn Waltraud heißt sie, eine Pensionistin, wohnhaft in Hof bei Straden. Nach der Sonntagsmesse war sie mit ihrem Hund spazieren. Ohne den hätt s’ die Leich wahrscheinlich gar nicht entdeckt.«
»Wann genau war das denn?« Erst jetzt bemerkte Sandra, dass sie fröstelte ohne ihre Jacke, die sie im Auto gelassen hatte. Obwohl die Herbstsonne an diesem späten Vormittag durch die teilweise kahlen Kronen der Laubbäume schien, war es kühl im Wald. Die leichte Brise, die ihr um die Nase wehte, roch nach Holzrauch, als würden in der Nähe Fleisch oder Würste geselcht werden. Sandra beschleunigte ihre Schritte.
»Wir sind um halb zehn von der Einsatzzentrale verständigt worden.« Sandras Begleiter passte sein Tempo dem ihren an und streckte den Arm aus. »Der Tote liegt dort hinten. In einem Graben unterm Laub.« Er deutete zu einem Holzstoß, in dessen Nähe sich zwei weitere Polizisten miteinander unterhielten. »Ihm fehlen beide Hände«, berichtete er weiter.
»Ihm fehlen die Hände?«, hakte Sandra nach.
»Ja, sie wurden ihm abgetrennt.«
Sandra hielt vor dem brusthohen, etwa vier Meter langen Holzstoß inne und streifte die Handschuhe über. »Sie meinen, im Zuge seiner Ermordung?«
Der Uniformierte sah Sandra an, als wäre sie schwer von Begriff. »Ja sicher.«
Sicher? Der Mann hätte ja auch schon vor seinem Tod bei einem Unfall die Hände verlieren können. Oder ein paar Waldtiere hatten nach seiner Ermordung daran genagt, überlegte Sandra. »Könnte es sich nicht auch um Tierfraß handeln?«, fragte sie. »Füchse, Wildschweine, Ratten, Krähen …?« Es brauchte höchstens drei Tage, bis eine Rotte Wildschweine einen ganzen Menschen aufgefressen hatte.
Der Polizist zuckte mit den Schultern. »Glaub ich nicht.«
»War die Leiche denn vollständig mit Laub bedeckt, als sie aufgefunden wurde?«
»Die Kollegen wissen das besser als ich. Sie haben den Fundort abgesichert und sind seither hier postiert.«
Sandra trat hinter den Holzstoß und wandte sich an die Uniformierten am Absperrband, um ihnen dieselbe Frage zu stellen. Neben dem Surren zahlreicher Fliegen waren immer wieder Stimmen aus ihren Funkgeräten zu vernehmen. Ebenso jene, die von den Einsatzfahrzeugen am nahen Feldweg in den Wald herüberdrangen. Um sie verstehen zu können, waren diese jedoch zu weit entfernt.
»Der Zeugin ihr Hund hat die Leich ausm Laub ausgegraben«, antwortete einer der Männer. »Dann ist sie in die Muldn einigstiegen und hat nachgschaut, ob s’ dem Mann noch helfen kann. Die Frau Krenn war früher Hebamme. Von dem her kennt sie sich medizinisch recht gut aus. Aber da war nix mehr zu machen. Die Leich is ja schon am Verwesen«, berichtete der Landpolizist gleichmütig, als stünden derartige Leichenfunde auf der Tagesordnung.
Sandra wollte sich gerade nach dem ersten Mordopfer erkundigen, als der andere Beamte ihrer Frage zuvorkam. »Wir ham dann auch noch ein bissl was vom Laub wegg’schafft, damit wir seine Taschen durchsuchen können. Anschließend ham wir ihn wieder mit Blattln zuadeckt«, schilderte er die Vorgänge weiter.
Wozu das denn, wunderte sich Sandra. »Irgendwelche Hinweise auf seine Identität? Brieftasche? Ausweis? Handy? Persönliche Gegenstände?«
Beide Polizisten schüttelten die Köpfe. »Nicht einmal ein Schneiztiachl.«
»Wurde die Position der Leiche verändert?«
Wieder folgte synchrones Kopfschütteln. »Liegt genauso da wie vorher.«
Sandra nickte. Es war nicht das erste und bestimmt nicht das letzte Mal, dass Polizisten bei einem Einsatz neue Spuren an einem Tatort oder Fundort setzten, die später abgeglichen werden mussten, um zu den tatrelevanten zu gelangen. Den Kommentar, der ihr auf der Zunge brannte, schluckte sie hinunter und tauchte stattdessen unter dem rot-weißen Flatterband mit dem Polizei-Schriftzug hindurch. Die Leiche lag jetzt gute zwei Meter von ihr entfernt, bäuchlings in einem Graben, der mit kupferbraunem Laub gefüllt war. Kopf, Arme und Beine waren fast vollständig damit bedeckt. Nur der Rücken und das Gesäß, beide durch schwarze Kleidung verhüllt, ragten hervor.
»Werd ich hier noch gebraucht?«, hörte sie hinter sich den Polizisten, der sie hergeführt hatte, fragen.
»Nein danke«, winkte Sandra ab, ohne sich umzudrehen. Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen, um so den Boden unter den abgestorbenen Blättern zu ertasten, während sie sich der Leiche im Graben langsam näherte. Schon einmal hatte sie beim Joggen im Wald eine Vertiefung unter einer laubbedeckten Stelle übersehen und sich eine langwierige Bänderzerrung im Sprunggelenk zugezogen. Einen ähnlichen Unfall wollte sie tunlichst vermeiden. Ihre Füße fanden den Rand einer Mulde. Kontrolliert rutschte Sandra seitlich weiter hinab, bis sie sicher im knietiefen Laub zu stehen kam. Wenn hier ohnehin schon alles durchwühlt worden war, konnte sie sich genauso gut auch noch umsehen, bevor die Tatortgruppe eintraf und Leiche und Fundort für die nächsten Stunden blockierte. Dass dem Toten beide Hände fehlten, konnte Sandra bestätigen, nachdem sie seine Arme behutsam aus dem Laub gehoben und die Ärmel des schwarzen Samtsakkos und des ebenso schwarzen Hemdes hochgeschoben hatte. Die Amputation der Hände war in beiden Fällen oberhalb der Handgelenke erfolgt. Zum Ellenbogen hin fehlten Hautteile. Die Wundränder waren ausgefranst, zahlreiche Maden fraßen sich bereits durchs Gewebe. Die Frakturen von Elle und Speiche ließen hingegen auf ein scharfkantiges Tatwerkzeug schließen. Sandra war kein einheimisches Tier bekannt, das die Knochen dermaßen glatt hätte durchtrennen können. Während sie sich neben den Kopf der Leiche hockte, wachelte sie mit der Hand wiederholt vor ihrem Gesicht herum, um die Fliegenschar zu vertreiben, die der Verwesungsgeruch magnetisch anzog. Sorgfältig fegte sie die Blätter vom Kopf und vom Hals des Mannes. Dann fasste sie in die braunen Locken, um seinen Kopf zur Seite zu drehen und eine tiefe Schnittwunde an der Kehle zu entdecken. Die Schlagader war durchtrennt. Maden und Insekten waren hier ebenso emsig am Werk wie an den Ohren. Ihr spontaner Verdacht des postmortalen Tierfraßes schien sich wenigstens an dieser Stelle zu bestätigen. Das andere Ohr war in einem ähnlichen Zustand. Die Nasenlöcher waren wie auch die Augen von Maden bevölkert. Andere Tiere als Insekten hatten diese Stellen wohl nicht erreichen und an ihnen nagen können, da der Tote darauf gelegen war. Ansonsten konnte Sandra keine sichtbaren Verletzungen ausmachen. Dafür hätte sie die Position des Leichnams verändern beziehungsweise ihn auskleiden müssen, was glücklicherweise nicht zu ihren Aufgaben zählte. Ohne den Obduktionsbefund zu kennen, der den Ermittlern frühestens am nächsten oder übernächsten Tag vorliegen würde, deutete für sie momentan alles darauf hin, dass der Mann verblutet war. Und dass er länger als zwei bis drei Tage tot sein musste. Die Totenstarre hatte sich bereits aufgelöst, Verwesung und Insektenbefall waren fortgeschritten. Auffällig erschien ihr, dass weder die Kleidung noch das Laub in der Nähe der Leiche sichtbare Blutflecken aufwiesen. Zumindest nicht an jenen Stellen, die in der Auffindesituation zu sehen waren. Der Regen konnte keine Spuren fortgewaschen haben. In der Region hatte es zuletzt vor einer guten Woche Niederschlag gegeben, wusste Sandra von der Frau, die sie in der Hotelsauna in ein Gespräch verwickelt hatte. War das wirklich erst gestern gewesen? Es kam ihr vor, als wären inzwischen mehrere Tage vergangen. Ein sicheres Zeichen, dass sie wieder in ihrem Job angekommen war.
Sandra erhob sich aus der Hocke und suchte den Graben mit ihren Blicken ab. Oberflächlich war auch hier kein Blut zu entdecken. Sich weiter durch das Laub zu wühlen, um auf mögliche Spuren zu stoßen, überließ sie liebend gern der Tatortgruppe, die dafür zuständig war. Allen voran deren Leiter, Manfred Siebenbrunner. Die Tatsache, dass jemand anders als er und seine Leute zuerst in der Nähe der Leiche gewesen war, würde ihm bestimmt miserable Laune bescheren, wusste Sandra aus leidvoller Erfahrung. Ein Schauer jagte über ihren Rücken. Den Leiter der Kriminaltechnik hatte sie während ihrer Auszeit am allerwenigsten vermisst. Der Gedanke an den überheblichen Forensiker bereitete ihr beinahe noch größeres Unbehagen als die Gesellschaft der verstümmelten, verwesenden Leiche neben ihr.
Sandra stieg aus dem Graben, um die nähere Umgebung genauer zu begutachten. Nichts deutete darauf hin, dass sie sich am Tatort befand. Vielmehr sah alles danach aus, als wären sowohl der Mord als auch die Amputation der Hände woanders durchgeführt und die Leiche erst später hier abgelegt worden. Warum schnitt man jemandem die Hände ab, fragte sie sich. Um einen Diebstahl zu bestrafen, wie es im Mittelalter und gegenwärtig in einigen islamischen Staaten noch immer praktiziert wurde? Oder um die Identifizierung der Leiche zu erschweren, da keine Fingerabdrücke mehr genommen werden konnten? Der Tote hatte keine Papiere und keine persönlichen Gegenstände bei sich. Hatte der Täter diese vielleicht aus demselben Grund verschwinden lassen? Oder hatte man ihn beraubt? Was war mit den Zähnen des Opfers? Sandra hatte es verabsäumt nachzusehen, ob das Gebiss erhalten war. Der Abgleich des Zahnstatus würde ohnehin im Gerichtsmedizinischen Institut erfolgen. Sofern der Mann zu Lebzeiten einen Zahnarzt in Österreich oder Ungarn, dem Zahnmekka vieler Österreicher, konsultiert hatte, würden sie seine Identität mehr oder weniger rasch feststellen können.
Noch einmal betrachtete Sandra das Mordopfer im Graben, diesmal von weiter oben. Wo waren seine Hände geblieben, fragte sie sich. Entweder der Täter hatte sie – aus welchen Gründen auch immer – mitgenommen, oder ein Tier hatte sie als willkommene Beute angesehen und verschleppt. Falls die fehlenden Gliedmaßen nicht doch noch unter dem Laub verborgen waren, was Sandra aufgrund der augenscheinlichen Spurenlage bezweifelte.
»Sandra! Griaß di!«, unterbrach eine Frauenstimme ihre Überlegungen. Sie wandte sich um und sah Miriam Seifert winkend auf sich zukommen. Im Schatten der jungen groß gewachsenen Kollegin folgte Sascha Bergmann, die obligate Sonnenbrille auf der Nase. Den schwarzgerahmten Klassiker hatte Sandra allerdings noch nie an ihm gesehen. Zuletzt hatte er eine verspiegelte Pilotenbrille getragen, die sie immer mit Pornodarstellern assoziierte. Dabei konnte sie sich nicht einmal erinnern, wann sie zuletzt einen solchen Film gesehen hatte.
»Voll schön, dass du wieder da bist«, fügte Miriam, strahlend wie eh und je, hinzu. Fehlte nur noch, dass sie ihr gleich um den Hals fiel. Angesichts der Leiche, die Miriam aus ihrer Perspektive noch nicht sehen konnte, wäre diese Geste völlig fehl am Platz gewesen. Immerhin musste die junge LKA-Ermittlerin doch am Polizeiabsperrband erkennen, dass sie sich dem Leichenfundort näherte. Sandra konnte nicht umhin, über die herzliche Art der Kollegin zu schmunzeln. Genau wie die beiden Provinzpolizisten, die sich über die Blondine mit Modelmaßen sichtlich amüsierten. Nur Bergmann blieb todernst.
Beim Anblick der Leiche wich der fröhliche Ausdruck schlagartig aus dem hübschen Gesicht der Kollegin. Ihr überschwänglicher Auftritt schien ihr nun doch ein wenig peinlich zu sein. Vor allem vor den ihr unbekannten Männern, deren Blicke noch immer an ihr klebten. Was mehr an ihrem attraktiven Äußeren lag als an ihrem ungestümen Verhalten, vermutete Sandra.
Bergmann half Miriam prompt aus der Verlegenheit, indem er die Aufmerksamkeit der Uniformierten auf sich zog. »Was gibt’s denn hier so blöd zu grinsen?«, schnauzte er die beiden an. Dann wandte er sich Sandra zu. »Servus«, begrüßte er sie knapp, aber immerhin. Mehr hatte sie auch gar nicht von ihm erwartet.
»Hallo, Sascha. Griaß di, Miriam.« Sandra schenkte der Kollegin ein Lächeln, das diese nunmehr zögerlich erwiderte.
»Und?«, erkundigte sich Bergmann, den Blick auf die Leiche gerichtet. »Schon was herausgefunden?«
Er hatte sich kein bisschen verändert, stellte Sandra fest. Weder sparte er mit schlechten Scherzen, wie vorhin in ihrem ersten Telefongespräch seit Monaten, noch nahm er sich sonst ein Blatt vor den Mund. Selbst Fremden gegenüber nicht. Dass der drahtige, bald 40-Jährige stets unrasiert und unfrisiert in löchrigen Jeans und Sportschuhen daherkam, war auch nichts Neues. Dennoch freute sich Sandra, ihn wiederzusehen. Wenngleich sie ihm das bestimmt nicht auf die Nase binden würde.
Besonders viel hatte sie dem Chefinspektor noch nicht zu berichten, außer ihren Schlüssen, die sie aufgrund der ersten Eindrücke vor Ort gezogen hatte.
Bergmann und Miriam hörten ihr aufmerksam zu, verzichteten jedoch darauf, den Toten selbst aus der Nähe zu betrachten. Die Gerichtsmedizinerin würde ohnehin jeden Augenblick hier eintreffen, meinte Bergmann, der unterwegs mit Doktor Jutta Kehrer telefoniert hatte.
Dass die Tatortgruppe soeben im Anmarsch war, war nicht zu überhören. Siebenbrunner schimpfte wie ein Rohrspatz, kaum, dass er die Kollegen ohne Schutzoveralls und Schuhüberzüge im abgesperrten Bereich erblickte.
Das konnte ja heiter werden, dachte Sandra. Ihre kurze Erläuterung der Fakten verschlimmerte die Laune des Chefforensikers nur noch. Wobei ihr Anblick allein vermutlich schon ausreichte, um Siebenbrunner den Tag zu verderben. Umgekehrt war auch ihr Ärger über ihn ziemlich rasch so weit gediehen, dass sie kurz davor stand, zu explodieren. Wie gut, dass Bergmann darauf drängte, den Fundort der Spurensicherung zu überlassen und die Zeugin einzuvernehmen.
Sandra atmete erst einmal tief ein und aus, während sie zu dritt die direkte Route zum Feldweg einschlugen. »Was für ein Grantscherbn«, murmelte sie.
»Einmal Wölli, immer Wölli«, stimmte Miriam ihr zu.
Sandra wandte sich an Bergmann. »Du hast vorhin erwähnt, dass es kürzlich schon einen Mord in der Gegend gegeben hat«, kam sie auf seine Bemerkung am Handy zurück.
Bergmann nickte. »Wenn du mich nachher nach Graz mitnimmst, erzähle ich dir unterwegs alles. Miriam kann ja allein zurückfahren.«
»Von mir aus …« Sandra sah die Kollegin fragend an.
Miriam deutete ihr mit einer Geste, dass sie ihr den Vortritt ließ. »Du schaust übrigens voll super aus«, sagte sie zu Sandra, während Bergmann, nunmehr einige Schritte vor ihnen, auf den ersten Streifenwagen in der Reihe zueilte. »Mindestens fünf Jahre jünger«, fügte sie an.
»Ach wirklich? Und fünf Kilo schwerer«, gestand Sandra.
Miriam musterte sie von oben bis unten. »Zu dünn in deinem Alter ist eh nix. Wegen der Falten …«
»Danke«, erwiderte Sandra trocken. Mit der letzten Bemerkung hatte Miriam ihr Kompliment mit einem Schlag wieder zunichtegemacht.
»Oh, entschuldige bitte. So hab ich’s nicht gemeint. Meine Mama sagt das immer.« Erst jetzt wurde Miriam bewusst, dass sie, wie so oft, ins Fettnäpfchen getreten war.
Sandra schmunzelte einmal mehr über die unverblümte Art der Kollegin, die sie durchaus zu schätzen wusste. Auch wenn es oftmals besser gewesen wäre, vorher zu denken und nachher zu sprechen und nicht umgekehrt. »Schon gut, ich kenne diese Weisheit. In einem gewissen Alter muss man sich entscheiden: entweder fürs Gesicht oder für den Hintern«, zeigte sie sich versöhnlich, obgleich sie nicht gedacht hatte, dass sie mit ihren 34 Jahren schon zu dieser Altersgruppe zählte. Aus Sicht der 23-jährigen Miriam wohl aber doch.
Zum Glück hatte sich Bergmann inzwischen dem Inspektionskommandanten zugewandt, sodass ihr ein Kommentar aus seinem Mund wenigstens erspart blieb. »So schnell sieht man sich also wieder«, sprach er ihn an.
»Leider«, meinte der Uniformierte, sichtlich betroffen.
»Das hast du hoffentlich nicht persönlich gemeint. Oder, Stöckler?« Bergmann grinste ihn an, die Daumen im Hosenbund eingehakt.
»Was? Nein. Ich hab den Mord gemeint«, beteuerte der Landpolizist mit unverändert ernster Miene. »Glaubst du, das war derselbe Täter, der den Haselbacher Markus auf dem Gewissen hat?«
»Wenn es kein Nachahmungstäter war, halte ich es für sehr wahrscheinlich, dass der Mörder des Jungwinzers noch einmal zugeschlagen hat. Ist in den letzten Tagen bei euch jemand als vermisst gemeldet worden?«
Stöckler seufzte. »Nicht bei uns. Aber in Leibnitz. Eine Musikgruppe namens ›Trio fatal‹ hat ihren Akkordeonspieler als vermisst gemeldet. Der Mann ist seit Mittwoch abgängig. Die Burschen hätten dort ein Konzert geben sollen. Am Abend zuvor haben s’ das letzte Mal im Kulturhaus in Straden aufgespielt.«
»Volksmusik?« Bergmann verzog das Gesicht, als würde ihm allein der Gedanke an dieses Musikgenre Schmerzen bereiten.
»Nein, leider nicht. Im Kulturhaus spielen s’ meistens Jazz. Das ist nix für mich.«
»Über Geschmack lässt sich nun mal nicht streiten«, ätzte Bergmann.
Stöckler schien seinen sarkastischen Tonfall gar nicht wahrzunehmen. »Mir sind die Kabarettabende dort eh viel lieber. Wir ham ja in unserm Beruf eher wenig zum Lachen. Überhaupt in letzter Zeit«, meinte er.
»Humor ist, wenn man trotzdem lacht«, erwiderte Bergmann süffisant.
Auch dieser Kommentar prallte an Stöckler ab. Von dem Stoiker konnte sie sich noch einige Scheiben abschneiden, stellte Sandra voller Bewunderung fest.
»Habt ihr ein Foto von dem Vermissten? Und seine Daten?«, kam Bergmann zur Sache.
»Hier ist sein Steckbrief. Wir haben ihn im Einsatzwagen für euch ausgedruckt.«
Bergmann und Sandra studierten gemeinsam den Zettel. Die braunen lockigen Haare stimmten mit jenen der Leiche überein, wenngleich sie auf dem Foto etwas kürzer geschnitten waren. Das geschätzte Alter kam ebenfalls hin. Der abgängige Christian Maric hatte am 13. August dieses Jahres seinen 28. Geburtstag gefeiert, der leider auch sein letzter gewesen sein dürfte. Die Beschreibung der Kleidung, die der Tote zuletzt getragen hatte – eine schwarze Hose, ein schwarzes Hemd und ein ebenfalls schwarzes Samtjackett, dazu knöchelhohe graue Sneakers – passte ebenso.
»Gut. Wir kümmern uns dann um alles Weitere. Wo ist denn die Zeugin, die die Leiche gefunden hat?«, fragte Bergmann.
»Bei der Zeugin handelt es sich um die Krenn Waltraud«, erklärte Stöckler den Ermittlern nichts Neues. »Ich hab sie vor einer halben Stunde gehn lassen. Sie war ein bissl groggy und wollt lieber aufm Koglerhof auf ihre Einvernahme warten. Ist ja nimmer die Jüngste, die Traudl. Aber Arzt wollt sie partout keinen haben.«
»Und wo ist dieser Hof?«
Stöckler drehte sich um und deutete zur Anhöhe. »Gleich hinter dem Acker rechts die Kurve hinauf. Nach den Hollerbüschen ist der Koglerhof. Er g’hört der Josefine, die Traudl … die Frau Krenn ist ihre Taufgodl.«
»Ich nehme mal an, das soll Taufpatin heißen«, sagte Bergmann.
»Genau.«
»Von Josefine Kogler«, sagte Bergmann und war drauf und dran, sich den Namen zu notieren.
»Aber nein«, unterbrach Stöckler ihn. »Kogler ist der Vulgoname.«
Sandra und Miriam grinsten einander an.
»Ihr immer mit euren komischen Vulgonamen. Als ob man sich nicht so schon viel zu viele Namen merken müsste«, beschwerte sich der Chefinspektor aus Wien, der lange genug in der Steiermark ermittelte, um an diese ländliche Sitte gewöhnt zu sein.
»Die Josefine heißt Haselbacher mit Nachnamen. Sie ist Schweinebäuerin, baut aber auch Holler und Marillen an«, sagte Stöckler.
»Haselbacher? Wie der tote Winzer?«
Stöckler nickte. »Er war ihr Cousin.«
»Ach so, verstehe. Jeder mit jedem …« Einmal mehr war es Bergmann, der nun grinste, »… verwandt, meine ich.«
»Das macht das Namenmerken doch wiederum um einiges einfacher für dich«, stichelte Sandra.
Bergmann steckte Notizblock, Stift und Steckbrief in die Innentasche seiner Jacke. »Wo steht dein Wagen?«
»Den Feldweg hinunter, dann links. Wir können aber auch den Abstecher zurück durch den Wald nehmen«, meinte Sandra.
Bergmann schüttelte den Kopf und deutete zu einem zivilen Wagen in der Reihe. »Miriam fährt uns zu diesem Hof hinauf. Und nach der Einvernahme zu deinem Auto.«
Sandra starrte ungläubig den schwarzen Audi an. »Wir haben einen neuen Dienstwagen?« Kaum zu fassen, dass der alte VW-Passat in ihrer Abwesenheit gegen einen funkelnagelneuen A6 eingetauscht worden war.
»Da siehst du mal, was dir alles entgangen ist«, meinte Bergmann. »Servus, Stöckler«, verabschiedete er sich vom Inspektionskommandanten.
Der hob seine Hand gemächlich an den Kappenrand. »Pfiat eich«, grüßte der Landpolizist die drei Ermittler aus der Landeshauptstadt und ließ seinen Arm ebenso langsam wieder herabsinken.