Читать книгу Als hätten sie Land betreten - Claudia Sammer - Страница 10
Flatternde Angst
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Der Gedanke kam ihr, dass all die Pfade und der Rasen, durch und durch verquickt mit dem Leben, das sie dort geführt hatten, verschwunden waren; ausradiert waren; vergangen waren; unwirklich waren […].
Nach Vezas Abreise sperrte Lotti sich in ihrem Zimmer ein. Sie legte sich nackt auf den Boden, an der Stelle, an der die Sonnenstrahlen durch die Ritzen der geschlossenen Balken ein Muster auf ihr malen konnten. Sie fragte sich, wozu sie einen Körper habe, all die Rundungen, Hügel und Täler. Sie wusste nichts damit anzufangen. Sie spürte eine unbekannte Schwere, als stapelten sich Bleigewichte auf jedem Quadratzentimeter. Sie suchte nach den Abdrücken der Last, suchte nach Dellen und Wunden, Einschnitten und Prellungen und fand bloß ihren schlanken, intakten Körper.
Die Traurigkeit spülte Lotti fort, sie war eine Insel, die blühende Landschaft verkarstet, und zum ersten Mal war sie froh über das selbstherrliche Desinteresse, das ihr zu Hause entgegenschlug.
Man war weiter aufgestiegen in der Hierarchie der selbsternannten Größen. Gäste, denen Lotti nie zuvor begegnet war, wurden wie alte Freunde empfangen, Lottis An- oder Abwesenheit bei Tisch kaum registriert. Während sie unten lachten, hockte Lotti in ihrem Kinderzimmer. Es war ihr fremd geworden, die Einrichtung schien ihr lächerlich und unpassend, das viele Weiß und Zartrosa, Blumen rankten sich am geschwungenen Kopfteil ihres Bettes entlang. Sie lauschte der Stille, wenn es ruhig war im Haus, und verachtete die Fröhlichkeit. Dass sie froh sein konnten, wenn das eigene Kind litt. Dass sie Schuld daran hatten, dass das eigene Kind litt. Dass ihnen das eigene Kind nicht sagen konnte, wie sehr es litt.
In wenigen Tagen war Ostern. Am Ostersonntag würde Veza für das Noviziat eingekleidet, das hatte sie Lotti bei ihrer letzten Begegnung erzählt, Lotti solle, nein sie müsse, zu ihrer Einkleidung kommen. Lotti war ihr eine Antwort schuldig geblieben, sie hatte keine Antwort. Sie konnte nicht dabei zusehen, wie Veza diese befremdliche Kleidung entgegennahm, schwere, dunkle Stoffe, unter denen sie verschwand, ihr Haar und ihre schmale Gestalt, ihr Duft und überhaupt die Körperlichkeit, die sie nun verstecken, der sie entsagen musste.
Lotti hatte sich immer auf Ostern gefreut. Sie liebte das Brauchtum und die religiösen Feierlichkeiten. Jahr für Jahr fuhr sie mit ihrer Tante für die Segnung der Osterspeisen zu einer Kirche am Stadtrand. Sie liebte es, im taubengrauen Wagen der Tante durch die Straßen zu schaukeln, sie genoss das Ruckeln, wenn die behandschuhte Hand den Schalthebel umlegte, einer ungekrönte Königin gleich, stolz und souverän, steuerte die Tante ihr Gefährt. Wenn sie vor dem schweren Bau aus Sandstein, der je nach Lichteinfall rostrot oder ockerfärbig schien, einparkten, ernteten sie neidische Blicke, und Lotti schwebte erhobenen Hauptes im Dirndl hinein. Der spätgotische Innenraum mit dem Kreuzrippengewölbe fiel nicht durch seinen besonderen Schmuck auf, die gut erhaltenen gotischen Bleiglasfenster und deren Anordnung in einer Achse von Westen nach Osten, vom Abend zum Morgen, fielen hingegen ins Auge. Die einfallende Sonne reiste dieser Achse entgegen und brachte das Glas zum Leuchten. Umgeben vom gleichmäßigen Gemurmel sah Lotti zu den Fenstern hinauf, ihre Augen blieben am Blau hängen, an seinen Schattierungen, Indigoblau, Kobaltblau und Königsblau. Magisch zog diese Farbe sie an, sie stellte sich vor, ein Insekt zu sein, das dieser geheimnisvollen Lichtquelle nicht widerstehen konnte, das sie umschwirrte und nie genug bekam, davon nie satt wurde.
Ländlich war es in dieser Gegend. Riesige Körbe drängten sich am Karsamstag um den Altar, ihr Inhalt blieb unter den aufwendig bestickten Tüchern verborgen. Bald würden sie die gefärbten Eier, die Schinken und Würste, den Kren und das süße Osterbrot hervorholen. Ostern war stets verheißungsvoll gewesen, es bedeutete Freude und Hoffnung, den Sieg des Lichts über die Dunkelheit. Dieses Jahr war alles anders, dieses Jahr blieb die Auferstehung aus.
Lotti beschloss, Ostern ausfallen zu lassen und wurde von einer neuen Nuance des Schmerzes überrascht, als die Eltern ihre Entscheidung ohne viel Nachfragen hinnahmen. Die Tante war nicht bereit, ihre Verweigerung zu akzeptieren, aber auch sie erreichte wenig, obwohl sie die Launen der Nichte mit Nachsicht und Verständnis ertrug. Von ihr kamen keine besserwisserischen Weisheiten, kein Das geht nicht, das darfst du nicht, das kommt nicht infrage, sie konterte anders, ließ Unüberlegtes gelten, warf höchstens ein Bist du dir da sicher, oder Ja, wenn du meinst ein.
Die Schwester der Mutter war unverheiratet und kinderlos geblieben. Jede Art von Abhängigkeit war ihr ungut, jede Umarmung eine Gradwanderung zwischen Besitz ergreifen und beschützt werden. Männer waren ihr zu territorial, sie markierten ihre Reviere mit großspurigen Gesten und stellten sich breitbeinig vor ihren Ehefrauen auf. Sie gehörte nur sich selbst, mehr war darüber nicht in Erfahrung zu bringen.
Die Tante war eine bemerkenswert moderne Frau zu einer Zeit, in der man es nicht gewohnt war, Frauen etwas zuzutrauen. Sie besaß einen Führerschein, später auch einen eigenen Wagen, und hatte eine Schule gegründet, in der Stenografie und Maschinenschreiben unterrichtet wurden. Sie hatte eine natürliche Begabung für Autorität, die sich mit spielerischer Leichtigkeit paarte, und beherrschte den Balanceakt zwischen Fordern und Überforderung.
Ihre Modernität endete bei ihrer Wohnung. Dunkles Mobiliar, Spitzendeckchen und erdrückende Ölgemälde, dazu eine Beleuchtung, die die Wahl ließ zwischen blendender Helligkeit und ermüdendem Halbdunkel. Die Zimmer waren schlecht gelüftet, die Luft abgestanden, es roch immer nach Essen und Alter, selbst als die Tante noch jung war. Ihre Abende und Wochenenden verbrachte sie mit Kreuzworträtseln, mit dem Häkeln und Besticken von Kissenbezügen und mit Büchern.
Lotti kam gerne zu Besuch. Sie durfte die Tante zur Arbeit begleiten und erhielt eine Gratislektion im Maschinenschreiben. Es faszinierte Lotti, mit welcher Geschwindigkeit die Tante die Tasten bearbeitete, wie sie die Buchstaben durch die Mechanik treffsicher aufs Papier hämmerte und daraus Texte entstanden. Alles ging ihr schnell von der Hand, und Lotti hechelte atemlos hinterher. Der Luftstrom, der ihren Körper umgab, war beinahe sichtbar, er strömte den Beinen entlang aufwärts, bremste unter den Achseln kurz ab und beschleunigte am eckigen, voller Tatendrang in die Höhe gereckten Kinn. Wenn sie Einkäufe zu erledigen hatte, marschierte sie kräftig ausschreitend voran, sie arbeitete ihre Liste ohne Zögern ab und war beim übernächsten Gedanken, während Lotti den vorletzten zu Ende dachte.
Lotti war in einem Zwiespalt zwischen Bewunderung und Zuneigung, zwischen respektvoller Distanz und dem Wunsch nach Nähe gefangen. Möglich, dass sie eine gewisse Ähnlichkeit wahrnahm, das selbstbewusste Auftreten nach außen und das innere Schwanken. Ihr, und nur ihr, hatte sie die Geschichte der Freundin anvertraut und das Versprechen abgerungen, niemandem davon zu erzählen. Die Tante erfüllte das mit Stolz und einem gewissen Bedauern darüber, sich gegen eine Familie entschieden zu haben. Vielleicht wäre sie eine gute Mutter gewesen. Mit ihrer Erzählung hatte Lotti die nüchterne Seite der Tante überrumpelt und eine heimliche, romantische Ader zum Schwingen gebracht.
Obwohl sie kinderlos geblieben war, zeigte sie mehr Verständnis als Lottis Eltern, und vielleicht war es gerade deswegen. Sie gewährte Lotti mehr Freiheiten, sie durfte eine eigene Meinung haben und Entscheidungen treffen, selbst wenn diese banal waren. Lotti bestimmte, wie lange sie am Abend aufblieb und wann sie essen wollte. Morgens aßen sie meist Sterz, am Abend Pumpernickel mit Ziegenkäse und zwischendurch jede Menge Mannerschnitten, die Tante hatte immer Schnitten dabei. Dennoch blieb die Tante zeitlebens dünn wie ein Strich. Nur einmal im Jahr, zu Ostern, wich sie von ihren Gewohnheiten ab. Sie füllte ihren Korb mit Bergen von Schinken, Eiern und Osterbrot, die eine vierköpfige Familie eine Woche lang ernährt hätten.
Als die Tante dieses Jahr erfolglos von dannen gezogen war, vergrub sich Lotti noch tiefer in ihrem Zimmer. Die Zeit wurde ihr lang, Trotz und Traurigkeit begannen schal zu schmecken. Der Gedanke, nie wieder ein unbeschwertes Osterfest feiern zu können, ärgerte sie. Sie riss Schranktüren und Schubladen auf, zerrte Hefte und Bücher, Stifte, Spangen, Röcke und Blusen hervor, entriss sie ihrem stillen Dasein, und schleuderte sie auf den Boden. Da lag es vor ihr, ihr unbedeutendes Leben. Lottis Wut steigerte sich weiter. Sie trampelte auf den Gegenständen herum, sie rissen und brachen unter ihren Füßen und Fäusten. Danach fühlte sich Lotti nicht gut, aber so, als hätte sie in einem Kampf obsiegt. Sie ging in die Knie und untersuchte den Feind. Sie hatte ganze Arbeit geleistet.
Lotti war nun friedlicher gestimmt und wühlte sich durch Fetzen und Scherben. Sie erzählten Geschichten von früher, von der Schule und von Veza. Sie entdeckte ein Heft mit Skizzen und erinnerte sich an das Malbuch, das die Eltern ihr einmal zu Weihnachten geschenkt hatten, eine Einführung in die Lehre der Proportionen und Bewegungsabläufe. Lotti hatte sich damals sehr gefreut und mit Feuereifer zu zeichnen begonnen. Mit den wiedergefundenen Skizzen tauchten Bilder auf. Bilder von den leuchtenden Augen der Mutter, wenn sie die scheinbare Mühelosigkeit hervorhob, mit der die Tochter Menschen, Hunde und Pferde zu Papier brachte, Bilder von Vezas roten Wangen, wenn sie lachte, und Bilder von Vezas feinen, schmucklosen Händen.
Lotti suchte nach einem Stift und begann zu zeichnen. Zögerlich zunächst, sich herantastend an Ausdruck und Gestalt, doch bald sicher, führte sie den Stift über das Papier. Während ihre Hand scheinbar wie von selbst Linien über das Blatt zog, begann die Angst in ihrem Bauch zu flattern, diese Angst, die sie in den letzten Wochen gespürt und nie zu fassen bekommen hatte. Als die Zeichnung fertig war, hörte das Flattern auf, und im selben Augenblick fühlte Lotti sich frei, befreit von dem Gefühl, sie könnte Vezas Gesicht vergessen. Sie konnte es nicht vergessen, sie hielt es in ihren Händen, schwarz auf weiß.