Читать книгу Als hätten sie Land betreten - Claudia Sammer - Страница 9
Aber nicht die Nähe
ОглавлениеVeza
Hier haben sie es verknetet, das Leben mühsam zusammengehalten, soviel sich davon in der Kürze einsammeln ließ.
Im Hause Herczeg nahm man die Bedrohung nicht ausreichend ernst. Man hatte Bekannte, die sich Visa für eine Ausreise verschafft hatten, die nichts anderes als eine Flucht war, und man hatte Bekannte, die davon abrieten, die nichts Gutes zu berichten wussten. Sie erzählten, dass man sie dort, in den anderen Ländern, ebenfalls schlecht behandle, dass man vor ihnen Angst habe, sie interniere und für Spione hielte. Dass man sie nach Belieben weiterverschicke und sich aus der neuen Heimat keine Heimat machen ließe. Sie waren unschlüssig und blieben, hielten an dem fest, was sie kannten und ihr Eigentum nennen konnten. Dass selbst diese Selbstverständlichkeiten bald keine mehr wären, lag jenseits ihrer Vorstellungskraft. Herr Herczeg hatte im ersten Weltkrieg als Soldat gedient. Er war für seinen Verdienst um das Vaterland ausgezeichnet worden, dieser Einsatz musste Gewicht, musste eine Bedeutung haben. Darauf vertraute man, auf etwas musste man sich verlassen können.
Veza wollte sich nicht verlassen, sie hatte sich umgehört. Man hatte ihr von einem Pfarrer erzählt, der Juden taufte und sich, entgegen der Vorschrift, dafür einsetzte, dass im Taufbuch nicht explizit die israelitische Herkunft angeführt wurde. Veza war gerade achtzehn, sie liebte ihr Leben und sie liebte Lotti. Sie war nicht bereit, auf ihr Leben oder auf Lotti zu verzichten. Sie verrannte sich in die Vorstellung, gerettet zu werden, obwohl sie wusste, dass Rettung höchstens eine Möglichkeit, nicht einmal eine Wahrscheinlichkeit war. Es war besser, als untätig auf ein Wunder zu warten. Und obwohl es sich wie ein Sprung vom Dreimeterbrett anfühlte, ohne die Tiefe des Beckens zu kennen, sprang Veza. Sie tauchte ein in die neue Religion, tauchte ein in den Geruch von Weihrauch, in das kalte Taufwasser, in das weiche Gefühl des Chrisams auf ihrer Stirn, ins Widersagen und in ein fremdes Glaubensbekenntnis. Es war dunkel, es war stimmungsvoll, und Veza gefiel, was sie sah, ihr gefiel, was sie hörte und fühlte.
Vezas Eltern gefiel nicht, was sie hörten, als sie von ihrer Tochter vor vollendete Tatsachen gestellt wurden. Für die Mutter war es ein Schock, sie ging so weit, die eigene Tochter als Apostatin hinzustellen. Es fehlte nicht viel, und sie hätte sich geweigert, das abtrünnige Kind als das eigene anzusehen. Lange prasselten die Vorwürfe auf Veza an dem Abend ein, als sie die Eltern eingeweiht hatte. Habe sie nicht verstanden, dass die Geschichte der Juden eine endlos sich wiederholende Geschichte von Flucht und Vertreibung, von Verfolgung und Auswanderung sei, dass es umso wichtiger sei, sich als Teil dieser Schicksalsgemeinschaft zu fühlen und sich zu deklarieren, Position zu beziehen und nicht fahnenflüchtig zu werden? Was erwarte sie von der Taufe? Denke sie, man könne einen neuen Glauben nach Belieben überziehen und den alten, einem abgetragenen Pullover gleich, abstreifen?
Veza wartete ungeduldig, bis die Mutter Unverständnis und Verunsicherung aus sich herausgeschrien hatte. Sie hoffte auf ein milderes Urteil, vielleicht sogar auf Verständnis seitens des Vaters. Sie fixierte seine Hände, die nebeneinander auf dem Tisch ruhten. Sie strahlten jene Ruhe und Sicherheit aus, die sie kannte. Sie wusste, wie zart diese Hände über den Stoff glitten, wie behutsam sie seine Struktur erkundeten, Leinen und Seide, Kaschmir und Baumwolle. Dass sie so groß und gleichzeitig so einfühlsam sein konnten. Oft hatte Veza sie dabei beobachtet, wie sie Schnitte an die Stoffe hefteten, bevor die Schneiderkreide den Rändern entlang ihre weiße Spur ziehen durfte. Er erzählte dabei von der langen Reise der Stoffe, von den Tieren, deren Rasse, Herkunft und Ernährung die Beschaffenheit des Tuches beeinflussten, von den spinnfähigen Haaren und den Fäden, die man in der richtigen Stärke und Festigkeit zwirnen musste, und vom Weben. Nur wenn Kett- und Schussfäden richtig verwoben wären, erhielte man das wahre Tuch. Es schmiege sich an den Körper wie eine zweite Haut.
Tatsächlich mahnte er jetzt zur Besonnenheit, in schweren Zeiten sei es schwer, das Rechte zu tun. Damit war vorläufig alles gesagt.
In der Nacht untermalte das Surren der Nähmaschine ihre Gedanken, doch der Schlaf ließ sich nicht nieder, er zog bloß fahrig über sie hinweg.
Tiefer und tiefer tauchte Veza in die neue Religion. Sie erfasste die Zartheit und Zerbrechlichkeit dieser Seelenwelt, die Farbenpracht ihrer Bilder und die Weisheit dieses im Unendlichen wohnenden Glaubens. Sie erkannte, dass der Teufel die Welt regierte, und eine wilde und innige Frömmigkeit ergriff sie. Sie öffnete sich für neue, geheimnisvolle Erfahrungen, sie betete und befragte Gott, was der Sinn des Lebens sei. War es die auf die äußere Form bedachte Schönheit oder war es die Güte, für die nichts als der Inhalt zählte. Und wie konnte es sein, dass der Mensch ein böses Geschöpf war und doch nicht böse sein wollte. War der Mensch möglicherweise nicht die Krone der Schöpfung sondern eine Missgeburt?
Sie besuchte die katholischen Gottesdienste. In die hinterste Reihe gekauert, ließ sie sich mitreißen vom monotonen Gemurmel der Gläubigen, von Dunkelheit und Mystik, von Transzendenz und Transsubstantiation, von den Mahnungen und von der Aussicht auf eine alles umfassenden Vergebung. Lamm Gottes, nimm hinweg die Sünde der Welt, wandle Brot in Leib und Alleinsein in Gemeinschaft, wandle Wein in Blut und Ängstlichkeit in Zuversicht.
Veza lag weit unten, fast lag sie am Boden, sie erkannte noch einen Halm, und nach dem wollte sie greifen. Sie schaffte Hindernisse aus dem Weg, bereitete den Boden auf und ihre Schritte vor. Schon wurde das Ziel deutlicher, es war ein geschützter Raum, ein Raum außerhalb der Wirklichkeit, ein sicherer Hafen.
Veza war stolz, sie würde ihren Weg gehen. Sie brauchte ihre Familie nicht, eigentlich hatte sie ihre Familie nie gebraucht. Immer waren sie geschäftig, man hatte Marillen oder Kirschen bekommen, man musste die Birnen und Äpfel versorgen, musste einkochen und einlegen, Kompotte und Marmeladen, Quittengelee und Powidl. Man bekochte die Großfamilie, bewirtete und bediente, alle waren sie gesellig. Wir sind so viele, stellten sie zufrieden fest und blickten in die Runde. Sie waren unerträglich spontan, plötzlich stand töpfeweise Essen auf dem Herd, Suppen und Eintöpfe, Strudelteig wurde gezogen, Streusel und Kaffeebohnen geröstet, Nachtisch folgte auf Nachschlag und nach dem Süßen der mit reichlich Zucker angesetzte Kaffee. Der Familie schmeckte es, die Familie war wunderbar. Geschichten türmten sich über dem Tisch, sie drängten aus den wohlig gefüllten Bäuchen, am liebsten sprach man von damals, von der guten alten Zeit, eine Heerschar von Tanten und Onkeln, Cousinen und Großeltern, die ganze Mischpoche zog an den Bänken vorüber, machte Rast und brach wieder auf, während die Nächsten ihren Platz einnahmen. Und immer hatte jemand Geburtstag, und immer blieb einer ewig sitzen und hörte nicht auf zu reden, man kannte sie, die Sitzenbleiber, aber so unhöflich durfte man nicht sein, dass man mit dem Aufräumen begann, bevor sich der letzte Gast verabschiedet hatte.
Veza hasste die betuliche Hektik, es war ihr von allem zu viel, zu viel Wirbel, zu viel Essen, zu viel Lärm. Warum aufwendig kochen, wenn sie vom Einfachen satt wurden, wozu das sich Ereifern, das Beklatschen und Schulterklopfen, wozu all das Unnötige breittreten. Und doch die geheime Freude, am nächsten Tag erzählen zu können, ich bin müde, wir hatten am Abend Gäste. Das klang so normal.
Die Mutter teilte ihre drei Mädchen ein. Sie schnipselten Zwiebel und Paprika für Letschos, Orangen und Äpfel für Obstsalate, sie schleppten sauberes Geschirr von der Kredenz zur Tafel und das gebrauchte zurück in die Küche. Sie halfen beim Abwasch und kratzten die Reste von den Tellern, den abgestandenen Geruch der eingetrockneten Saucen und zurückgelassenen Beilagen fanden sie widerlich. Am nächsten Morgen übernächtig und nüchtern in der unaufgeräumten Küche zu stehen, war jedoch für die Mutter undenkbar.
Ein Glück, dass die Töchter hilfsbereit waren, von ihrem Mann konnte sie das nicht behaupten. Die Nachlässigkeit und provozierende Langsamkeit, die er an den Tag legte, wenn er ihr ausnahmsweise im Haushalt an die Hand ging, waren aufreizend. Als sei jeder Handgriff, jede Bewegung eine Überforderung. Als wisse sie nicht, wie flink und präzise, geradezu pedantisch er mit Nadel und Faden war, wie seine Aufmerksamkeit der kleinsten Unebenheit nachspürte, dem Faltenwurf, dem falschen Nadelstich, der zu großen Öse. Übergenau war er, seine Arbeit musste höchsten Ansprüchen genügen. Als sei ihre Arbeit es nicht wert, dass man Ansprüche stelle. Lustlos und halbherzig war seine Unterstützung, und halbfertig, nie zu Ende geführt, ein stummer Protest. Diese Wand aus Gleichgültigkeit. Hätte sie denselben Minimalismus angewandt, wären ihnen Ordnung und Sauberkeit abhandengekommen. Die Weinflaschen spülte er nicht aus, die Balken zum Balkon öffnete er nie bis zum Anschlag, die Gießkanne blieb halbvoll in der Badewanne stehen, und an den leeren Saftsteigen stieß sie sich so oft den Fuß, bis sie sich nicht mehr beherrschen konnte und ihn anschrie. Erst danach trug er sie murrend in den Keller. Ihre Gäste jedoch verwöhnten sie stets mit einem zuvorkommenden Lächeln.
Was war er für ein Mann gewesen, als sie sich kennengelernt hatten. Hätte sie ihn gebeten, Gewichte für die Wasserwaage zu besorgen, hätte er aus seinen klaren, dunklen Augen auf sie herabgeblickt und geantwortet, ihr Wunsch sei ihm Befehl. Er hätte sich etwas einfallen lassen, einen Schwank, einen Vers vielleicht, mit dem er auf ihre Torheit gekontert hätte. Er fuhr ihr nach, wenn sie mit ihren Eltern auf Sommerfrische war und nahm sich ein Zimmer in der Nähe, um ihr beim Nachmittagskaffee seine Aufwartung zu machen. Er hatte nie einen Jahrestag vergessen, nicht den ersten Kuss, nicht das Anhalten um ihre Hand und nicht die Verlobung. Er umgab sie mit unaufdringlicher Nähe, war feinfühlig und aufmerksam.
Sie wusste nicht, wann und wie ihnen das entglitten war. Das erste Vergessen, möglich, dass sie beide vergessen hatten, anderes drängte in den Vordergrund, drängte ihr Miteinandersein in den Hintergrund. Die Arbeit, der Haushalt, die Familie. Und keine Zeit für die Liebe. Das war bedauerlich. Der Gedanke, ein Kind zu verlieren hingegen, war qualvoll. Bitter enttäuscht war sie, das hatte sie nicht verdient. Alles hatte sie den Kindern gegeben, ihren Körper, ihren Schlaf, ihre Jugend, die besten Jahre hatte sie ihnen geschenkt und war darüber alt geworden. Dass ihr nichts bleiben sollte, nur das Geben, dass sie nichts fordern durfte. Warum konnte nicht er gehen. Sie hätten sich durchgeschlagen, wären bei der weitläufigen Verwandtschaft untergekommen, sie hätten zusammengehalten. Das Mädel haut einfach ab, will ins Kloster. Wirft mit Begriffen um sich, Postulat, Noviziat, Profess. Ein Gelübde wolle sie ablegen, das Gelübde des Gehorsams, der Armut und der Keuschheit. Und einen neuen Namen wählen. Als sei ihr Name nichts wert. Dann solle sie halt gehen, dann solle sie halt ein anderer Mensch werden, wenn sie das für möglich hielte, sie würde sie nicht aufhalten. Das hatte sie ihr an den Kopf geworfen, als sie sich nicht mehr beherrschen konnte, als sie es nicht mehr ertragen konnte, in das Gesicht ihrer Tochter zu blicken, das ihr so fremd geworden war. Er schlug sich auf Vezas Seite, wie immer, es gehe um den Glauben. Von wegen Glauben, Flausen waren das, und nicht einmal Flausen, dazu waren die Konsequenzen zu schwerwiegend. Das Kind entschied, das Kind ging, und sie durften ihm dabei zusehen. Das hatte sie nicht verdient.
Der erste Gedanke, der Lotti kam, war, dass sie das nicht verdient hätte. Sie konnte die Tragweite der Neuigkeiten nicht verstehen. Sie versuchte einen anderen Zugang, näherte sich aus der Perspektive der Erwachsenen, bei denen sie Schutz suchen wollte.
Was sagen deine Eltern dazu?
Veza wehrte ab, die Eltern spielten keine Rolle mehr.
Sie versuchte es erneut, umkreiste in Gedanken den Satz, den Veza ihr hingeworfen hatte, sie werde in den Karmel eintreten, und bekam ihn nicht zu fassen. Nur im Hintergrund des Bewussten war etwas aus dem Gleichgewicht geraten.
Immer bestimmst du!
Nicht ein einziges Mal habe Veza sie nach ihrer Meinung gefragt, nie hätten sie gemeinsam darüber gesprochen.
Ich konnte es nicht.
Sie habe diese Entscheidung für sie beide getroffen, das müsse Lotti ihr glauben. Lotti wisse nicht, wie es sei, in der Unscheinbarkeit zu leben, sie kenne nicht das Aufden-Boden-Schauen und Sich-unsichtbar-Machen. Was könne sie sich von dieser Zukunft erwarten?
Sie wisse tatsächlich nicht, ob es etwas zu erwarten gäbe.
Sie hätten alles vor sich.
Daran zu glauben, fiele ihr jetzt sehr schwer.
Mit dem ersten Lichtstrahl werde sie zurückkommen, darauf gebe sie Lotti ihr Wort.
Es sei zu früh.
Was sei zu früh?
Es sei zu früh, sich Vezas Fortsein vorzustellen, diese Vorstellung mache ihr Angst. Sie hätte das Wenige nie freiwillig aufgegeben. Was bliebe ihnen nun außer Verständnis und Worten, Briefe, glattes, kühles Schriftliches, das sich nicht umarmen ließe, das in ihren Händen beim Lesen knittrig und feucht werde, das Fragen beantworte, die sie vor Wochen gestellt habe, und dennoch nicht wisse, was ihr fehle.
Veza holte zwei kleine, herzförmig Dosen aus ihrer Jackentasche, in den Deckel der beiden waren Blumen eingearbeitet. Sie öffnete sie, trat hinaus und hielt sie den Sonnenstrahlen entgegen, streckte sie den Ästen hin, die im Wind rauschten, drückte sie ans Herz und an ihren Mund, bedeckte sie fest mit beiden Händen und reichte eine Lotti.
Eine für dich und eine für mich, hier bewahren wir alles auf. Wenn wir sie öffnen, werden wir das Licht spüren und die Wärme, die Liebe und den Trost.
Aber nicht die Nähe. Wir brauchen einander doch.