Читать книгу Die Königin von Erial - Claudia Schäffler - Страница 5

2. Freundschaft

Оглавление

Der Tag begann mit einem malerischen Sonnenaufgang und milden Temperaturen, die den bevorstehenden Sommer ankündigten. Obwohl das ganze Volk bis spät in die Nacht hinein gefeiert hatte, standen die Meisten schon mit den ersten Sonnenstrahlen auf. Erneut herrschte geschäftiges Treiben, denn der heutige Tag sollte den vorangegangenen noch übertreffen. Jeder wollte seinen Beitrag leisten, um die Krönung der zukünftigen Königin zu einem unvergesslichen Ereignis werden zu lassen.

Auch Kormenon hatte beim ersten Hahnenschrei sein Bett verlassen und legte nun seine Uniform an. Sein Gesicht war bereits glattrasiert und seine dunklen Locken hatte er am Hinterkopf zusammengebunden. Er strich seine Tunika glatt, vergewisserte sich noch einmal, dass seine Stiefel geputzt waren und gürtete anschließend sein Schwert um. Nach einem letzten, prüfenden Blick in den Spiegel verließ er sein Zimmer. Während er einmal mehr seinen Weg durch die schier endlosen Gänge des Palastes antrat, waren seine Gedanken meilenweit entfernt.

Er grübelte schon den ganzen Morgen und war inzwischen zu einem Entschluss gekommen, der ihm zwar nicht wirklich gefiel, aber sicher das Beste war. Er würde diesen Tag noch durchstehen und morgen darum bitten, aus der Sterngarde entlassen zu werden. Als Grund wollte er angeben, dass die Verantwortung für einen Mann seines Alters einfach zu groß war. Natürlich würden seine Eltern enttäuscht sein und er würde viel Spott ertragen müssen, aber vielleicht konnte er in sein altes Leben zurückkehren. Vielleicht konnte er sich der Reiterei anschließen.

Die anderen Gardemitglieder würden ihn, mit Ausnahme von Voril, niemals akzeptieren. Das war ihm mittlerweile klar geworden. Und während er anfänglich über ihre Verhöhnungen und ihren Spott hinweggesehen hatte, wurde es inzwischen immer schwieriger, beides zu ignorieren. Er hatte gehofft, irgendwann den Respekt seiner Kameraden gewinnen zu können, doch sie würden ihm nie eine Chance geben. Dessen war er sich sicher. Kormenon fühlte sich unverstanden und von allen alleingelassen.

Schließlich erreichte er die Vorhalle zu den Gemächern der Kronprinzessin, wo bereits Hauptmann Aregor und Nemlac standen. Beide warfen ihm kurz einen abschätzenden Blick zu, um ihn dann völlig zu ignorieren. Dankbar darüber, dass sie ihn wenigstens in Ruhe ließen, lehnte sich Kormenon in eine Ecke und senkte den Kopf. Nach und nach trafen auch die restlichen Gardemitglieder ein und er junge Soldat bemühte sich, Voril`s besorgtem Blick auszuweichen. Er fühlte sich, als würde er den Älteren, der immer zu ihm gestanden und ihm den Rücken gestärkt hatte, mit seinem Austritt aus der Garde hintergehen. Auch wollte er ihm noch nichts von seinem Plan erzählen, aus Angst davor, Voril würde es ihm ausreden.

Er wurde aus seinen trübsinnigen Gedanken gerissen, als plötzlich die Tür aufflog und eine junge Zofe völlig aufgelöst aus den Gemächern der Prinzessin gelaufen kam. „Die Prinzessin..“, rief sie atemlos, „sie ist verschwunden!“ Sofort waren alle Soldaten aufgesprungen und scharten sich um das Mädchen. „Was meinst du damit? Was soll das heißen, verschwunden?!“ fragte Aregor barsch. Sie sah ihn ängstlich an und antwortete stotternd: „Wir ... wir haben gesucht.. überall. Aber sie ist fort. Und in ihrem .. ihrem Schlafgemach... da .. herrscht wirres Durcheinander.“

Bei den letzten Worten brach sie in Tränen aus und gab auf weitere Fragen keine Antwort mehr. Die Sterngarde stürmte in Xiarana`s Gemächer, die dem Schauplatz eines Kampfes glichen. Möbel waren umgestoßen, Kleidung und zerbrochenes Geschirr lagen auf dem Boden verteilt und auch der Spiegel über der Kommode war zu Bruch gegangen. Der Hauptmann reagierte sofort. Binnen kürzester Zeit war die Palastwache alarmiert, die gesamte Festung wurde abgeriegelt und systematisch durchsucht. Kormenon wurde in den Bedienstetenflügel geschickt und rannte so schnell er nur konnte dorthin.

Als er um eine Ecke bog, kollidierte er plötzlich mit Jemandem und landete rückwärts auf dem harten Steinfußboden. Er richtete sich stöhnend wieder auf und sah, dass er mit Tarmin zusammengeprallt war, der sich gerade ebenfalls wieder aufrappelte. Als er Kormenon erkannte, begann er sofort, auf ihn einzureden. „Da bist du ja. Wir haben dich schon gesucht, Kirelle und ich. Du musst sofort mitkommen...“

Doch Kormenon schnitt ihm das Wort ab. „Ich habe jetzt wirklich keine Zeit, Tarmin. Prinzessin Xiarana ist verschwunden und wir müssen den Palast durchsuchen. Sie kann nicht weit sein.“ Er wollte wieder losstürmen, wurde aber von Tarmin aufgehalten, der ihn unsanft am Arm packte. „Darum geht es ja. Ich weiß, was passiert ist. Mit der Prinzessin, meine ich.“ „Du weißt es? Was ist passiert? Wo ist sie?“ „Komm mit.“ Ohne eine Antwort abzuwarten zog der Waldgeist den verdatterten Soldaten hinter sich her.

Sie rannten durch unzählige Gänge und einige Treppen hinunter, bis sie schließlich in einem kleinen, von schützenden Mauern umgebenen Garten ankamen. Dort saß Kirelle auf einer niedrigen Steinbank und schien auf die Beiden zu warten. Tarmin schleifte Kormenon zu der Bank und ließ dann endlich seinen Arm los. Der junge Soldat rieb geistesabwesend sein schmerzendes Handgelenk. Waldgeister hatten spitze, krallenartige Fingernägel und deutlich mehr Kraft, als man ihnen zutraute. „Also, erklärt ihr mir jetzt mal, was passiert ist und was das Alles soll?“ fragte er ungeduldig.

Die beiden Waldgeister tauschten einen kurzen Blick, bevor Kirelle zu sprechen begann: „Prinzessin Xiarana wurde entführt...“ Sofort fiel Kormenon ihr ins Wort: „Entführt? Von wem? Wann?... und woher wisst ihr das eigentlich?“ „Ich habe mit Shouba geredet.“ Auf Kormenon`s fragenden Blick fügte sie hinzu: „Shouba ist eine Schleiereule. Sie wohnt oben im Südturm. Jedenfalls hat sie letzte Nacht im Schlafgemach der Prinzessin Geräusche gehört. Sie ist zum Fenster geflogen, um nachzusehen und...“ Sie stockte und Kormenon fragte ungeduldig: „Und was? Was hat sie gesehen?“

„Drei vermummte Männer, in dunkles Grau gekleidet, die Prinzessin Xiarana in eine Art ... schwarze Wolke stießen.“ „Eine schwarze Wolke?“ „Dunkle Magie.“ mischte sich Tarmin in das Gespräch ein. Kormenon sah ihn erschrocken an. „Das bedeutet also, dass Xiarana mittels schwarzer Magie entführt wurde. Aber von wem und wohin hat man sie gebracht?“ „Wir wissen es nicht.“ gestand Tarmin. Der junge Soldat ließ sich niedergeschlagen auf eine Bank sinken. Wie sollten sie Xiarana befreien, wenn sie nicht einmal wussten, wer sie gefangenhielt und wo sie sich befand.

„Shouba sagte etwas von vermummten Männern in grau.“ meinte Tarmin nach kurzer Zeit. Kormenon sah ihn an. Er verstand sofort, worauf der Waldgeist hinauswollte. „Die Schattengarde trägt grau.“ „Und wir wissen welchem mächtigen Mann die Schattengarde untersteht, der durch die heutige Krönung einiges an Macht einbüßen würde.“ spann Kirelle den Gedanken weiter. Die beiden Männer nickten. Die Theorie war so naheliegend wie plausibel, aber auch ebenso gefährlich.

„Wir können Graf Varash nicht einfach so beschuldigen.“ erklärte Kormenon. „Wir haben keine Beweise.“ Kirelle überging seinen Einwand. „Dann müsst ihr eben Beweise finden. Geh zu deinem Hauptmann und sag ihm, was du weißt.“ Mit dieser Geschichte vor Aregor zu treten war das Letzte, was er tun wollte, aber er hatte wohl keine andere Wahl. Resigniert stand Kormenon auf und sah die beiden Waldgeister an. „Also gut, ich werde zu ihm gehen.“

***

Kormenon saß mit dem Rücken an die Wand gelehnt auf dem feuchten Boden seiner Gefängniszelle. Eine Hand hatte er gegen seine schmerzenden Rippen gepresst, die Andere tastete vorsichtig über seine Stirn. Zumindest hatte die Platzwunde aufgehört zu bluten, auch wenn sie noch immer heftig schmerzte. Er hatte keine Ahnung, wieviel Zeit seit seinem Gespräch mit Hauptmann Aregor vergangen war. In die Tiefen des Kerkers drang kaum ein Lichtstrahl, sodass es unmöglich war, die Tageszeit zu schätzen.

Er hatte nicht wirklich erwartet, dass der Hauptmann ihm glauben würde. Er hatte mit Spott gerechnet, vielleicht auch damit, angeschrien zu werden, aber auf eine solch brutale Reaktion war er nicht gefasst gewesen. Aregor hatte ihm nicht nur unterstellt zu lügen, sondern auch behauptet, Kormenon hätte selbst etwas mit dem Verschwinden der Kronprinzessin zu tun.

Er hatte den jungen Soldaten zum Hauptverdächtigen erklärt und in einen Verhörraum werfen lassen. Dort wurde er wieder und wieder gefragt, warum er Xiarana entführt habe, wo er sie hingebracht habe und warum er versucht hatte, die Schuld für ihr Verschwinden Graf Varash in die Schuhe zu schieben. Kormenon antwortete wahrheitsgemäß, dass er von alledem nichts wusste, doch natürlich glaubte ihm niemand. Es dauerte nicht lange bis sie versuchten, Antworten aus ihm herauszuprügeln.

Drei seiner sogenannten Kameraden, allen voran natürlich Nemlac, hatten auf ihn eingeschlagen, bis er das Bewusstsein verlor. Er erwachte erst wieder, als er auf dem harten Steinfußboden der Zelle landete, in die sie ihn geworfen hatten. Durch das Dröhnen in seinem Kopf war Aregor`s Stimme gedrungen, der versprach, ihn bald erneut zu verhören, bevor die schwere Eisentür ins Schloss fiel und er allein in der Dunkelheit zurückblieb. Seitdem saß er hier und suchte verzweifelt nach einem Ausweg. Doch sosehr er auch grübelte, er fand keinen. Er hatte nur versucht, das Richtige zu tun, um die Prinzessin zu retten. Und nun wusste er nicht einmal, wie er sich selbst retten sollte.

Plötzlich wurde die Tür geöffnet und ein Mann betrat die Zelle. Kormenon kauerte sich zusammen und erwartete weitere Schläge. Der Mann kam langsam näher und ließ sich neben ihm in die Hocke sinken. Dann berührte eine Hand vorsichtig seine Schulter. „Kormenon?“ Das war nicht Aregor`s Stimme. Der Soldat setzte sich vorsichtig auf und blinzelte gegen das Licht der kleinen Laterne an, die der Andere in Händen hielt. Es dauerte einige Momente, bis er sein Gegenüber erkannte. „Tempolo?“ stieß er überrascht aus.

„Ja, ich bin es.“ bestätigte der Narr, bevor er vorsichtig fragte: „Kannst du gehen?“ Kormenon nickte und stemmte sich hoch. Sein Körper protestierte und jeder Muskel schien zu schmerzen, doch er ignorierte es und schleppte sich mit Tempolo`s Hilfe aus der Zelle. Der Narr führte ihn durch einige finstere Gänge, in denen nur selten eine Fackel in der Wand brannte und gespenstische Schatten warf. Der Weg stieg langsam an, wie Kormenon feststellte, bis sie schließlich durch ein schmales Tor ins Freie gelangten. Kormenon blinzelte gegen die Sonne, die zwar schon tief am Himmel stand, ihm nach der undurchdringlichen Finsternis des Kerkers aber gleißend hell erschien.

Erst als sich seine Augen an das Licht gewöhnt hatten, bemerkte er, dass er und Tempolo nicht allein waren. Tarmin und Kirelle saßen auf einem großen Stein und Voril lehnte ein Stück hinter ihnen an der Mauer. Neben den Waldgeistern auf dem Boden lagen vier Rucksäcke, über Kirelle`s Schulter hing ein Jagdbogen. „Was macht ihr denn alle hier?“ fragte der junge Soldat verwirrt. „Dein Leben retten.“ kam die Antwort von Tempolo, der ihn noch immer stützte. Die Anderen nickten zustimmend. „Aregor hat verbreitet, du würdest hinter Prinzessin Xiarana`s Entführung stecken.“ meldete sich nun Voril zu Wort. „Er hat dich zum Verräter am Königreich und der Krone erklärt und will dich morgen hinrichten lassen. Es wird keine Verhandlung geben. Das Urteil ist gefällt.“

Als Kormenon nur mit geschocktem Schweigen antwortete, fuhr er fort: „Darum mussten wir dich befreien und dir zur Flucht verhelfen.“ „Aber ich kann doch nicht einfach davonlaufen. Was ist mit meiner Familie? Und mit der Prinzessin? Werden sie überhaupt nach ihr suchen?“ „Du wirst auch nicht einfach davonlaufen.“ ergriff Tempolo wieder das Wort. „Du fliehst, um die Wahrheit herauszufinden und deine Unschuld zu beweisen.“ „Und wir helfen dir dabei.“ mischte sich nun auch Tarmin ein. „Ihr...“ Kormenon fehlten die Worte.

„Tempolo, Tarmin und Kirelle werden dich begleiten. Ich bleibe hier und versuche, dein Verschwinden so lange wie möglich zu vertuschen und Aregor auf eine falsche Fährte zu lenken. Vielleicht erkaufe ich euch damit etwas Zeit.“ erklärte Voril. Dann reichte er Kormenon sein Schwert. „Das wirst du brauchen, fürchte ich. Gib nicht auf, mein Junge. Vertrau auf deine Stärke und deinen Mut. Xiarana`s Leben liegt jetzt in deinen Händen.“ Kormenon nickte. „Danke Voril. Danke für Alles.“

Der ältere Soldat gab ihm einen leichten Klaps auf die Schulter und verschwand dann durch das schmale Tor in die Burg. Kormenon sah ihm besorgt nach. Schon wieder hatte sich der Ältere seinetwegen in Gefahr gebracht. Tempolo`s Stimme riss ihn jedoch sofort wieder aus seinen Gedanken. „Wir müssen los. Je mehr Distanz wir zwischen uns und Aregor bringen, desto besser. Nicht weit von hier liegt der Tempel der Lurika. Dort können wir deine Wunden versorgen lassen und die Nacht verbringen.“ Kormenon straffte die Schultern, nahm von Kirelle einen der vier Rucksäcke entgegen und biss die Zähne zusammen. „Gehen wir.“ Langsam, aber zumindest aus eigener Kraft, folgte er dem Narren, während die beiden Waldgeister das Schlusslicht bildeten.

Tempolo führte sie durch hohes Gras den Hügel hinunter, auf dem die Festung errichtet war. Durch den Trubel der letzten Tage waren viele Händler und Reisende unterwegs, sodass sie die offizielle Straße mieden. Sie konnten es sich nicht erlauben, gesehen zu werden. Zumal die kleine Gruppe nicht gerade unauffällig war. Tempolo hatte zwar sein Narrenkostüm gegen einfache braune Hosen, ein helles Hemd und eine braune Weste eingetauscht, doch Kormenon`s dunkelblaue Tunika wies ihn schon von weitem als Mitglied der Sterngarde aus und die Waldgeister erregten immer ein gewisses Aufsehen.

Sie hatten Glück und erreichten ungesehen den Rand des Waldes, der direkt an den großen Hügel angrenzte. Der Tempel der Lurika lag auf der anderen Seite des Waldes. Kannte man die Wege durch das Unterholz, so konnte man ihn innerhalb einer Stunde erreichen. Aber die Sonne ging bereits unter und Kormenon hatte immer größere Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Tempolo war stehengeblieben und warf dem jungen Soldaten einen besorgten Blick zu, den dieser jedoch ignorierte. „Geh weiter. Ich halte schon durch.“

Es war eine Lüge, das wussten sie Beide. Doch sie hatten keine andere Wahl. Langsam gingen sie weiter. Tempolo versuchte den Pfad durch den Wald zu finden, während es von Minute zu Minute dunkler wurde. Er war diesen Weg schon oft gegangen, aber im abendlichen Zwielicht sah Alles völlig anders aus, sodass er schließlich seufzend stehenblieb. Bevor er allerdings etwas sagen konnte, drängte sich Tarmin an ihm vorbei. „Ich gehe voraus. Wir Waldgeister sehen auch im Dunkeln ziemlich gut.“ Der Narr beschloss, darauf zu vertrauen, dass diese Aussage der Wahrheit entsprach und sie setzten ihren Weg eine zeitlang schweigend fort.

Bis Kormenon plötzlich strauchelte und auf die Knie fiel. Tempolo war sofort an seiner Seite, um ihm wieder auf die Beine zu helfen. Kormenon dankte ihm und befreite sich aus seinem Griff. Dann machte er zwei Schritte und wäre erneut gestürzt, hätte ihn der Narr nicht rechtzeitig abgefangen. „Ich fürchte wir müssen hier Rast machen. Kormenon ist nicht in der Verfassung, noch weiter zu gehen.“ Bevor die beiden Waldgeister zustimmen konnten, hatte der Verletzte schon widersprochen. „Nein! Der Tempel kann nicht mehr weit sein. Ich schaffe das ... wenn du mich stützt.“ Es fiel ihm schwer, um Hilfe zu bitten, doch er wusste auch, dass er aus eigener Kraft nicht mehr weit kommen würde. Tempolo stimmte widerwillig zu und stützte ihn, so gut er konnte.

Der Weg schien sich endlos in die Länge zu ziehen. Kormenon`s Schritte wurden immer schwerer und er nahm seine Umgebung nur noch als vage Schatten wahr. Tempolo befürchtete schon, sie hätten sich doch verlaufen, als die Bäume endlich zurücktraten und die vertraute Silhouette des Tempels vor ihnen auftauchte. Seine Erleichterung währte nur kurz. Im nächsten Moment sackte Kormenon in seinen Armen zusammen. Kirelle ließ die drei Männer am Waldrand zurück und lief in den Tempel, um Hilfe zu holen. Kurz darauf kehrte sie mit einigen Priesterinnen zurück.

Diese legten den verwundeten Soldaten auf eine Bahre und brachten ihn in den Tempel, wo sich sofort die Heilerinnen um ihn kümmerten. Tarmin und Kirelle verschwanden sichtlich erschöpft in ein Gastquartier, während Tempolo noch mit der Hohepriesterin sprach. Er kannte Hargoris sein ganzes Leben lang und wusste, dass sie ihm glauben würde. So erzählte er ihr von Allem, was geschehen war und bat sie um ihre Unterstützung. Die alte Frau versprach sofort ihm zu helfen, soweit es in ihrer Macht stand und schickte ihn dann mit den Worten: „Du schläfst ja fast im Stehen, mein Junge.“ zu Bett. Dankbar ließ er sich in ein Gastquartier führen, wo er schnell seine Kleidung abstreifte, bevor er ins Bett fiel und sofort einschlief.

***

Am nächsten Morgen wurde Tempolo von den Sonnenstrahlen, die durch sein Fenster fielen, geweckt. Er stand auf und ließ seinen Blick erst einmal durch den Raum schweifen. Viel gab es allerdings nicht zu sehen. Neben dem Bett stand ein niedriges Schränkchen mit einem Kerzenhalter darauf und an der gegenüberliegenden Wand befand sich ein Tisch, auf dem der Narr Wasser zum waschen und frische Handtücher fand. Nachdem er sich gewaschen und wieder angezogen hatte, verließ er den Raum, um nach seinen Gefährten zu suchen. Sein Weg führte ihn einen langen Gang entlang, vorbei an vielen Türen, bis er schließlich in den großen Speisesaal gelangte.

Der Tempel beherbergte beizeiten bis zu 150 Frauen. Die Dienerinnen der Lurika waren ausschließlich weiblich. Männer wurden im Tempel nur als Gäste geduldet. Die meisten der Frauen, die Tempolo durch den Speisesaal huschen sah, waren Priesterinnen. Sie waren an ihren einfachen, silbergrauen Gewändern und durchsichtigen Schleiern gut zu erkennen. Die Heilerinnen trugen ebenfalls diese silbergrauen Gewänder, jedoch mit weißen Schürzen darüber und weiße Hauben, anstelle des Schleiers. Ansonsten beherbergte der Tempel noch die Mondtänzerinnen. Diesen jungen Frauen sagte man seit jeher magische Kräfte nach und obwohl es hieß, sie hätten der Magie abgeschworen, wie König Randrich I. es damals verlangt hatte, umgab sie auch heute noch etwas mysteriöses. Gekleidet waren sie in leichte, weiße Gewänder, die mit silbernen Fäden bestickt waren und den Blick auf schlanke Arme freigaben.

Obwohl der Narr schon oft im Tempel gewesen war, hatte er nur selten einen Blick auf eine der Mondtänzerinnen erhaschen können und noch nie die Gelegenheit gehabt, mit einer von ihnen zu sprechen. Fast schien es ihm, als würde Hargoris die Mädchen von den Gästen abschirmen. Auch heute sah er keine der Tänzerinnen im Speisesaal. Dafür entdeckte er die beiden Waldgeister an einem der Tische, wo sie sich mit einer älteren, blonden Heilerin unterhielten. Er gesellte sich zu ihnen und die Heilerin stellte sich als Benta vor. „Ich pflege euren jungen Freund.“ erklärte sie. „Und wie geht es ihm?“ wollte Tempolo sofort wissen. „Es geht ihm bereits besser. Wir haben seine Wunden versorgt. Sie werden schnell heilen. Im Moment braucht er vor allem Ruhe und Schlaf. Dann ist er in ein paar Tagen wieder auf den Beinen.“

Der Narr dankte ihr und die Heilerin verabschiedete sich, um wieder nach ihren Patienten zu sehen. Viele Kranke und Verletzte suchten den Tempel auf, um von ihren Leiden kuriert zu werden. Tarmin und Kirelle teilten ihr reichliches Frühstück mit Tempolo und ließen ihn erst einmal in Ruhe essen. Schließlich stellte Tarmin die Frage, die sie Beide beschäftigte: „Wie geht es jetzt weiter?“ Tempolo seufzte. „Nun, wir werden wohl erst einmal ein paar Tage hierbleiben. Zumindest so lange, bis sich Kormenon ein wenig erholt hat. Und dann ... ich weiß es nicht. Ich hoffe, dass Hargoris uns weiterhelfen kann.“

Die beiden Waldgeister nickten. „Die Sterngarde und etwa ein Dutzend Soldaten sind bei Sonnenaufgang in Richtung Süden aufgebrochen.“ berichtete nun Kirelle. „Woher weißt du das?“ „Von Skrill, meinem Falken. Er beobachtet den Palast und die nähere Umgebung und erstattet mir regelmäßig Bericht.“ „Gut, sehr gut.“ Tempolo war erneut froh, über die Begleitung der Waldgeister und ihre Fähigkeit, mit Vögeln zu kommunizieren. „Voril`s Ablenkung scheint also zu funktionieren. Hoffen wir, dass er uns damit genug Zeit erkauft.“ Seinen Worten folgte bedrücktes Schweigen. Nach kurzer Zeit stand er auf und verließ den Speisesaal, um nach Kormenon zu sehen.

Die Krankenstation befand sich etwas abseits der öffentlichen Räume im Ostflügel des Tempels, damit die Kranken und Verwundeten die nötige Ruhe bekamen. Tatsächlich war hier nichts von der allgemeinen Geschäftigkeit zu spüren, die im Rest des Tempels herrschte. Tempolo war einer einzigen Heilerin begegnet, bis er Kormenon`s Zimmer erreichte, aus dem er leisen Gesang vernahm.

Siehst du die Raben ziehen; weit weit fort; Sie reisen durch die Welt; stets von Ort zu Ort.

Ich wünscht, ich könnte fliegen; weiterziehen wie sie; die ganze Welt bereisen; doch verweilen nie.“

Er öffnete vorsichtig die Tür und spähte hinein. Kormenon lag im Bett und schien zu schlafen. Die Platzwunde an seiner Stirn war verbunden worden und sein linkes Auge war blau, blutunterlaufen und geschwollen. Der Rest seines Körpers wurde durch die Bettdecke verborgen. Tempolo`s Blick glitt weiter durch den Raum und blieb an einem jungen Mädchen haften, das neben dem Bett auf einem Stuhl saß. Sie hatte langes, dunkelbraunes Haar, das offen über ihre Schultern fiel. Ihr zartes, weißes Kleid mit der silbernen Stickerei wies sie als Mondtänzerin aus. Der Gesang kam von ihr:

Sehn mich nach der Ferne; welch Geheimnis liegt dort; möcht ziehen mit den Raben; so weit weit fort.“

Leise, um sie nicht zu stören, betrat der Narr den Raum. Doch sie bemerkte ihn und verstummte. Einen Augenblick lang sahen sich beide nur an. Das Mädchen offenbar erschrocken über das plötzliche Auftauchen des Fremden und der Narr noch immer gebannt von ihrem Gesang. Nur langsam löste sich die Starre und er fand seine Sprache wieder. „Verzeiht, ich wollte euch nicht erschrecken. Ich kam nur, um nach meinem Freund zu sehen.“ Sie lächelte schüchtern. „Ihr braucht euch nicht zu entschuldigen. Ich hatte euch nur nicht kommen hören.“

Nach kurzem Zögern stand sie auf. „Ich lasse euch dann mit eurem Freund allein.“ Sie wollte gerade den Raum verlassen, als die Stimme des Narren sie zurückhielt. „Wartet. Bitte.“ Sie blieb stehen und sah ihn etwas verwirrt an. „Ich wollte euch nur danken, dass ihr nach meinem Freund gesehen habt. Darf ich euren Namen erfahren?“ „Narani. Und ihr braucht mir nicht zu danken.“ Sie schenkte ihm ein weiteres, schüchternes Lächeln und verschwand dann, beinahe ohne ein Geräusch, durch die Tür.

Tempolo sah ihr verwundert nach. Vielleicht umgab die Mondtänzerinnen ja tatsächlich immer noch eine gewisse Magie, wie viele behaupteten. Nach dieser Begegnung schienen ihm die Gerüchte nicht mehr ganz so unglaubwürdig, wie er bisher immer gedacht hatte. Mit einem Lächeln ließ er sich auf dem freigewordenen Stuhl nieder und betrachtete den schlafenden Soldaten. Kormenon schien seinen Blick zu spüren, denn schon kurze Zeit später regte er sich und schlug die Augen auf. „Wie fühlst du dich?“ fragte Tempolo vorsichtig. „Gut. Schon viel besser als gestern.“ kam die Antwort, mit der er gerechnet hatte.

Es war offensichtlich, dass es Kormenon noch nicht wirklich gut ging, doch der junge Mann würde das gewiss nicht eingestehen. „Wir sollten bald wieder aufbrechen. Die Sterngarde und die Palastwachen suchen sicher bereits nach uns.“ Tempolo seufzte. „Zuerst musst du wieder gesund werden. Und dann brauchen wir einen Plan, bevor wir aufbrechen. Natürlich werden wir mittlerweile gesucht, aber Voril gibt uns Rückendeckung und Kirelle`s Falke kundschaftet die Umgebung aus.

Er wird uns warnen, wenn Gefahr droht.“ Der Soldat schien wiedersprechen zu wollen, beließ es dann aber bei einem Nicken. Für Tempolo ein deutlicher Beweis dafür, wie sehr ihm seine Verletzungen noch zu schaffen machten. „Hast du eine Idee, wo wir mit der Suche nach Xiarana anfangen sollen?“ „Nein, aber ich hoffe, dass uns Hargoris hierbei helfen kann. Sie ist die Hohepriesterin des Tempels und eine sehr weise Frau.“ Kormenon sah den Narren zweifelnd an, sagte aber nichts darauf. Dieser quittierte sein Schweigen mit einem Lächeln und erhob sich. „Ich lasse dich jetzt wieder allein. Ruh dich aus, damit du wieder zu Kräften kommst.“

Mit diesen Worten verließ er das Krankenzimmer und machte sich auf die Suche nach der Hohepriesterin. Hargoris war jedoch mit irgendwelchen wichtigen Tempelangelegenheiten beschäftigt und den ganzen Tag nicht zu sprechen. Zumindest erklärten ihm das die beiden Priesterinnen, die ihn jedes Mal ungehalten abwiesen, wenn er wieder vor Hargoris` privaten Räumen auftauchte. So blieb ihm nichts übrig, als unverrichteter Dinge abzuziehen.

Den Rest des Tages verbrachte er damit, im Tempel umherzuwandern, was die Priesterinnen jedoch gar nicht gerne sahen, oder in Unterhaltung mit den Waldgeistern. Er sah auch noch einige Male nach Kormenon, doch der Soldat schlief meistens. Schließlich ging Tempolo früh zu Bett, um am nächsten Morgen ebenso früh wieder aufzustehen.

***

Wie schon am ersten Tag traf er die Waldgeister im Speisesaal, wo er mit ihnen frühstückte. Kirelle berichtete, dass die Truppen des Palastes wohl noch immer in der falschen Gegend nach ihnen suchten, da ihr Falke sie in der näheren Umgebung nicht entdecken konnte. Froh über diese positive Nachricht machte sich der Narr erneut auf die Suche nach Hargoris, während Tarmin und Kirelle nach Kormenon sehen wollten. Das Glück schien ihm aber auch am heutigen Tag nicht gerade hold zu sein, denn er wurde wieder von den beiden Priesterinnen, die offenbar Hargoris` persönliche Wachhunde waren, abgewiesen.

Diesmal baten sie ihn allerdings darum, gegen Mittag wiederzukommen. Zähneknirschend gab sich Tempolo geschlagen und beschloss, erst einmal Kormenon zu besuchen. Auf dem Weg zu dessen Krankenzimmer kamen ihm aber schon die Waldgeister entgegen und erklärten, die Heilerin sei gerade bei ihm und man dürfe jetzt nicht stören. Also streifte der Narr wieder eine Weile ziellos durch die Gänge, bis seine Aufmerksamkeit von leiser Musik angezogen wurde. Er folgte den Klängen zu einem kleinen Saal, wo gerade einige Mondtänzerinnen dabei waren, eine Choreographie einzustudieren.

Er beobachtete ihre grazilen Bewegungen so fasziniert, dass er die Priesterin nicht bemerkte, die sich ihm von hinten näherte. „Was tut ihr hier?“ erscholl plötzlich eine wütende Stimme direkt hinter ihm. Ertappt fuhr der Narr herum. „Äh, nun ja, ich...“ „Ihr habt hier keinen Zutritt! Trollt euch, aber auf der Stelle!“ fuhr sie ihn an. Er nickte nur und suchte dann eilig das Weite. Irgendwie hatte er schon immer ein Talent dafür gehabt, die Priesterinnen zu erzürnen. Wobei er sich den Grund dafür nicht erklären konnte. Seine Schritte trugen ihn erneut zu den privaten Räumen der Hohepriesterin, wo er diesmal auch endlich eingelassen wurde.

Trotzdem fragte er erst einmal vorsichtig, ob sie denn nun Zeit für ihn hätte. Hargoris bat ihn mit einem Lächeln sich zu setzen. „Ich bin gleich bei dir.“ versprach sie, bevor sie ihn alleinließ. Der Narr nutzte die Zeit, um sich im Zimmer etwas umzusehen. Durch ein breites Fenster fiel das Licht der Mittagssonne und erhellte den Raum. An den Wänden standen einige Regale, die bis zum bersten mit allerlei Büchern, Schriftrollen und ihm unbekannten Objekten gefüllt waren, sowie ein großer Schrank mit vielen Türen und Schubladen, die teilweise offen standen, wodurch ihr Inhalt herauszufallen drohte. In einer Ecke sah er eine große, hölzerne Truhe, mit einem Schloss daran, daneben befand sich ein niedriger Tisch, auf dem diverse Schriftstücke verstreut lagen.

Ansonsten gab es nur noch den einfach Tisch, an dem Tempolo gerade saß, die beiden Stühle und eine schmale Tür, die wohl in Hargoris` Schlafgemach führte. Der Narr überlegte gerade, ob er aufstehen und sich die Regale näher ansehen sollte, als Hargoris auch schon zurückkehrte. Die Hohepriesterin war eine große, schlanke Frau, der man ihr hohes Alter kaum ansah. Sie trug das, für ihre Position traditionelle, weiße Gewand, ihr langes, schneeweißes Haar war im Nacken zu einem Zopf zusammengebunden. Sie hatte einen aufrechten Gang, ein sanftes Lächeln und klare, blaue Augen, die das Wissen ihrer Jahre widerspiegelten. Diese Augen richteten sich nun auf Tempolo. „Du brauchst also meine Hilfe.“

„Ja. Wie ich dir schon erzählt habe, wurde Kronprinzessin Xiarana entführt und wir wissen weder von wem, noch wo man sie hingebracht haben könnte. Die Sterngarde beschuldigt Kormenon, sodass wir nicht nur die Prinzessin finden, sondern auch seine Unschuld beweisen müssen. Dabei sind wir auf der Flucht vor den Soldaten, die uns wahrscheinlich dicht auf den Fersen sind und wir wissen nicht, wo wir mit unserer Suche beginnen sollen.“ schilderte der Narr ihre Situation.

„Du sagtest etwas von schwarzer Magie, wenn ich mich recht erinnere.“ „Das stimmt. Eine Schleiereule konnte die Entführung beobachten. Sie erzählte den Waldgeistern, Xiarana sei von vermummten Männern in eine Art schwarze Wolke gestoßen worden und verschwunden.“ Hargoris überlegte einen Moment. Schließlich meinte sie: „Dann werdet ihr die Prinzessin mit gewöhnlichen Methoden nicht finden. So wie ich die Sache sehe, bleibt euch nur eine Möglichkeit: Das Orakel von Kyphros.“ „Das Orakel von Kyphros?“ wiederholte der Narr ungläubig. „Ich dachte, das sei nur eine Legende.“

„Oh nein, es existiert tatsächlich. Nur gibt es kaum jemanden, der es je gefunden hat. Denn das Orakel liegt verborgen in den Wäldern von Kyphros, in denen schon mancher Wanderer tagelang irr ging.“ „Und wie sollen gerade wir es dann finden?“ Hargoris erhob sich und lief hinüber zu dem großen Schrank, wo sie in einer der Schubladen kramte. Kurz darauf kehrte sie an den Tisch zurück und reichte Tempolo ein gefaltetes Pergament. „Hiermit. Diese Karte weist den Weg zum Orakel von Kyphros.“

Aufgeregt entfaltete der Narr das Pergament, nur um die Hohepriesterin kurz darauf ungläubig anzublicken. „Es ist leer. Da steht nichts drauf.“ Die alte Frau lächelte. „Doch, du kannst es nur nicht sehen. Es ist eine magische Karte, die ihr Geheimnis nur dem preisgibt, dem es bestimmt ist, das Orakel zu finden. Wenn es dir bestimmt ist, wirst du einen Weg finden, die Karte lesbar zu machen.“ Tempolo seufzte. „Warum sollte es auch einfach sein. Ich nehme nicht an, dass du mir irgendwie helfen kannst?“ Die einzige Antwort war ein Kopfschütteln.

Also stand er auf und verabschiedete sich mit einem: „Trotzdem Danke.“, dem er, als er sich außer Hörweite glaubte, die Worte: „für ein leeres Stück Pergament.“ folgen ließ. Hargoris sah ihm belustigt nach. „Du warst schon immer zu ungeduldig, mein lieber Neffe.“ murmelte sie zu sich selbst.

Tempolo ging direkt auf sein Zimmer, wo er die nächsten Stunden damit verbrachte, mit der Karte zu experimentieren. Doch egal, was er auch versuchte, nichts zeigte Wirkung. Schließlich gab er resigniert auf und machte sich mit dem Pergament in der Hand auf den Weg zu Kormenon`s Zimmer. Dort traf er nicht nur den jungen Soldaten an, sondern auch die beiden Waldgeister, die wieder einmal völlig durcheinander auf den armen Kormenon einredeten. „Wie geht es unserem Patienten?“ fragte Tempolo in die Runde und machte damit auf sich aufmerksam. „Wirklich gut. Die Heilerin sagt, ab morgen darf ich wahrscheinlich schon das Bett verlassen.“ antwortete Kormenon sichtlich erleichtert.

Er schien deutlich kräftiger als noch am Vortag. Die Schwellung an seinem Auge war bereits abgeklungen und auch die Färbung ging zurück. Sein nackter Oberkörper war noch immer dick mit Bandagen umwickelt. „Was hast du denn da?“ fragte Tarmin und zeigte auf die Karte in Tempolo`s Hand. „Ich habe mit Hargoris gesprochen.“ begann dieser zu erzählen. „Sie ist der Meinung, wir müssen das Orakel von Kyphros aufsuchen und diese Karte hier, soll uns hinführen.“ „Das Orakel existiert tatsächlich? Ich dachte, es sei nur ein Mythos.“ fiel Kormenon ihm ins Wort. Der Narr nickte. „Das dachte ich auch. Aber laut Hargoris existiert es tatsächlich. Das einzige Problem ist nur, dass dies hier eine magische Karte ist und wir erst einen Weg finden müssen, sie lesbar zu machen.“

Er faltete die Karte auseinander und zeigte den anderen das leere Pergament. „Ich habe alles ausprobiert, was mir eingefallen ist. Ich habe die Karte vor eine Kerze gehalten, oder in die Sonne und habe versucht, sie mit Pulver oder Wasserdampf lesbar zu machen, aber nichts hat funktioniert.“ Seinen Worten folgte nachdenkliches Schweigen, doch niemand hatte eine Idee, was sie noch tun konnten. Die Stille zog sich in die Länge und schließlich stellte Tempolo mit einem Blick aus dem Fenster fest, dass es bereits dämmerte. „Es ist schon spät. Vielleicht sollten wir morgen weiter darüber nachdenken.“

Die Anderen waren mit seinem Vorschlag sofort einverstanden. Tarmin und Kirelle verließen nach ein paar letzten Genesungswünschen das Zimmer und auch der Narr wandte sich zum Gehen, wurde jedoch von Kormenon zurückgehalten. „Tempolo, könntest du die Karte vielleicht hierlassen? Nur für den Fall, dass mir noch etwas einfällt.“ Tempolo zögerte, gab sich dann aber geschlagen und reichte dem Soldaten das Pergament. „Aber grübel nicht zu lange. Du brauchst deinen Schlaf.“ „Versprochen.“

***

Kormenon schreckte aus dem Schlaf hoch und wusste im ersten Augenblick nicht, was ihn geweckt hatte. In seinem Zimmer war alles dunkel, nur vom Gang her fiel ein schmaler Lichtstrahl herein. Dann erst wurde ihm bewusst, dass die Tür einen Spalt breit offen stand. Tempolo hatte sie geschlossen, als er ging und danach war niemand mehr hier gewesen. Von Neugier gepackt schlüpfte der junge Soldat aus dem Bett, wobei etwas mit einem leisen Rascheln zu Boden fiel. Es war die Karte, die den Weg nach Kyphros weisen sollte. Ohne darüber nachzudenken hob Kormenon das Pergament auf und schlich damit zur Tür. Vorsichtig lugte er hinaus auf den spärlich beleuchteten Gang.

Dieser schien auf den ersten Blick verlassen und er wollte schon wieder zum Bett zurückkehren, als er plötzlich am Ende des Ganges eine Gestalt entdeckte. Sie trug einen langen, dunklen Umhang und hielt eine Fackel in der Hand. Als sie Kormenon bemerkte, drehte sie sich weg und bog um die Ecke. Kormenon verließ sein Zimmer nach kurzem Zögern und ungeachtet der Tatsache, dass er nur mit einer Hose bekleidet war. Er huschte so leise es ging den Gang entlang und spähte um die Ecke. Die schmale Gestalt war nur ein kurzes Stück vor ihm und bewegte sich lautlos den Gang hinunter.

Er folgte ihr in kurzem Abstand. Sie führte ihn in eine Art kleinen Tempelgarten, wo sie sich am Rande eines Teiches niederließ, in dem sich der Vollmond spiegelte. Im hellen Mondlicht erkannte der Soldat, dass es sich um ein Mädchen handelte. Sie schien etwa so alt wie er selbst zu sein und als sie die Kapuze ihres Umhangs zurückstrich, konnte er langes, dunkles Haar erkennen. „Wer seid ihr?“ „Mein Name ist Narani.“ Er setzte sich neben sie. „Und warum habt ihr mich hierher geführt?“ Narani blickte auf den Teich und ließ ihre Hand durch das Wasser gleiten. „Man nennt ihn den Mondspiegel.“ erklärte sie leise. „Es heißt, das Wasser entwickelt magische Kräfte, wenn der Mond darin badet.“ Magie war in Erial bei Strafe verboten, doch das kümmerte Kormenon in diesem Augenblick wenig. Er sah auf das Wasser, dann auf die Karte und schließlich wieder zu Narani. Sie hielt ihm ihre Hand entgegen und nach kurzem Zögern reichte er ihr die Karte.

Sie tauchte sie ins Wasser, wo das Pergament kurz aufleuchtete, bevor sie es wieder herauszog und Kormenon zurückgab. Zu seinem großen Erstaunen war die Karte völlig trocken. Mit zitternden Fingern faltete er sie auseinander und sah zuerst wieder nur leeres Pergament. Doch plötzlich erschienen erste feine Linien, die sich langsam zu einem Ganzen zusammenfügten. Vor seinen erstaunten Augen wurde nach und nach die gesamte Karte sichtbar. Verwundert fuhr er mit den Fingern eine der Linien nach. „Narani, wie...“ er hob den Kopf und brach mitten im Satz ab, als er erkannte, das er allein war. Narani war so lautlos verschwunden, dass er es nicht einmal bemerkt hatte. Nur ihre Fackel lag noch neben ihm im Gras. Er hob sie auf und ging zurück auf sein Zimmer, wo er die Karte unter seinem Kopfkissen versteckte, bevor er erneut einschlief.

***

Am nächsten Morgen wurde Kormenon von der Heilerin Benta geweckt. Im ersten Moment blinzelte er ihr nur verschlafen entgegen, doch dann erinnerte er sich wieder an die Ereignisse der letzten Nacht und schwang sofort die Beine aus dem Bett, um aufzustehen. „Wie spät ist es? Sind meine Reisegefährten schon wach?“ Benta drückte ihn energisch zurück auf das Bett. „Wo wollt ihr denn hin?“ fragte sie streng. „Noch habe ich euch keine Erlaubnis gegeben, das Bett zu verlassen.“ „Aber ich muss dringend...“ begann Kormenon zu erklären, doch die Heilerin schnitt ihm das Wort ab. „Ihr müsst gar nichts. Es ist früher Morgen. Eure Gefährten sitzen wahrscheinlich gerade beim Frühstück, wenn sie überhaupt schon wach sind und ich werde jetzt erst einmal eure Wunden neu versorgen. Danach könnt ihr aufstehen und in den Speisesaal gehen, vorausgesetzt, ich bin mit der Heilung zufrieden.“

Ihr Ton duldete keinen Wiederspruch, also ließ sich Kormenon ergeben zurück auf das Bett sinken und befolgte brav alle Anweisungen, während Benta seine Verbände wechselte. Die Wunde an seinem Kopf war soweit abgeheilt, dass kein neuer Verband nötig war und auch sein blaues Auge heilte gut. Allein seine Rippen würden noch einige Tage brauchen, bis sie ihm keine Probleme mehr bereiteten. Alles in Allem war die Heilerin zufrieden und erlaubte ihm, aufzustehen, nachdem sie die Verbände gewechselt hatte, mahnte jedoch, er solle sich noch nicht überanstrengen. K

ormenon versprach ihr, sich zu schonen, während er hastig in seine Kleidung schlüpfte. Sie schenkte ihm einen zweifelnden Blick, als wisse sie genau, dass er sie eben belogen hatte, verließ aber kommentarlos das Zimmer. Nachdem sie gegangen war holte er die Karte unter seinem Kissen hervor und faltete sie auseinander. Das Pergament war bedeckt mit Linien und Symbolen und bewies damit, dass er die Ereignisse der letzten Nacht nicht nur geträumt hatte. Er faltete die Karte wieder sorgfältig zusammen und machte sich auf die Suche nach dem Speisesaal. Nachdem er eine Weile in den schier unzähligen Gängen der Palastanlage umhergeirrt war, traf er eine Priesterin, die ihm schließlich den richtigen Weg zeigte.

Im Speisesaal angekommen fand er Tempolo, Tarmin und Kirelle an einem Tisch und gesellte sich zu ihnen. Alle drei waren erfreut, dass er sich bereits so gut erholt hatte und die Waldgeister ließen ihn wieder einmal gar nicht zu Wort kommen. Es gelang ihm, ihren Redeschwall zu unterbrechen, indem er die Karte aufgefaltet auf den Tisch legte. Sofort herrschte Stille, die nach einigen Sekunden von Tempolo durchbrochen wurde. „Du hast sie entschlüsselt. Wie hast du das geschafft?“

„Ich hatte Hilfe.“ Rasch erzählte Kormenon von seiner Begegnung mit Narani, wie sie ihn zu dem Teich geführt und die Karte hineingetaucht hatte. „Als ich ihr für die Hilfe danken wollte, war sie jedoch verschwunden.“ schloss er seinen Bericht. „Ich bin sicher, wir haben noch Gelegenheit ihr zu danken.“ meinte der Narr. „Aber jetzt sollten wir uns erst einmal die Karte näher ansehen und zumindest ungefähr die Route festlegen, die wir nehmen wollen.“ Die Anderen stimmten ihm zu und beugten sich über die Karte.

„Also, wir sind hier...“ begann Tempolo und zeigte auf einen Punkt in der Karte, der den Tempel markierte. „ich würde vorschlagen, dass wir dem Flusslauf folgen, um die Stadt Nemrai aber einen Bogen machen. Dort würden wir zu sehr auffallen und wir werden mit Sicherheit bereits gesucht. Von Nemrai aus gehen wir weiter nach Osten, vorbei am Terka-See und den Bergen von Terkahr und durchqueren dann die Terkash-Ebene. Dann schlagen wir einen Bogen um Gjerchk und nehmen den Weg entlang der Kephron-Berge nach Kyphros.“

„Wir wären schneller, wenn wir Gjerchk durchqueren, anstatt einen Bogen darum zu machen.“ wandte Kormenon ein. Doch Tempolo schüttelte den Kopf. „Das möchte ich nicht riskieren. Die Trolle von Gjerchk sind zwar immer ein friedliches Volk gewesen, aber viele von ihnen reagieren nicht unbedingt freundlich auf Fremde in ihrem Gebiet. Und ich glaube, bisher hat keiner von uns näheren Kontakt mit Trollen gehabt, sodass wir nicht wissen, wie wir uns am Besten zu verhalten haben.“

„Mag sein, aber wie du schon sagst, sie sind friedlich. Mir kommt es jedenfalls so vor, als würden wir einen unnötigen Umweg machen.“ protestierte der Soldat. Ihre Diskussion wurde jäh unterbrochen, als plötzlich ein Falke durch eines der hohen Fenster hereingeflogen kam und einen schrillen Schrei ausstieß. Kirelle sprang auf und hielt ihren Arm in die Höhe, woraufhin der Vogel auf ihrem Handgelenk landete. Die Beiden schienen sich einen Augenblick lang zu unterhalten. Dann flog Skrill wieder hinaus und Kirelle wandte sich ihren Freunden zu.

„Aregor und die Soldaten haben kehrt gemacht und sind jetzt auf dem Weg hierher. Wenn sie ihr jetziges Tempo beibehalten, können sie bei Einbruch der Dämmerung hier sein.“ „Dann haben wir keine Zeit mehr für lange Planungen.“ stellte Tempolo fest. „Wir müssen sofort aufbrechen.“

Er sprang auf und war dabei, aus dem Saal zu laufen, als ihm Hargoris in den Weg trat. Die Hohepriesterin war unbemerkt in den Speisesaal gekommen und hatte einen Großteil des Gesprächs mitverfolgt. „Nicht so hastig, mein Neffe. Ihr könnt nicht einfach Hals über Kopf hinausrennen.“ „Aber wir müssen versuchen, einen Vorsprung zu gewinnen. Die Soldaten haben Pferde, während wir zu Fuß unterwegs sind.“ brauste der Narr auf. Die alte Frau lächelte nur über seinen Eifer.

„Und genau aus diesem Grund habe ich dich aufgehalten.“ erklärte sie. „Auch wenn ihr jetzt sofort aufbrecht, könnt ihr nicht genug Vorsprung gewinnen. Mit ihren Pferden würden euch die Soldaten binnen weniger Tage einholen. Aber dieser Tempel birgt Geheimnisse, die auf eurer Karte nicht verzeichnet sind und die außer uns Priesterinnen niemand kennt. Es gibt unterirdische Gänge, die direkt zum Fluss führen. Nehmt ein Boot und folgt dem Flusslauf bis zu der Stadt Vaal. Von dort kommt ihr geradewegs nach Kyphros. Allerdings braucht ihr jemanden, der euch zum Fluss führt, denn die Gänge sind verwinkelt und geheimnisvoll und es ist leicht, den Weg zu verlieren.“

Tempolo nickte. „Kannst du uns führen?“ „Nein, aber ich gebe euch einen guten Führer, der euch den Weg zeigt. Holt jetzt eure Sachen und macht euch fertig. Ich werde euch in meinen Gemächern erwarten.“ Der Narr dankte der Hohepriesterin und eilte dann davon, um seine Sachen zu packen. Die Waldgeister und der Soldat taten es ihm gleich. Kurz darauf fanden sich alle vier vor Hargoris` Tür ein. Tempolo klopfte kurz an und sie betraten gemeinsam den Raum. „Da seid ihr ja.“ wurden sie von der alten Frau begrüßt. „Und hier ist auch schon euer Führer.“ fügte sie hinzu.

Alle Augen richteten sich auf die junge Frau in dem zarten, weißen Kleid, die unbemerkt und völlig geräuschlos den Raum betreten hatte. „Ich glaube, ihr kennt Narani bereits?“ „Ja, allerdings.“ bestätigte Tempolo. „Gut. Sie wird euch führen. Hört auf sie und befolgt ihre Anweisungen, dann gelangt ihr sicher zum Fluss und hoffentlich auch sicher nach Vaal. Mögen die Götter über euch wachen und eure Reise erfolgreich sein.“ Die vier Gefährten verneigten sich vor der Hohepriesterin und dankten ihr erneut für ihre Hilfe, bevor sie Narani nach draußen folgten. „Wir müssen hier entlang. Der Eingang zu den unterirdischen Gängen befindet sich im Tempelgarten.“ erklärte die Tänzerin. Tempolo nickte. „Dann geht voran. Wir folgen euch.“

Die Königin von Erial

Подняться наверх