Читать книгу Die Königin von Erial - Claudia Schäffler - Страница 6
3. Der lange Weg nach Vaal
ОглавлениеIm Tempelgarten wurde die Gruppe bereits von zwei Priesterinnen erwartet, die ihnen Taschen mit Vorräten und brennende Fackeln übergaben. Eine der Beiden reichte Tempolo einen kleinen Beutel. „Hier ist auch noch etwas Geld für euch. Das Einzige, was wir sonst noch tun können, ist für euch zu beten.“ Der Narr lächelte dankbar. „Ihr habt sehr viel für uns getan. Danke für eure Hilfe.“ Die Priesterinnen verneigten sich und kehrten in den Tempel zurück. Tempolo verteilte das Gepäck auf sich und seine drei Gefährten, wobei er darauf achtete, dass Kormenon die leichteste Last zu tragen hatte.
Am liebsten hätte er den jungen Soldaten noch etwas geschont, doch er wusste, dass dieser es nicht zulassen würde. Dann wandte sich der Narr wieder Narani zu, die nun in einen grauen Mantel gehüllt war, ebenfalls eine Tasche über der Schulter trug und eine Fackel hielt. „Wir sollten aufbrechen.“ Sie nickte und ging zu einem steinernen Pavillon, der sich im Zentrum des Gartens befand.
Dort betätigte sie einen verborgenen Hebel, woraufhin sich der Boden des Pavillon langsam absenkte und den Blick auf eine schmale Treppe freigab. Hintereinander begannen sie den Abstieg. Als alle fünf die Stufen ein Stück weit hinabgestiegen waren, schloss sich die Öffnung über ihnen von selbst und tauchte sie in völlige Dunkelheit, die nur vom Schein ihrer Fackeln erhellt wurde. Die Treppe war nicht allzu lang und so standen sie schon bald in einer Art niedriger, unterirdischer Höhle, von der Gänge in sieben verschiedene Richtungen abzweigten. Hargoris hatte also nicht übertrieben, als sie sagte, es sei leicht vom Weg abzukommen. Narani schien den Weg jedoch genau zu kennen, denn sie wählte ohne zu zögern den zweiten Gang zu ihrer Rechten.
Es war ein dunkler Tunnel, den sie nun betraten, gerade hoch genug, dass Tempolo aufrecht darin gehen konnte und so schmal, dass sie kaum zu zweit nebeneinander passten. Hinter Narani ging Kormenon, nach ihm Tempolo und Kirelle, während Tarmin den Schluss bildete. Der Gang wand sich schier endlos vor ihnen dahin und Kormenon verlor schon bald das Zeitgefühl. Ihm kam es so vor, als würden sie bereits seit Stunden durch diesen finsteren Tunnel irren, dessen raue Wände immer näher heranzurücken schienen. Es ging noch immer leicht abwärts. Einige Male passierten sie eine Abzweigung links oder rechts in der Tunnelwand. Ansonsten veränderte sich die Umgebung in keinster Weise. Doch Narani schien genau zu wissen, wo sie sich befanden. Sie ging mit zügigen Schritten voran, ohne auch nur einmal zu zögern.
Schließlich bog sie ohne Vorwarnung nach links in einen anderen Tunnel ab und Kormenon fragte sich, wie sie sich hier unten nur so gut zurechtfinden konnte und ob sie jemals wieder aus diesem dunklen Labyrinth herausfinden würden, das im Moment so endlos schien. Als hätte sie seine düsteren Gedanken gehört, sah sich die Mondtänzerin kurz nach ihm um. „Es ist nicht mehr weit.“ „Woher wisst ihr das so genau? Wie könnt ihr hier nur die Orientierung behalten?“ fragte Kormenon in leicht verzweifeltem Tonfall. „Übung.“ war die schlichte Antwort. Eine Weile liefen sie schweigend weiter, bis Kormenon plötzlich ein Rauschen hörte. Er sprach Narani darauf an und sie nickte. „Das ist der Fluss. Wir haben ihn fast erreicht.“
Langsam schien der Gang breiter zu werden. Die Decke rückte weiter nach oben, bis sie letztendlich in ein hohes Gewölbe kamen. Vor ihnen führten gleichmäßig in den Fels gehauene Stufen nach unten, wo neben einem schmalen Sims der Fluss entlangrauschte. Dort lagen zwei Langboote vertäut. Die Höhlendecke ragte einige Meter über den Fluss und durch kleine Löcher oder Risse fielen schmale Streifen bleichen Tageslichts, die das Gewölbe spärlich erhellten. Narani stieg die Stufen hinab und lud ihre Tasche in das vordere Boot. Während die Anderen es ihr gleichtaten entzündete sie eine Laterne, die am Bug aufgehängt war. Das schmale Boot war aus dunklem Holz gefertigt und beinhaltete drei lange Holzstangen, mit denen man die Richtung beeinflussen oder durch ruhige Gewässer staken konnte. Es bot Platz für sieben oder acht Personen und war gut für längere Reisen geeignet, solange man sich nicht auf das offene Meer hinauswagte.
Nachdem das Gepäck verstaut war, wandte sich Tempolo an Narani: „Ich danke euch, dass ihr uns sicher und schnell hierhergeführt habt und für all eure Hilfe. Wir stehen tief in eurer Schuld. Aber ich fürchte, für lange Abschiedsworte bleibt uns keine Zeit.“ „Abschiedsworte sind auch nicht nötig. Ich werde euch begleiten.“ „Uns begleiten?“ fragte der Narr verwirrt. „Ich dachte, ihr solltet uns nur zum Fluss führen. Von hier aus finden wir den Weg sicher allein.“ „Daran zweifle ich nicht. Und mir wurde von der Hohepriesterin auch nur aufgetragen, euch bis hierher zu führen. Aber ich möchte mit euch kommen. Nach Vaal und weiter nach Kyphros und wohin immer euer Weg von dort aus führen mag.“ Tempolo seufzte.
„Narani, ich kann verstehen, wenn ihr den Tempelmauern entkommen wollt, aber vor uns liegt eine gefährliche Reise. Eine Reise mit ungewissem Ziel und mit den Soldaten im Nacken, die uns als Verräter hinrichten werden, wenn sie uns erwischen. Uns und alle, die mit uns reisen. Ich kann euch nicht dieser Gefahr aussetzen. Bitte versteht das.“ „Ich verstehe euren Standpunkt, aber ihr versteht den Meinen nicht. Ich will euch nicht aus einer Laune heraus begleiten oder weil ich das Abenteuer suche, sondern weil ich muss. Ich kann es nicht erklären, aber ich fühle in meinem Herzen, dass ich mit euch kommen muss.“
Sie sah den Narren flehend an. „Narani...“ begann dieser, doch sie fiel ihm ins Wort. „Ich werde euch sicher nicht aufhalten. Ich laufe schnell wie ein Reh und ebenso ausdauernd. Und ich kann nützlich für euch sein. Ich habe im Tempel vieles gelernt. Ich spreche die alte Tempelsprache und ich kenne zahlreiche Legenden, die sich um das Orakel von Kyphros ranken. Es ist der Göttin Lurika geweiht und wer wäre besser geeignet es zu finden, als eine Dienerin eben jener Göttin. Lasst mich mit euch kommen. Bitte.“
Tempolo zögerte als sich plötzlich Kormenon einmischte. „Vielleicht hat sie Recht. Ich schätze wir können wirklich Hilfe gebrauchen. Außerdem sind da merkwürdige Runen auf der Karte, die ich nicht lesen kann.“ „Tempelrunen.“ entgegnete Narani. „Ich kann sie euch übersetzen.“ Der Narr zögerte noch einen Augenblick, seufzte dann aber ergeben. „Also gut, dann kommt mit uns.“ Kaum hatte er zu Ende gesprochen, fiel ihm das Mädchen schon um den Hals. „Danke! Ihr werdet es nicht bereuen.“ Sie löste sich wieder von ihm und stieg in das Boot, in dem Kormenon und die beiden Waldgeister bereits Platz genommen hatten. Tempolo sah ihr dabei zu und frage sich, worauf er sich nur eingelassen hatte. Dann holte ihn Tarmin`s Stimme aus seiner Starre. Der Narr löste die Taue, die das Boot am Platz hielten und stieg ebenfalls ein. Kormenon stieß sie mit einer Stange vom Rand ab und die Fahrt begann.
Das Gewölbe blieb hinter ihnen zurück und sie durchfuhren eine Art Tunnel. Nach einigen Metern senkte sich die Decke etwas weiter herab und Kormenon frage sich einmal mehr, ob sie diese finsteren Gänge jemals hinter sich lassen würden. Nur hin und wieder drang ein schmaler Streifen fahlen Tageslichts durch einen Spalt in der Höhlendecke. Für den größten Teil aber blieb die Laterne vorne am Bug ihre einzige Lichtquelle, die es allerdings kaum vermochte, die Höhle richtig auszuleuchten und zudem gespenstisch flackernde Schatten an die Wände warf. Tempolo nutzte eine der Stangen, um das Boot auf Kurs zu halten, was aber kaum nötig war. Sie trieben von selbst in der Mitte des Flusses mit der Strömung dahin. Endlos führte ihr Weg durch die unterirdische Höhle.
Dann endlich sahen sie vor sich einen Ausgang, durch den Tageslicht hereinstrahlte. Kormenon kam es vor, als wären sie eine Ewigkeit durch die Dunkelheit getrieben, während es eigentlich kaum eine Stunde war. Der Fluss rauschte schnell dahin und sie waren zügig vorangekommen. Auf die letzten Meter verengte sich der Tunnel und wurde so niedrig, dass sie kaum noch aufrecht im Boot sitzen konnten. Schließlich gelangten sie durch eine schmale Öffnung ins Freie und Kormenon erkannte, dass der Fluss nur ein Nebenarm war, der sich ein kleines Stück nach der Höhle mit dem Vrelleron vereinigte.
An beiden Seiten des Flusslaufs ragten hier und da einzelne kleine Felsen aus dem Boden. Dazwischen standen knorrige alte Eichen. Näher am Wasser wuchsen Trauerweiden, deren Äste bis in den Fluss hinabhingen. Vereinzelte Sträucher und blühende Wiesen vervollständigten das idyllische Bild. Die Sonne stand bereits tief und verwandelte den Himmel in ein Meer aus rosa und orange, von dem sich Kormenon im ersten Augenblick geblendet fühlte. Er warf einen Blick zurück auf die dunkle Höhle, die sie soeben verlassen hatten. Die Öffnung wirkte klein und war mit Efeu bewuchert. Wenn er es nicht besser wüsste, würde er nicht glauben, dass dort tatsächlich ein Boot hindurchpasste.
Nachdem sie so lange Zeit durch die dunklen Gänge gewandert waren erschien ihm das Licht der Abendsonne gleißend hell und ließ seine Gedanken zum Tag der geplanten Krönung wandern. Auch damals hatte ihn die Abendsonne geblendet, nachdem Tempolo ihn aus der Finsternis des Kerkers befreit hatte. Lag das wirklich erst zwei Tage zurück? Oder war doch mehr Zeit vergangen, seit sein Leben völlig aus der Bahn geworfen wurde. „Welcher Tag ist heute?“ fragte er plötzlich in die Stille. Tempolo sah ihn überrascht an. „Mittwoch.“ Mittwoch. Es war also tatsächlich nur zwei Tage.
Narani`s Stimme riss ihn aus seinen Grübeleien. „Im Inneren des Labyrinths verliert man leicht das Zeitgefühlt.“ „Es ist also wirklich ein Labyrinth?“ Die Tänzerin nickte. „Es erstreckt sich über das gesamte Tempelgelände und noch weit darüber hinaus. Ich kenne selbst nur einen Teil davon, aber es soll sogar einen Gang geben, der bis in den Königspalast führt.“ „Ich habe Geschichten von Geheimgängen im Palast gehört.“ mischte sich nun auch Tarmin ein. „Aber die stammen von den Sperlingen und Sperlinge schwatzen nun mal gerne, wie wohl jeder weiß. Man kann ihnen nicht immer alles glauben. Und sie neigen zu Übertreibungen. Einmal erzählte mir ein Sperling von einer Katze, die so groß wie ein Pferd gewesen sein soll. Eine solche Katze ist mir nie begegnet und ich habe schon viele Katzen gesehen.“ erzählte er weiter und brachte seine Gefährten damit zum Lachen.
Langsam schwand die trübsinnige Stimmung, die im Labyrinth von der Gruppe Besitz ergriffen hatte. Ihre Situation schien immer noch schwierig, aber nicht mehr ganz so ausweglos. Dennoch war nun, da sie eine scheinbare Pause hatten, jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, sodass bald wieder Stille einkehrte. Kormenon konnte nicht sagen, wie lange das Boot dahintrieb. Erst als die Sonne bereits hinter dem Horizont verschwunden war und am Himmel die ersten Sterne aufblitzen, ergriff Tempolo wieder das Wort. „Ich denke wir sollten hier anlegen und unser Lager aufschlagen. Im Dunkeln kommen wir sowieso nicht weiter und mir wird so langsam wieder bewusst, dass wir seit dem Frühstück nichts mehr gegessen haben.“
Die Anderen stimmten seinem Vorschlag nur zu gerne zu. Sie steuerten das Boot gegen das rechte Ufer und zogen es an Land. Als Rastplatz wählten sie eine Fläche zwischen zwei alten Trauerweiden, wo Tarmin ein kleines Feuer entzündete. Das Essen wurde schweigend eingenommen und auch danach schien keinem der Sinn nach großer Unterhaltung zu stehen. Tempolo ließ seinen Blick durch die Runde schweifen. Die beiden Waldgeister saßen dicht beieinander und wechselten ab und zu ein paar leise Worte in ihrer eigenen Sprache. Der Narr wusste,dass sich die beiden Vorwürfe machten. Schließlich waren sie es gewesen, die Kormenon mit ihren Vermutungen zu Aregor schickten.
Tempolo erinnerte sich nur zu gut an den Tag der geplanten Krönung. An seinen Schock, als er von Xiarana`s Verschwinden erfuhr und seinen Unglauben, als man Kormenon beschuldigte. Er hatte nicht eine Sekunde an der Unschuld des jungen Mannes gezweifelt. Dazu kannte er ihn zu gut. Und er kannte auch Hauptmann Aregor und dessen Abneigung gegen Kormenon. Sein Verdacht hatte sich bewahrheitet, als Kirelle und Tarmin kamen, um ihn völlig aufgelöst in das Geschehene einzuweihen. Zumindest so weit sie es selbst wussten.
Was sich nach Kormenon`s Gespräch mit dem Hauptmann ereignet hatte, konnte er sich gut denken und so stand sein Plan sehr schnell fest. Sie mussten den jungen Soldaten befreien. Die beiden Waldgeister waren natürlich sofort einverstanden und auch Voril sagte ohne zu Zögern seine Hilfe zu. Er lieferte ihnen Informationen aus der Sterngarde, damit sie den richtigen Zeitpunkt wählen konnten. Der schwierigste Teil hing an Tempolo. Als Narr wurde er jedoch häufig unterschätzt und für einfältig gehalten. Daher redeten die Soldaten in seiner Nähe oft über vertrauliche Dinge, ohne auf seine Anwesenheit zu achten. Der Narr kannte viele Geheimnisse, wusste um Intrigen und hinterhältige Pläne. So war es ihm ein Leichtes an den Schlüssel für Kormenon`s Zelle zu kommen.
Der Zustand des Jungen hatte ihn erschreckt. Auch wenn er Aregor und seine Methoden kannte, hatte er nicht mit solcher Gewalt gerechnet. Nun glitt sein Blick von den tuschelnden Waldgeistern zu dem jungen Soldaten. Kormenon wirkte erschöpft und niedergeschlagen. Was anhand der Situation kein Wunder war. Ein leises Rascheln lenkte seine Aufmerksamkeit auf das neueste Mitglied ihrer Gruppe. Narani strich ihr Kleid zurecht, während sie geistesabwesend ins Feuer starrte.
Die junge Frau war ihm ein Rätsel. Tempolo verstand noch immer nicht, warum sie so sehr darauf bestanden hatte, mit ihnen zu kommen. Und er war auch noch immer nicht sicher, ob es eine gute Idee gewesen war, sie mitzunehmen. Er kannte dieses Mädchen nicht, dass so mysteriös und undurchschaubar wirkte. In einem Moment schien sie schüchtern und zurückhaltend, nur um im nächsten Augenblick vehement ihren Standpunkt zu verteidigen. Vielleicht lag es aber auch an den Mythen, die sich noch immer um die Mondtänzerinnen rankten, dass er nicht wagte, ihr zu vertrauen.
Seufzend stellte der Narr fest, dass die Nacht schon weit vorangeschritten war. „Wir sollten versuchen ein wenig Schlaf zu bekommen. Ich möchte morgen früh zeitig aufbrechen.“ Die anderen Vier zuckten leicht zusammen und auch er selbst erschrak beinah beim Klang seiner eigenen Stimme, die die Stille so plötzlich durchbrach. Zögerlich kam Bewegung in die Gruppe. Es wurden Decken ausgerollt und Schlaflager bereitet. „Sollen wir eine Wache aufstellen?“ fragte Kormenon leise. Tempolo verneinte. „Das hier ist sicheres Gebiet und das Feuer wird wilde Tiere fernhalten, falls es hier welche geben sollte. Ich glaube für den Moment ist ein Wachposten noch nicht nötig.“ Erneut kehrte Stille ein und schon bald fielen Alle in einen unruhigen Schlaf.
***
Der nächste Morgen versprach Sonnenschein und milde Temperaturen. Tempolo, der es gewohnt war mit der Sonne aufzustehen, musste überrascht feststellen, dass bereits jemand vor ihm wachgeworden war. Als er seinen Blick durch ihr Lager gleiten ließ, fand er Narani`s Schlafplatz verlassen vor. Neugierig geworden erhob er sich, um nach der Tänzerin zu sehen. Er fand sie am Flussufer beim traditionellen Morgengruß des Lurika-Tempels. Für die Bewohner des Tempels war es üblich jeden Morgen dem untergehenden Mond, sinnbildlich für die Mondgöttin Lurika und gleichzeitig der aufgehenden Sonne, als Sinnbild für Lurika`s Bruder, Sonnengott Soriton, zu huldigen.
Der Narr hatte dieses Ritual während seiner Besuche im Tempel häufiger gesehen und beschloss daher, das Mädchen nicht zu stören. Stattdessen ging er leise zum Lager zurück, um das Frühstück vorzubereiten und seine Gefährten zu wecken. Narani stieß kurz darauf wieder zu ihnen und sie nahmen erneut schweigend die Mahlzeit ein. Bald darauf drängte der Narr wieder zum Aufbruch und sie bestiegen erneut ihr Boot, um die Reise flussabwärts fortzusetzen.
Noch immer hing eine bedrückte Stille über der Gruppe. Kormenon war so in seine Grübeleien versunken, dass er kaum bemerkte, wie die Sonne langsam höher wanderte und ihren Zenit erreichte. Seine Rippen schmerzten wieder von der vielen Anstrengung und er fühlte sich erschöpft. Plötzlich berührte jemand seine Schulter und er fuhr erschrocken herum. Narani hielt ihm ein kleines Fläschchen entgegen. „Benta hat mir dies mitgegeben, falls du Schmerzen haben solltest.“ erklärte sie. „Ich habe keine Schmerzen, danke.“ dementierte Kormenon. Doch die Tänzerin schenkte ihm nur einen zweifelnden Blick. „Und warum presst du dann dauern die Hand gegen deine Rippen und verzerrst das Gesicht?“ Er konnte nichts darauf erwidern. Ihm war diese Geste überhaupt nicht bewusst gewesen.
Also nahm er das Fläschchen, zog den Korken heraus und trank einen Schluck, nur um gleich darauf das Gesicht zu verziehen. Es schmeckte noch abscheulicher als er erwartet hatte. Narani nahm ihm die Medizin mit einem Lächeln wieder ab und verstaute sie in ihrer Tasche. Natürlich erst, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass der Korken wieder fest saß. Damit nichts ausläuft und sie mich noch öfter damit quälen kann dachte Kormenon angesäuert. Tempolo, der das Ganze mitverfolgt hatte, musste sich ein Lachen verkneifen. Der junge Soldat benahm sich mehr wie ein Knabe, als ein Mann von 22 Jahren.
Auch die beiden Waldgeister schien die Szene erheitert zu haben, denn sie begannen wieder, sich in ihrer eigenen Sprache zu unterhalten. Kormenon konnte zwar kein Wort verstehen – für ihn klang es wie das Gezeter von zwei Eichhörnchen – doch er hätte schwören können, dass sich die Beiden über ihn lustig machten. Zumindest Narani schien Mitleid zu haben, denn sie fragte Tempolo, ob sie Vaasq heute noch erreichen könnten und lenkte die Aufmerksamkeit so auf etwas anderes. Der Narr sah prüfend zum Himmel, wo die Sonne schon wieder ihren Abstieg begonnen hatte und zuckte mit den Schultern. „Ich hoffe es, aber es könnte spät werden.“ gab er zur Antwort.
Und er sollte Recht behalten. Erst als die Sonne bereits am Untergehen war und ihre Strahlen den Himmel in rotgoldenes Licht tauchten, konnten die fünf Reisenden in der Ferne die kleine Stadt ausmachen. Es war bereits dunkel, als sie endlich in Vaasq eintrafen. Die meisten Bewohner der kleinen Fischerstadt, die direkt an den Fluss grenzte, schienen bereits zu schlafen, doch am Kai standen zwei Wachmänner mit Laternen, die Tempolo und Kormenon sofort halfen, das Boot festzumachen.
Der Narr stellte erstaunt fest, dass man sie bereits erwartet hatte. „Dorgal da oben hat euch schon angekündigt.“ erklärte einer der Männer und wies auf den großen Wachturm am Rande der Stadt. „Die Wirtsfrau weiß auch schon Bescheid und hat in der Schänke ein Lager für euch vorbereitet. Wenn ihr wünscht, führe ich euch gleich hin. Euer Boot ist hier über Nacht sicher.“ Tempolo dankte dem Mann für seine Freundlichkeit und nachdem sie ihre Bündel ausgeladen hatten, folgten sie ihm zu einem großen Gebäude, das sich als das Wirtshaus herausstellte.
Der Wachmann verabschiedete sich und sie betraten eine kleine, gemütliche Halle. Der Raum war ausgefüllt mit Tischen und Bänken aus hellem Holz, vereinzelte Lampen spendeten warmes Licht und im Kamin brannte ein Feuer. Die Wirtsstube war fast gänzlich verlassen. Nur an einem Tisch saßen zwei Männer und spielten Karten, während ein Dritter dabei zusah und Kommentare abgab. Sie würdigten die Fremden keines Blickes. Hinter dem Tresen stand eine kleine, rundliche Frau mit roten Haaren, die zu einem Zopf gebunden waren. Sie hatte ein freundliches Gesicht und gutmütige braune Augen. Als sie die Reisenden entdeckte, kam sie sofort herangewuselt um sie zu begrüßen, wobei sie fröhlich auf die Fremden einredete.
„So spät noch unterwegs. Kommt ihr denn von weit her? Ihr müsst ja ganz durchgefroren sein. Die Nächte sind doch so kalt hier bei uns am Wasser. Setzt euch nur gleich hin. Ich bringe eine Suppe.“ Ohne eine Antwort abzuwarten marschierte sie wieder davon. Die fünf Gefährten sahen einander belustigt an und nahmen an einem der Tische platz. Die Wirtin kehrte mit Schalen und Bechern beladen zurück, die sie auf dem Tisch abstellte, bevor sie wieder in die Küche verschwand, um kurz darauf einen großen Topf Suppe heranzuschleppen.
Während sie die Suppe in die Schalen verteilte, brachte ein junges Mädchen einen Laib Brot und einen Krug mit Wasser. Sie trug ihr rotes Haar zu zwei Zöpfen gebunden und man konnte auf den ersten Blick erkennen, dass sie wohl die Tochter der Wirtin sein musste. Tempolo merkte dies an und die rundliche Frau nickte. „Ja, das ist Krytis, meine Jüngste. Meine drei Ältesten sind mittlerweile alle verheiratet, Ragna ist in den Tempel eingetreten und meine Rigante muss mit Grippe das Bett hüten. Sie ist ein etwas kränkliches Kind. Aber wo habe ich nur meine Manieren? Ich habe mich ja nicht einmal vorgestellt. Mein Name ist Annegundis und mir gehört dieses hübsche Wirtshaus. Nun, eigentlich gehört es meinem Mann, aber er ist vor zwei Jahren mit dem Boot rausgefahren und nicht mehr zurückgekehrt. Nur die Götter wissen, was mit ihm geschehen ist. Wahrscheinlich ist er ertrunken. Er war ja immer etwas ungeschickt...“
Tempolo nickte hin und wieder und bemühte sich, keine Miene zu verziehen. Annegundis gehörte offensichtlich zu jenen Menschen, die stundenlang ohne Pause reden konnten und jedem Fremden sofort ihre halbe Lebensgeschichte erzählen mussten. So erfuhren sie während des Essens von Annegundis` Ehemann, der zwar nie wirklich zu etwas zu gebrauchen gewesen war, diesen Fehler jedoch mit seiner Liebenswürdigkeit ausglich und von ihren sechs Töchtern, von denen zwei zu ihrem großen Leidwesen nach dem Vater kamen. Als die geschwätzige Wirtin endlich eine kurze Atempause machte, merkte Narani an, dass es schon spät sei und sie alle ihren Schlaf brauchten.
„Aber natürlich.“ erwiderte Annegundis. „Es tut mir leid, wenn ich euch zu lange wachgehalten habe. Ich rede manchmal ein wenig viel, aber das liegt bei uns in der Familie. Ich habe nebenan in der kleinen Halle ein Nachtlager für euch bereitet. Dort könnt ihr euch zur Ruhe begeben. Einfach durch diese Tür.“ Tempolo dankte ihr für das Essen und ihre Mühe und erhob sich, gefolgt von den Anderen. Nur Kormenon rührte sich nicht. Er war beinahe am Tisch eingeschlafen.
Erst als Narani ihn vorsichtig an der Schulter rüttelte, sah er verwirrt auf. „Schlafenszeit.“ flüsterte die Tänzerin. Er nickte und ließ sich von ihr ohne Protest in den Nebenraum führen. Dort lagen, wie Annegundis versprochen hatte, bereits Matten und Decken ausgebreitet. Kormenon kuschelte sich völlig erschöpft in seine Decke und war keine Minute später bereits eingeschlafen.
***
Am nächsten Morgen wurde der junge Soldat unsanft geweckt, indem ihn jemand rüttelte und seinen Namen rief. Murrend schlug er die Augen auf und blickte in Tempolo`s halb besorgtes, halb amüsiertes Gesicht. „Wir müssen weiter.“ erklärte der Narr entschuldigend. Kormenon nickte und rappelte sich auf. „Dort drüben steht ein Waschzuber und in der Wirtsstube gibt es Frühstück . .. Kommst du zurecht?“ Der Narr wartete ein weiteres Nicken ab, bevor er nach draußen verschwand. Kormenon schlurfte zum Waschzuber und griff nach der bereitgestellten Kanne.
Das Wasser war kühl und ließ ihn frösteln. Offensichtlich hatte Tempolo ihn später geweckt als zuerst beabsichtigt. Auch wenn der Soldat es hasste, geschont zu werden, war er seinem Freund dankbar. Er fühlte sich, als hätte er in der letzten Nacht keine Stunde Schlaf bekommen und seine Rippen schmerzten bei jeder Bewegung. Vorsichtig entfernte er die Verbände. Über seine gesamte linke Seite zog sich ein blau-violetter Bluterguss. Doch er wollte keine Schwäche zeigen. Nicht einmal vor seinen Gefährten. Dafür war er viel zu stolz. Also biss er die Zähne zusammen, zog sich an und ging hinaus in die Wirtsstube, die er fast gänzlich verlassen vorfand.
Nur die Tochter der Wirtin war gerade damit beschäftigt den Boden zu fegen. Als sie Kormenon bemerkte, lief sie in die Küche und holte Haferbrei und Tee für ihn. Er fragte sie nach seinen Reisegefährten, doch das Mädchen konnte nur sagen, dass sie alle unterwegs waren, nicht jedoch wohin sie gegangen waren oder weshalb. So blieb ihm nichts übrig als auf ihre Rückkehr zu warten. Er musste sich allerdings nicht lange gedulden, bis zumindest Narani zurückkehrte, die er auf den ersten Blick nicht einmal erkannte.
Sie hatte ihr silbern besticktes Gewand, das sie als Mondtänzerin auswies, gegen ein einfaches Kleid aus moosgrünem Leinen getauscht und ihr langes Haar zu einem Zopf zusammengebunden. „Meine Kleidung war zu auffällig.“ erklärte sie auf Kormenon`s fragenden Blick hin. „Und deine ist es auch.“ Mit diesen Worten reichte sie ihm ein Bündel. Kormenon fand ein einfaches Hemd und eine braune Weste darin. Er trug zwar seinen Waffenrock mit dem Sternemblem der Kronprinzessin nicht mehr, doch seine leuchtend blaue Tunika stach auch so ins Auge. Und sie konnten es sich nicht erlauben, aufzufallen.
„Du hast Recht. Danke, dass du daran gedacht hast.“ Narani winkte ab. „Du brauchst mir nicht zu danken.“ „Wo sind eigentlich die Anderen?“ fiel Kormenon wieder ein. „Tempolo ist zum Markt gegangen, um unsere Vorräte aufzustocken und die beiden Waldgeister warten auf Nachricht von Kirelle`s Falken. Sie sollten aber bald zurück sein.“ „Dann ziehe ich mich lieber um. Wir sollten zügig aufbrechen.“ Narani nickte und Kormenon verschwand wieder im Nebenraum.
Er schlüpfte gerade aus seiner Tunika und wollte nach dem Hemd greifen, als die Mondtänzerin ihm folgte. Ihr Blick glitt über seinen durchtrainierten Oberkörper und blieb an dem dunklen Bluterguss an seiner Seite haften. „Hast du Schmerzen?“ Der Soldat winkte ab. „Nicht der Rede wert.“ Sie quittierte seine Lüge mit einem sanften Lächeln. „Die Heilerin Benta gab mir eine Kräutersalbe mit, die die Heilung unterstützen und die Schmerzen lindern soll. Warte...“ Sie lief zu ihrem Lager und holte einen Tiegel aus ihrer Tasche. Kormenon wollte protestieren, brachte jedoch kein Wort über die Lippen. So blieb ihm nichts übrig, als die Zähne zusammenzubeißen und sie gewähren zu lassen.
Doch der erwartete Schmerz blieb aus, als Narani vorsichtig die kühle Salbe auf seine Wunden auftrug. Ihre Berührung verursachte lediglich ein leichtes Kribbeln auf seiner Haut, das ihn erschauern ließ. Sie schien plötzlich zu bemerken, wie nah sie ihm gekommen war, denn sie errötete und trat ein paar Schritte zurück. Auch Kormenon wurde sich der Situation bewusst und murmelte ein leicht verlegenes: „Danke.“. Er schlüpfte in sein Hemd, während Narani den Tiegel mit der Heilsalbe wieder in ihre Tasche packte.
Die Rückkehr der Waldgeister bewahrte die Beiden vor unangenehmer Stille. „Die Soldaten haben den Tempel verlassen und reiten in Richtung Nemrai.“ berichtete Kirelle. Kormenon nickte etwas abwesend, sah jedoch erschrocken auf, als ihm bewusst wurde, was das bedeutete. „Nach Nemrai? Dann kommen sie an Vaasq vorbei!“ „Ja, das dachten wir uns auch.“ bestätigte Tarmin. „Aber sie sind noch ein gutes Stück entfernt. Bis sie hier eintreffen, sind wir lange weg.“ „Und wenn sie nach uns fragen?“ wandte Narani ein. „Die Wirtin redet sehr viel. Und wir sind nicht gerade unauffällig.“ gab sie zu bedenken. „Und die Wachmänner werden sicher auch nicht schweigen.“ stimmte Kormenon ihren Befürchtungen zu.
„Dann müssen wir eben dafür sorgen, dass sie die falsche Antwort geben.“ bestimmte Tempolo. Unbemerkt von den Anderen war der Narr eingetreten und hatte das Gespräch mitangehört. „Und wie willst du das anstellen?“ fragte Kormenon skeptisch. „Ich habe Annegundis erzählt, wir wären auf dem Weg nach Nemrai, zur Hochzeit meiner Schwester. Wenn ich unsere Wirtin richtig einschätze und ich bin ziemlich sicher, dass ich das tue, wird sie die Geschichte fleißig weitertratschen.“ „Ihr seid ein guter Stratege.“ meinte Narani anerkennend. Der Narr zuckte nur mit den Schultern.
„Angeborene Fähigkeit. Ich habe der Wirtin auch erzählt, ihr wäret meine Nichte und wir hätten euch aus dem Tempel abgeholt, um gemeinsam zur Hochzeit zu fahren. Auf dem Markt habe ich noch ein paar kleine Geschenke besorgt, weil ich das in der ganzen Hektik vergessen hatte. Nur, damit wir alle die gleiche Geschichte erzählen, wenn uns jemand fragen sollte. Und nun sollten wir langsam aufbrechen. Ich möchte unser Glück nicht überstrapazieren.“ Die Anderen hatten keine Einwände, also packten sie ihre Sachen zusammen und machten sich wieder auf den Weg.
In der Wirtsstube wurden sie erst einmal von Annegundis verabschiedet, deren Redeschwall Tempolo nach ein paar Minuten unterbrach. „Meine Schwester erwartet uns und wir haben uns schon länger aufgehalten, als geplant.“ erklärte er entschuldigend. Die Wirtin drückte ihm noch einen halben Käselaib in die Hand, den er seiner Schwester zur Hochzeit mitbringen sollte. Der Narr dankte ihr noch einmal und nach ein paar letzten Abschiedsworten konnte sich die Gruppe endlich auf den Weg zu ihrem Boot machen. Wieder standen zwei Wachmänner am Steg, die sie freundlich begrüßten. Nachdem Tempolo die Anlegegebühr bezahlt hatte, wünschten sie der Gruppe noch eine angenehme Weiterreise. Die Taue waren schnell gelöst und die Gefährten konnten ihre Reise fortsetzen.
Nach einigen Meilen teilte sich der Fluss. Ein Nebenarm führte weiter nach Nemrai, doch die fünf folgten dem Hauptarm, der sie geradewegs in die Hafenstadt Vaal bringen würde. Das Wasser rauschte noch immer schnell dahin und trieb das Boot voran, sodass sie die Stangen lediglich nutzen mussten, um den Kurs zu halten. Wie schon am Tag zuvor herrschte ein bedrücktes Schweigen, während jeder seinen Gedanken nachhing. „Wie geht es jetzt weiter?“ durchbrach Kormenon schließlich die Stille.
„Nun, ich fürchte mit den Soldaten im Nacken ist es schwer, weit voraus zu planen.“ erwiderte Tempolo. „Unser nächstes Ziel ist natürlich Vaal. Sofern es keine Komplikationen gibt, müssten wir die Stadt in zwei bis drei Tagen erreichen. Von dort führt unser Weg die alte Straße entlang, zwischen der Kyphron-See und dem Gebirge von Kyphros direkt zum Wald, wo es uns hoffentlich gelingt das Orakel zu finden.“ „Hast du eine Ahnung was uns dort erwartet? Ich meine, dieses Orakel gilt als Legende. Wissen wir irgendetwas darüber?“ Der Narr konnte nur mit den Schultern zucken.
„Es gibt Legenden und Erzählungen.“ mischte sich nun Narani in das Gespräch ein. „Es heißt, jeder nimmt das Orakel anders wahr. Manche sehen ein Mädchen, andere eine alte Frau und wieder Anderen soll es als Schwan oder Einhorn erscheinen.“ „Was wisst ihr noch?“ hakte Tempolo nach. „Das Orakel untersteht der Göttin Lurika. Was seine Herkunft angeht, unterscheiden sich die Legenden. In manchen heißt es, das Orakel wäre aus einem Mondstrahl entstanden. Die meistverbreitete Erzählung besagt jedoch, sie sei die Tochter der Lurika, von ihr auf die Erde gesandt um jenen zu helfen, die ihrer Mutter dienen. Man sagt ihr Name sei Nerephne. Ihre Haut ist bleich wie Marmor und ihr Haar silbern wie das Mondlicht. Sie ist alterslos und streift manchmal in der Gestalt von Tieren umher. Ihre Stimme ist der Wind und nur jene können sie verstehen, die von Lurika erwählt sind. Sie lebt tief verborgen im Wald von Kyphros, im Inneren eines Labyrinths. Wenn es einem nicht bestimmt ist, sie zu finden, so geht man immer wieder irr, bis man aufgibt oder im Labyrinth den Tod findet.“
Die Anderen hatten ihren Worten fasziniert gelauscht. Tarmin brach jedoch das ehrfürchtige Staunen. „Na das sind ja schöne Aussichten.“ Seine Gefährten sahen ihn erstaunt an, mussten dann aber über die Bemerkung lachen. „Ich schätze wir müssen einfach darauf hoffen, dass Lurika uns wohlgesonnen ist.“ beschloss Kormenon. Tempolo stimmte ihm zu. „Aber ich bin sicher, sie ist uns wohlgesonnen. Schließlich haben wir eine ihrer Mondtänzerinnen bei uns.“ Alle Blicke richteten sich auf Narani, die unter der Aufmerksamkeit errötete. „Vielleicht hattet ihr ja aus genau diesem Grund das Gefühl, uns begleiten zu müssen.“ vermutete der Narr. „Ja, vielleicht. Ich schätze wir werden es herausfinden.“
„Was hat es eigentlich mit diesem Labyrinth auf sich? Soweit ich weiß, war auf der Karte nichts davon verzeichnet.“ wandte Kormenon nun ein. „Nichts genaues.“ stimmte Tempolo zu. „Die Wege durch den Wald sind insgesamt gar nicht eingezeichnet. Ich fürchte wir müssen auf unser Glück vertrauen, um das Orakel zu finden. Oder natürlich auf göttlichen Beistand.“ Wieder galt sein Blick bei diesen Worten Narani, die jedoch nichts darauf erwiderte.
Der Narr wusste noch immer nicht, was er von ihr halten sollte. Im Grunde hatte er eine sehr gute Menschenkenntnis, doch die Tänzerin war schwer zu durchschauen. Sie sprach nicht viel und schien insgesamt eher scheu. Dennoch hatte sie darauf bestanden, sich ihnen anzuschließen. Einer Gruppe Wildfremder, über die sie kaum etwas wusste, außer dass ihnen die Soldaten auf den Fersen waren. Was wohl eigentlich eher gegen sie sprach. Tempolo schüttelte unwirsch den Kopf, als könne er die Gedanken damit vertreiben. Grübeln brachte ihn nicht weiter. Er musste eben einfach abwarten. Vielleicht würde er Narani besser einschätzen können, wenn er sie ein wenig länger kannte. Schließlich waren sie erst ein paar Tage unterwegs.
***
Das Boot trieb weiter den Fluss hinunter und brachte sie ihrem Ziel langsam näher. Hin und wieder fing einer der fünf – meist Tempolo oder Tarmin – ein Gespräch an. Dazwischen jedoch war wieder jeder in seine Gedanken versunken. In nur wenigen Tagen war so viel passiert und noch konnte niemand ahnen, was noch vor ihnen lag. Dazu hatte jeder im Boot seine eigenen Gründe für diese Reise ins Ungewisse. Ihnen allen ging es darum, Prinzessin Xiarana zu retten. Kormenon musste außerdem seine Unschuld beweisen. Sowohl der Narr, als auch die Waldgeister wollten ihm dabei helfen, zumal sich die Waldgeister an seiner Situation mitschuldig fühlten. Und Narani`s Gründe konnte Tempolo noch nicht einmal erahnen.
Am späten Nachmittag rasteten sie kurz am Ufer, um etwas zu essen und ihre steifen Glieder zu bewegen. Gesprochen wurde auch hierbei wenig und schon nach kurzer Zeit drängte Tempolo erneut zum Aufbruch. Wieder glitt das Boot mit der Strömung dahin, während die Sonne langsam ihren Abstieg begann und die Schatten länger wurden. Als die Dämmerung einsetzte steuerten sie erneut das Ufer an und zogen das Boot an Land. In kurzer Entfernung konnte man den Rand eines Waldes sehen, den Kirelle als den Dorveon-Wald ausmachte. Vereinzelte Bäume standen bis ans Ufer heran und boten einen gewissen Schutz. Im Schein des Lagerfeuers waren die Decken schnell ausgerollt und Tarmin übernahm die erste Wache.
Es gab noch einige Diskussionen, doch letzen Endes einigte man sich darauf, dass er nach etwa zwei Stunden Tempolo wecken sollte. Dieser würde dann ebenfalls zwei Stunden Wache halten, um anschließend von Kormenon abgelöst zu werden. Der junge Soldat hatte vehement darauf bestanden, nicht geschont zu werden und zumindest die letzte und damit einfachste Wache zu übernehmen. Als es an der Zeit war, ihn zu wecken, dachte Tempolo kurz darüber nach, es nicht zu tun, sondern die verbleibenden zwei Stunden auf sich zu nehmen. Doch Kormenon war stolz und würde ihm sicher nicht so schnell vergeben. Also schlich er zu dessen Bettrolle und rüttelte ihn vorsichtig an der Schulter.
Der junge Soldat blinzelte ihm verständnislos entgegen, schien dann aber gleich zu begreifen, warum er geweckt wurde. Seufzend schälte er sich aus seinen Decken, was den Narren dazu brachte vorsichtig zu fragen: „Soll ich vielleicht...“ weiter kam er jedoch nicht, denn Kormenon fiel ihm ins Wort. „Nein, leg dich hin und schlaf ein bisschen. Es geht mir gut.“ Tempolo neigte resigniert den Kopf und schlich zu seiner eigenen Decke. Mit Kormenon zu streiten hatte keinen Sinn.
Dieser nahm nun auf einem umgestürzten Baumstamm Platz und sah hinaus auf den Fluss. Innerlich verfluchte er sich selbst für seine Starrköpfigkeit. Er war müde, er fror und seine Rippen begannen auch wieder zu schmerzen. Doch er konnte das Gesagte nicht zurücknehmen. Zudem hörte er Tempolo vom Lager her bereits leise schnarchen. Sie waren alle erschöpft und der Narr hatte Schlaf genauso nötig wie er. Kormenon`s Blick glitt hinauf zur hellen Mondscheibe, während seine Gedanken den gleichen Weg einschlugen, wie schon den ganzen Tag.
Doch während des Tages hatten ihn seine Gefährten immer wieder aus den Grübeleien gerissen. Jetzt gab es keine Ablenkung und er fragte sich ein weiteres Mal, warum sein Leben so aus der Bahn laufen muste. Wie glücklich war er damals gewesen, als Graf Varash ihn in die Sterngarde berufen hatte. Sein Traum war wahr geworden. Doch leider hatte er sich sehr schnell zum Alptraum entwickelt. Seine Kameraden und sogar der Hauptmann verachteten ihn, anstatt ihn zu akzeptieren. Voril war der einzige Freund, den er in der Garde hatte. Und der Ältere hatte seinetwegen nur Probleme gehabt. Kormenon`s Freunde aus der Kindheit hatten sich von ihm abgewandt und gaben vor, ihn nicht mehr zu kennen.
Mit seinen Kameraden aus der Ausbildungszeit war es das Gleiche. Die Einzigen, die ihm geblieben waren, waren Tarmin und Kirelle. Er kannte die beiden fröhlichen Waldgeister seit etlichen Jahren und hatte als Junge so manches mit ihnen erlebt. Kirelle hatte ihn das Jagen und Spurenlesen gelehrt und Tarmin war mit ihm auf Bäume geklettert oder im See geschwommen. Während seiner Ausbildung zum Soldaten hatte er dann Tempolo kennengelernt. Die Anderen hatten den Hofnarren nie richtig ernst genommen, doch Kormenon hatte hinter die Fassade geblickt und einen ebenso klugen wie freundlichen Mann gefunden.
Mit dem die Liste seiner Freunde aber auch schon endete. Völlig in seine trübsinnigen Gedanken versunken, merkte Kormenon nicht, wie sich ihm jemand näherte. Erst als er eine Hand auf seiner Schulter spürte, sprang er erschrocken auf. Erleichtert erkannte er Narani, die sich sofort entschuldigte. „Bitte verzeih, ich wollte dich nicht erschrecken.“ „Schon gut. Ich war unachtsam. Was eigentlich nicht vorkommen darf, während man Wache hält.“ schalt er sich selbst. „Sei nicht so streng mit dir. Du hast viel durchgemacht in den vergangen Tagen.“
Kormenon seufzte und setzte sich wieder auf den Baumstamm. „Warum bist du schon wach?“ wechselte er das Thema. Narani zuckte mit den Schultern und ließ sich neben ihm nieder. „Ich weiß nicht. Irgendwie lassen mich meine Gedanken nicht zur Ruhe kommen.“ „Und woran denkst du?“ „An das was hinter uns liegt. Und daran, was vielleicht noch vor uns liegen mag.“ Kormenon zögere einen Augenblick, bevor er doch die nächste Frage stellte. „Warum bist du mit uns gekommen?“ Sie antwortet mit einer Gegenfrage. „Hattest du jemals das Gefühl, etwas einfach tun zu müssen, ohne dass du den Grund dafür nennen konntest?“ „Ich glaube ich weiß was du meinst.“
Er wusste nicht, was er sonst noch sagen sollte und auch Narani schwieg. Als er zu ihr hinübersah, erkannte er, dass sie über den Fluss ins Leere starrte. Sie schien in Gedanken versunken zu sein, also nutzte er die Gelegenheit, um sie einmal ungestört zu betrachten. Die Tänzerin war eine Schönheit, das konnte man nicht verleugnen. Ihr langes dunkles Haar und ihre braunen Augen, die beinah sehnsüchtig in die Ferne blickten, ließen sie wie ein Geschöpf aus den alten Mythen erscheinen. Sie schien stets von einer stillen Melancholie umgeben. So völlig anders als seine Prinzessin, die immer ein Lächeln auf den Lippen und ein freundliches Wort für Jeden hatte. Sie waren wie Tag und Nacht und Kormenon fragte sich plötzlich, warum er die Beiden miteinander verglich.
In dem Versuch diese Gedanken zu verscheuchen nahm er das Gespräch wieder auf. „Vermisst man dich nicht im Tempel?“ Das Mädchen gab keine Antwort und schien ihn gar nicht gehört zu haben. Als Kormenon jedoch erneut fragen wollte, meinte sie plötzlich: „Die Meisten werden noch nicht einmal bemerkt haben, dass ich nicht da bin.“ „Läuft man sich im Tempel so selten über den Weg? Er schien mir nicht so gewaltig zu sein, dass das Verschwinden einer Person nicht auffallen würde.“ Sie wandte sich endlich vom Fluss ab und sah ihn an. Ihr Blick war traurig und sie erschien in diesem Moment unglaublich zerbrechlich. „Ich bin für den Tempel nicht wichtig. Es spielt keine Rolle, ob ich dort bin oder nicht. Die Anderen bemerken mich kaum, wenn sie mir begenen. Wie sollen sie dann bemerken, wenn ich nicht da bin?“
Kormenon war sprachlos, doch sie schien auch keine Antwort zu erwarten. Sie hatte den Kopf gen Osten gewandt, wo die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne den Himmel orange färbten. „Es wird Zeit für den Morgengruß.“ Mit diesen Worten erhob sie sich, um zum Fluss zu gehen, als die Stimme des Soldaten sie noch einmal zurückhielt. „Was ist mit deinen Freunden? Vermissen sie dich nicht?“ „Welche Freunde?“ war alles, was Narani darauf erwiderte, bevor sie ans Ufer ging, um die Sonne zu begrüßen.
Kormenon beobachtete sie schweigend. Er hatte einiges über sie erfahren und glaubte so langsam, sie zu verstehen. Sie schien einsam und traurig, beinahe zerbrechlich, aber dennoch stark. Plötzlich fühlte er den Drang, sie beschützen zu müssen. Mehr als alles andere wollte er sie lächeln sehen. Er konnte sich nicht erklären, warum er sich mit diesem stillen Mädchen so verbunden fühlte. Vielleicht lag es daran, dass sie wohl mehr gemeinsam hatten, als man auf den ersten Blick vermuten mochte.
Ob sie davon geträumt hatte eine Mondtänzerin zu werden, so wie er von Kindesbeinen an von der Sterngarde geträumt hatte? Vielleicht war auch für sie der große Traum durch seine Erfüllung zum Alptraum geworden. Er nahm sich vor, sie danach zu fragen, wenn sich wieder Gelegenheit bot. Nun musste er jedoch seine übrigen Gefährten wecken. Während die Sonne langsam höher stieg wurde gefrühstückt und das Lager abgebrochen. Keine Stunde später waren sie schon wieder unterwegs.
***
Abermals glitt das Boot mit der Strömung dahin. Nach einiger Zeit holte Tempolo die Karte aus seiner Tasche und faltete sie auseinander. „Wenn die Strömung nicht nachlässt müssten wir Vaal bis Einbruch der Dämmerung erreichen.“ meinte er zuversichtlich. Kormenon beugte sich nun ebenfalls über die Karte. „Es sieht ganz danach aus.“ stimmte er dem Narren zu. „Dann müssen wir nur noch ein Nachtquartier finden.“ „Das ist keine Schwierigkeit.“ mischte sich nun Kirelle ein. „Dernam, ein alter Freund von Tarmin und mir, betreibt dort eine Gaststätte. Er findet sicher noch einen Platz für uns.“ Tempolo nickte zufrieden.
„Gut, eine Sorge weniger. Dann verbringen wir die Nacht in seiner Gaststätte. Am nächsten Morgen können wir noch einmal unsere Vorräte aufstocken. Dann lassen wir das Boot zurück und gehen zu Fuß weiter.“ Die Anderen stimmten seinem Plan zu. Keiner erwähnte die Bedrohung durch die Soldaten, die sicher nicht so leicht aufgeben würden. Sie alle waren sich dieser Bedrohung bewusst, auch ohne es laut auszusprechen. Der Narr packte die Karte wieder weg und fragte die Waldgeister nach Dernam. Auf ihren alten Freund angesprochen begannen die Beiden sofort eine begeisterte Erzählung, wobei sie sich ständig gegenseitig ins Wort fielen. Tempolo, der dieses Verhalten längst gewohnt war, hörte ihren Ausführungen belustigt zu. Auch Kormenon amüsierte sich sonst immer gern über das Gebaren seiner Freunde.
Heute jedoch schenkte er ihnen keine Aufmerksamkeit. Der Blick auf die Karte hatte ihm gezeigt welch ein langer Weg noch vor ihnen lag. Wer vermochte zu sagen, wann sie das Orakel erreichten. Und ob sie es überhaupt erreichen würden. Er dachte an das Gespräch mit Narani zurück und seine Augen suchen die schlanke Gestalt des Mädchens. Sie wandte ihm den Kopf zu, als hätte sie seinen Blick gespürt und er rückte ein Stück näher an sie heran. „Glaubst du wir werden das Orakel tatsächlich finden?“ „Ja, das glaube ich.“ antwortete sie ohne zu Zögern. „Wie kannst du so sicher sein?“ „Ich vertraue auf meine Göttin und .. auf das Schicksal.“
„Das Schicksal.“ wiederholte Kormenon leicht skeptisch. „Schön, wenn wenigstens du Vertrauen hast.“ Beide waren so in ihr Gespräch vertieft, dass sie nicht bemerkten, wie der Narr sie beobachtete. Mit einem Lächeln auf den Lippen überlegte Tempolo, dass Narani`s Motive für diese Reise vielleicht doch nicht so geheimnisvoll waren, wie er anfangs geglaubt hatte. Die Art, wie sie zu Kormenon aufsah, ließ zumindest gewisse Vermutungen zu. Kopfschüttelnd wandte er sich schließlich von den Beiden ab und bemühte sich, der Erzählung von Tarmin und Kirelle zu folgen.
Diese zog sich allerdings ziemlich in die Länge. Dernam war ein wirklich alter Freund und Waldgeister legten immer sehr viel Wert auf Details. Tempolo bekam einen genauen Überblick über Dernam`s Jugendzeit, seine Erfolge als Jäger und seine Misserfolge, was Mädchen anbetraf. Besonders zu diesem Thema konnten die beiden Waldgeister einige Anekdoten erzählen. Schließlich hatte Dernam aber wohl doch ein Mädchen gefunden und geheiratet. Er war mit ihr nach Vaal umgezogen und hatte dort letzten Endes die Gaststätte ihres Vaters übernommen.
Als Tarmin und Kirelle ihre Erzählung endlich beendet hatten, stand die Sonne bereits hoch am Himmel. Der nahende Sommer kündigte sich mit stetig steigenden Temperaturen an, die den fünf Gefährten zunehmend zu schaffen machten. Die Bäume des Dorveon-Waldes hatten eine gewisse Zeit für etwas Abkühlung gesorgt, doch inzwischen war der Wald so weit vom Ufer zurückgetreten, dass die Schatten den Fluss nicht mehr erreichten. Tempolo wischte sich zum wiederholten Male den Schweiß von der Stirn. Schließlich brach er das Schweigen, das sich einmal mehr über die Reisenden gelegt hatte.
„Vielleicht sollten wir eine kurze Rast einlegen. Wir kommen gut voran, da können wir uns sicher ein paar Minuten Abkühlung gönnen.“ Sein Vorschlag wurde natürlich begeistert angenommen, also steuerte er das Boot ein weiteres Mal auf das Ufer zu. Kormenon half ihm dabei, es ein Stück weit an Land zu ziehen, bevor sie den anderen folgten, die sich bereits unter den Bäumen niedergelassen hatten. Das Mittagessen wurde wieder einmal schweigend eingenommen. Keinem der fünf schien der Sinn großmächtig nach Unterhaltung zu stehen.
Jeder hing seinen eigenen, mehr oder weniger düsteren, Gedanken nach, bis plötzlich der spitze Schrei eines Falken die Stille durchbrach. Kirelle sprang sofort auf und reckte Skrill den Arm entgegen, damit dieser sich darauf niederlassen konnte. Wie schon im Tempel schien sie eine kurze Unterhaltung mit dem Greifvogel zu führen. Schließlich streichelte sie ihm ein paarmal zärtlich über die Brust, bevor er sich wieder in die Lüfte schwang und mit einem weiteren Schrei über den Wald hinweg verschwand. Kirelle kehrte zu ihren Gefährten zurück, die schon angespannt auf ihre Nachricht warteten. „Die Soldaten haben Vaasq passiert und sind in Richtung Nemrai weiter geritten. Sie haben die Stadt vor einer Stunde in südlicher Richtung verlassen.“
„Dann reiten sie nach Vaal.“ schlussfolgerte Tempolo. Kormenon nickte zustimmend. „Bei diesem Tempo werden sie die Stadt in spätestens drei Tagen erreichen. Wir haben nicht viel Vorsprung.“ „Der bald noch kleiner wird, wenn sie weiterhin zu Pferde unterwegs sind und wir zu Fuß.“ beendete der Narr den Gedankengang des Soldaten. „Wir sollten aufbrechen. Je früher wir Vaal erreichen, desto besser.“ Niemand erhob Einwände, sodass sie das Boot kurz darauf erneut in die Flussmitte steuerten. „Haben wir überhaupt noch eine Chance ihnen zu entkommen?“ sprach Kormenon nach einiger Zeit seine Befürchtungen aus. „Oder ist es nur eine Frage der Zeit bis sie uns erwischen?“
Tempolo wusste keine Antwort. Gerne hätte er den Jüngeren beruhigt, doch realistisch betrachtet standen ihre Chancen mehr als schlecht. Es war Narani, die das Wort ergriff und damit die Blicke der anderen auf sich zog. „Es gibt immer eine Chance. Solange wir nicht aufgeben. Natürlich liegen ein schwerer Weg und sicher auch viele Gefahren vor uns, aber wenn wir zusammenhalten, können wir alles meistern.“ Sie sprach voller Überzeugung und auch ihr entschlossener Blick ließ keinen Zweifel daran, dass sie jedes Wort ernst meinte. Tempolo war beeindruckt von dieser Stärke, die man dem stillen Mädchen so gar nicht zutraute.
Sie wirkte so scheu und beinah zerbrechlich, doch sie hatte Mut und in diesem Augenblick erinnerte sie ihn ein wenig an Prinzessin Xiarana. Auch wenn er sie noch immer nicht einschätzen konnte, so hatte er doch mittlerweile Vertrauen zu der Tänzerin gefasst. „Narani hat Recht.“ erklärte er deshalb. „Wir haben eine Chance, auch wenn sie gering sein mag. Wir müssen sie nur nutzen.“ In Gedanken begann er bereits Pläne zu schmieden, was den Waldgeistern nicht verborgen blieb.
„Was hast du vor?“ wollte Tarmin wissen. Der Narr holte die Karte hervor und breitete sie aus. Während sich die Anderen so gut es auf dem beengten Raum ging, darüberbeugten, begann er zu erklären. „Die Soldaten werden Vaal spätestens zwei Tage nach uns erreichen. Womöglich schon früher. Solange wir uns nicht selbst verraten, wissen sie jedoch nicht, wo wir hinwollen. Also werden sie nach der wahrscheinlichsten Route suchen, die wir einschlagen können. Welche wäre das?“ Kormenon zeigte auf die Karte. „Der Harras-Wald wäre wohl die wahrscheinlichste Route. Würden wir fliehen wollen, könnten wir uns von dort zum Hafen von Arruhn durchschlagen und ein Schiff suchen, dass uns über das südliche Meer bringt. Andererseits ist dieser Weg schon beinah wieder zu offensichtlich und würde uns wohl auch zu nah an Burg Harram heranführen. Sie werden darum wahrscheinlich annehmen, wir wollen in Richtung Norden über die Terkash-Ebene. Das Gebiet liegt außerhalb der Grenzen Erials und bietet viele Möglichkeiten, sich zu verstecken.“
Tempolo nickte. „Du hast Recht. Aber werden sie alle nach Norden reiten oder sich aufteilen? Könnten sie auf die Idee kommen ein paar Mann nach Kyphros zu schicken?“ „Ich bin nicht sicher, aber es wäre möglich.“ Beide Männer sahen sich an und dachten das Gleiche. Es wäre ein Glücksspiel, auf das sie sich wohl oder übel einlassen mussten. Kirelle schien jedoch anderer Meinung. „Wenn sie nach Kyphros reiten, welchen Weg werden sie nehmen?“ „Den gleichen Weg wie wir. Die große Straße am Kyphron-See entlang, vorbei an den Ausläufern des Gebirges.“ Der Narr schien nicht zu wissen, worauf die Waldgeist-Dame hinauswollte. „Dann müssen wir eben einen anderen Weg einschlagen.“
"Und welchen Weg schlägst du vor?“ „Den Weg, den sie am wenigsten erwarten, natürlich. Wir gehen durch das Gebirge.“ Ihre Begleiter sahen sie sprachlos an. Kormenon war der Erste, der sich wieder erholte. „Das ist nicht dein Ernst. In diesem Gebirge wimmelt es vor Gefahren.“ Doch Kirelle blieb unbeeindruckt. „Und welche Gefahren sind das genau?“ „Wetterschwankungen, Erdrutsche, Klüfte...“ begann der Soldat aufzuzählen. „Gulwar.“ ergänzte Tempolo und sorgte mit diesem einen Wort erneut für Stille, bevor er sich direkt an die Waldgeist-Dame wandte:“ Die anderen Gefahren, wie Klüfte oder das Wetter mögen sich kalkulieren und vielleicht umgehen lassen. Aber du kannst mir nicht erzählen, dass du die Wölfe Rivinikans nicht fürchtest.“ „So töricht bin ich nun wirklich nicht. Aber auch sie sind eine kalkulierbare Gefahr. Sie sollen bei Tage schlecht sehen und sich frühzeitig durch ihr Geheul ankündigen.“
Doch der Narr widersprach ihr erneut. „Das sind Behauptungen und Legenden. Es gibt keine Berichte von Zeugen, die tatsächlich einem Gulwar gegenüber standen und diese Begegnung überlebt hätten, um davon erzählen zu können.“ Darum bemüht den Streit zu schlichten mischte sich nun Tarmin ein. „Ihr habt beide Argumente, aber so werden wir zu keinem Ergebnis kommen. Gefahren lauern auf jedem Weg. Wir können nur entscheiden, welche Gefahr wir wählen – die Gulwar oder die Soldaten. Ich für meinen Teil bin der Meinung, dass man eigentlich fast jedem Angriff durch ein Tier entgehen kann, wenn man sich nicht allzu dumm anstellt. Warum sollten die Gulwar eine Ausnahme sein? Aregor hingegen wird uns sicher nicht zuhören.“
„Ich glaube, ich würde mich lieber mit den Gulwar anlegen, als mit Aregor und den Soldaten.“ meldete sich Kormenon zu Wort. „Du wählst die Gulwar?“ fragte Tempolo schockiert. „Ja. Besser von einem Wolf gefressen, als von den Soldaten gefangengenommen und eingesperrt oder hingerichtet für eine Tat, die ich nicht begangen habe.“ „Ich schätze du hast Recht.“ gestand der Narr seufzend ein. „Die Meinung der Waldgeister kennen wir bereits. Was denkst du?“ fragte er Narani. „Wir sollten durch das Gebirge gehen.“ „Dann ist es also entschieden.“ gab sich der Narr geschlagen. Er steckte die Karte wieder in seine Tasche und stellte erstaunt fest, dass die Sonne ein beträchtliches Stück weitergewandert war, während sie diskutiert hatten.
Der Flusslauf war hier sehr gerade und man konnte in der Ferne bereits vage die Umrisse der Stadt Vaal erkennen. Tempolo überlegte, seine Gefährten darauf aufmerksam zu machen, ließ es dann aber doch sein. Sie alle schienen einmal mehr in Gedanken vertieft. Kirelle wirkte entschlossen, während Tarmin ein wenig unsicher schien. Kormenon`s Miene konnte der Narr nicht deuten. Sein Blick glitt weiter zu Narani, die geistesabwesend auf das Wasser starrte. Sie hatte ihre Entscheidung als Einzige nicht begründet. Er würde dieses Mädchen wohl nie verstehen. Doch seltsamerweise vertraute er ihr mittlerweile. Sie standen auf der selben Seite. Daran zweifelte er keine Sekunde.
***
Sie erreichten Vaal bei Einbruch der Dämmerung. Die alte Handelsstadt beeindruckte Tempolo, der nun schon mehrere Male hier gewesen war, immer wieder aufs Neue. Der Flusslauf führte mitten durch das Zentrum der Stadt und teilte sich dann in zwei Nebenarme, von denen einer im See Vaalis und der andere im Kyphron-See mündete, sowie einen Hauptarm, der am Harras-Wald vorbei zum südlichen Meer führte. Auf dem Weg in die Stadt fuhren die Boote direkt unter der großen Wachhalle hindurch, die auf mächtigen Pfeilern ins Wasser gebaut war und den Fluss wie eine Brücke überspannte. Kaum hatte man diesen Durchgang passiert, war man schon in der Stadt, deren prächtige Häuser links und rechts des Flusses erbaut waren.
In unregelmäßigen Abständen führten geschwungene Brücken über das Wasser und verbanden so die beiden Ufer. Dazwischen gab es Anlegestellen mit zahlreichen Booten. Die Fortbewegung in der Stadt erfolgte zum größten Teil über das Wasser, wofür sogar einige kleinere, künstliche Kanäle angelegt worden waren. Die Wasserstadt, wie Vaal häufig genannt wurde, strahlte eine stille Faszination aus, der sich kein Besucher entziehen konnte. So waren auch Kormenon und seine Gefährten gefesselt von dem Anblick, der sich ihnen im letzen Licht der Abendsonne bot. Auf den Stegen und in den Gassen wurden nun Lampen entzündet, die flackernde Schatten auf das Wasser warfen.
Der Fluss trieb das Boot langsam voran, während Kormenon und Tempolo die Stangen noch immer hauptsächlich dazu nutzten, den Kurs zu halten. Kirelle dirigierte sie zu einem Steg auf der linken Seite des Flusslaufs, hinter dem ein großes Gebäude aufragte. Das Gasthaus war, wie alle Häuser von Vaal, aus sehr hellem, bläulichem Stein erbaut. Es hatte ein großes, schmiedeeisernes Eingangstor und Erker zu beiden Seiten. Die Reisenden befestigten das Boot und betraten dann, angeführt von den beiden Waldgeistern, die Gaststube.
Sofort schlug ihnen Wärme entgegen und man hörte Gespräche, Gelächter und leise Musik. In der Stube waren Lampen entzündet, die alles in ein warmes Licht tauchten, die Wände waren mit bunten Teppichen und Wandbehängen geschmückt und auch der Steinboden war mit Teppichen ausgelegt. Der Raum war gefüllt mit langen Bänken und Tischen, an denen fröhlich gegessen, getrunken und geredet wurde. In einer Ecke bemühten sich zwei Männer mit Geige und Laute den allgemeinen Lärm zu übertönen, was ihnen allerdings nur mäßig gelang. Die hintere Wand wurde von einer großen Holztheke eingenommen, hinter der ein wahrer Hüne von Mann stand. Er hatte dichtes schwarzes Haar, einen langen Bart und buschige Augenbrauen.
Als er die Neuankömmlinge entdeckte, kam er sofort auf sie zu. „Na sieh mal einer an, was der Fluss hereingespült hat. Solchen Besuch hat man selten.“ Er lachte, was seinen runden Bauch hüpfen ließ und die Waldgeister beeilten sich, ihren alten Freund zu begrüßen. „Das ist Dernam.“ erklärte Kirelle schließlich überflüssigerweise. „Und das sind unsere Freunde, Tempolo, Kormenon und Narani.“ „Kommt und setzt euch. Freunde sind immer willkommen.“ Dernam schüttelte seinen Gästen die Hand, wobei Kormenon eher das Gefühl hatte, man wolle ihm den Arm ausreißen und führte sie dann zu einem etwas ruhiger gelegenen Tisch nahe der Theke. „Ermeke, bring fünf Schüsseln von deinem Eintopf und ordentlich Brot dazu!“ rief er in Richtung Küche und setzte dann noch hinzu: „Und einen Krug Wein!“
„Oder wollt ihr lieber Met?“ wandte er sich wieder an seine Gäste. „Wein.“ bestellte Tarmin. „Bei Dernam gibt es den besten Wein im gesamten Königreich.“ Der Wirt lachte wieder und erklärte dann, dass der Waldgeist wie immer übertreiben würde. „Ah, da kommt ja auch schon meine Ermeke mit eurem Essen. Sieh nur, wer uns endlich mal wieder besucht, meine Liebe.“ Dernam`s Frau war groß und schlank, mit kurzen blond gelockten Haaren und einem strengen Blick.
Sie begrüßte die Reisenden höflich, aber distanziert. Mit ihrer kühlen Art bildete sie eine starken Gegensatz zu ihrem fröhlichen Ehemann, der seinen Gästen nun einen guten Appetit wünschte und dann hinter die Theke zurückkehrte. Ermeke brachte noch den bestellten Wein und verschwand ohne ein Wort wieder in die Küche. Die fünf Gefährten widmeten sich erst einmal ihrem Essen und beobachteten dann eine Weile das bunte Treiben.
An einem der Tische saß eine Gruppe junger Frauen, die sich vergeblich darum bemühten, Kormenon`s Aufmerksamkeit zu erregen. Der junge Soldat sah den beiden Musikern zu, die noch immer vergeblich gegen den Lärm anspielten und schien die Frauen nicht einmal zu bemerken. Ein Stück weiter zankten sich zwei Betrunkene darum, ob es nun Unglück bringen würde, wenn man eine Reise an einem Sonntag oder an einem Freitag begann, während eine Gruppe Männer an einem Tisch Karten spielte und lautstark darüber stritt, wer von ihnen schon wieder betrog.
„Wir sollten früh zu Bett gehen. Ich möchte morgen zeitig aufbrechen.“ durchbrach Tempolo schließlich das Schweigen. Tarmin winkte Dernam heran. „Das Essen war großartig und wir würden gerne noch ein wenig plaudern, aber wir sind leider müde von der langen Reise. Hast du ein paar Zimmer für uns frei?“ „Für euch doch immer. Im ersten Stock ist genug Platz.Kommt mit, dann gebe ich euch gleich die Schlüssel.“ Sie folgten dem Wirt, der ihnen die Schlüssel aushändigte und erklärte, wo die Zimmer lagen. Die fünf wünschten ihm eine gute Nacht und gingen dann nach oben. Nach einer kurzen Besprechung wurde vereinbart, dass Tempolo seine Gefährten am nächsten Morgen wecken sollte. Mit diesem Beschluss fiel schließlich jeder in sein Bett.