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Die Welt an einem Angelhaken: Ein hawaiianischer Schöpfungsmythos

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Der französische Schriftsteller und Philosoph Paul Valéry erzählt, dass er einmal bei einem Spaziergang am Strand eine Meeresschnecke im Sand entdeckte, deren wie aus sich selbst gewachsene Gestalt und Schönheit ihn zu einem längeren Essay über die Ästhetik in der Natur anregten. Die Schnecke selbst warf der Autor wieder ins Meer zurück: Sie war nur eine unter Unzähligen ihrer Art und hatte in seinen Augen ihren Zweck erfüllt. Als Leser mag man diese Handlung bedauern: Wir alle kennen solche alltäglichen Gegenstände – Reisemitbringsel wie eine Muschel, in der das Rauschen des Meeres zu hören ist, oder ein auffallend gezeichneter Stein, den wir bei einer Bergwanderung auflesen, ein unbedeutend scheinendes kleines Geschenk, das uns von einem nahestehenden Menschen gemacht wurde. Solche Gegenstände entfalten dank der Geschichten, die sie begleiten, ein Eigenleben, werden beinahe als lebendig wahrgenommen, wie die Erinnerungen, mit denen sie verknüpft sind und die sie gleichsam in sich tragen. Auch wenn wir wissen, dass es zahllose ähnliche Steine oder Muscheln gibt, so sind es doch der bestimmte, einzelne Stein und die konkrete Muschel, denen wir uns verbunden fühlen und an denen unser Herz hängt.

Es gibt aber auch den umgekehrten Fall, in dem die Mitglieder einer größeren Gemeinschaft an einem Gegenstand in vielerlei Ausführungen und verschiedenen Formen hängen, der für alle gleichermaßen von grundsätzlicher, wesentlicher, ja existenzieller Bedeutung ist. Solch ein Gegenstand ist in der Inselwelt der Südsee der Angelhaken, konkret: der Angelhaken des mythischen Kulturheros Maui. Dieser Angelhaken stammt aus Hawaii, jener Inselgruppe, von der aus sich der reiche Legendenkreis um Maui weit über den Pazifik hin verbreitet hat. Es ist ein gewöhnlicher, kaum hundert Jahre alter Angelhaken wie unzählige seiner Art, die in der Inselwelt der Südsee bis heute im Gebrauch sind und mit denen sich die Menschen dieser Region in einer besonderen Beziehung persönlich verbunden fühlen.

Der Pazifik, der bei Weitem nicht so friedlich ist, wie sein Name nahelegt, den ihm der westliche Entdecker Magellan bei der ersten Durchquerung 1422 gab, bedeckt ein Drittel der Erdoberfläche. Zu seinem Raum gehört eine große Zahl meist kleiner Inseln und Inselgruppen, darunter Hawaii als einer der östlichen Vorposten. Besiedelt wurde die pazifische Inselwelt von Nordwesten her, beginnend vor circa 35.000 Jahren, als man wegen des damals niedrigen Meeresspiegels fast trockenen Fußes vom asiatischen Festland zu den vorgelagerten Inseln Ost- und Südostasiens – den Philippinen, Japan, Indonesien, Neuguinea und Australien – gelangen konnte. Zwischen 1000 vor und 1000 n. Chr. folgte eine zweite große Besiedlungswelle mit Booten, welche die Region bis Polynesien erfasste und deren Siedler die bis heute dort lebendige Kultur schufen. Die gemeinsame Lebensgrundlage bilden der Anbau von Sago und Taro, die Nutzung der Kokospalme sowie vor allem der Fischfang, basierend auf einer vielfältigen Bootsbautechnologie und einer hoch entwickelten Navigationskenntnis. Letztere waren die Voraussetzungen für die frühen Entdeckungsfahrten über Tausende von Kilometern hinweg ins buchstäblich Unbekannte. Die Bootstypen wie Auslegerboote oder Segel- und Ruderboote variierten je nach Region oder Zweck und zeichneten sich durch präzise aufeinander abgestimmte, verfugte Planken aus. Die Herstellung der Boote war Aufgabe der gesamten Dorfgemeinschaft und an rituelle Vorschriften gebunden: Die Bootsbauer mussten sich vorübergehend absondern, und bestimmten Mitgliedern der Gruppe waren einzelne Tätigkeiten vorbehalten. Bevorzugte Ornamente bei der Bemalung der Außenwände waren verschiedenfarbige kreisrunde Scheiben und Bogenmuster sowie „Augen“ an Bug und Heck, die das Boot vor fremden Einflüssen und bösen Dämonen schützen, aber auch den Blick in die Ferne weiten sollten. Dazu konnten sich Bänder mit eigentümlichen Figuren in der Art von Strichmännchen gesellen, die mythische Ahnen darstellten. Sie begleiteten das Boot und seine Besatzung auch als kleine Holzskulpturen mit Federschmuck an Bug und Heck und stellten das Gefährt unter ihren besonderen Schutz. Vielfältig sind auch die Methoden des Fischfangs in der Region – es gibt Netze, Reusen, Speere, Harpunen und Giftpflanzen, die die Fisch betäuben, oder auffallende, für uns ungewohnte Techniken wie die des traditionellen Drachenfischfangs: Von einem Boot wird ein in der Luft fliegender Drachen aus Stoff gezogen, an dem ein Köder hängt, nach dem die Fische schnappen sollen.

Die allgemein übliche und am weitesten verbreitete Methode ist das Fangen der Fische mit dem Angelhaken. Der Ursprungsort des kaum zehn Zentimeter langen südseetypischen Angelhakens ist Hawaii, das mit Neuseeland und der Osterinsel ein riesiges Dreieck mit vielen Inseln (griechisch poli nesoi) beschreibt, die Polynesien den uns geläufigen Name gegeben haben. Diese fast zahllosen Inseln und Inselgruppen sind auch die Heimat von Maui, dem „Trickreichen“, dem mythischen Helden und Kulturschöpfer, dessen herausragende Taten in Legenden erzählt werden, die nicht selten mit dem Angelhaken verbunden sind. Die mündlich überlieferten Geschichten und ihre Widerspiegelung in der alltäglichen Lebenswelt prägen bis heute die traditionelle Kultur Polynesiens. Schon als Kind zeichnete sich Maui durch die Anwendung häufig undurchsichtiger Tricks aus, die ihn, wie seine erotischen Abenteuer als Erwachsener, zum leicht anrüchigen Außenseiter der Gemeinschaft machten. Vor diesem Ruf konnten ihn selbst seine speziellen Fähigkeiten, in allen Fischzügen besonders viele und große Exemplare erbeuten zu können, nicht bewahren.

In einer der Geschichten wird berichtet, dass Maui immer wieder mit seinen Brüdern zum Fischfang hinausfahren will, diese sich aber aus Angst vor seinen magischen Kräften dagegen wehren. Die Menschen scheuen sich davor, mit ihm zu eng in Berührung zu kommen, gar mit ihm in einem Boot zu sitzen. Also bleibt Maui tatenlos zu Hause, faulenzt und wird von den Frauen als Nichtsnutz hingestellt; immerhin schnitzt er einen Angelhaken aus einem Kieferknochen. Eines Nachts, als ihm dieses lächerliche Spiel zu dumm wird, klettert er in das Boot der Brüder und versteckt sich darin. Erst auf hoher See merken die Brüder, dass Maui mitgekommen ist, können ihn allerdings nun nicht einfach wieder loswerden. Es gelingt Maui, seine Brüder davon zu überzeugen, weiter als üblich aufs Meer hinauszufahren. Dort gäbe es viel reichere Fischgründe als die ihnen bisher bekannten. Und so segeln sie hinaus, immer weiter ins Unbekannte, bis Maui schließlich sagt: „Hier werfen wir unsere Angeln aus.“ Und in der Tat: Der Fang, den die Brüder einholen, sprengt alle ihre Erwartungen. Als sie umkehren wollen, hält Maui sie zurück; auch er will seine Angel auswerfen. Er lässt die Schnur ins Meer hinabsinken, immer tiefer und tiefer, bis zum Meeresgrund. Dann zieht er mit aller Macht, zieht und zieht, bis schließlich sein Fang an die Oberfläche kommt: Es ist ein riesiges Stück Erde, ein gigantischer Klumpen, der sich zu einer Insel verfestigt; sie wird eine der Inseln Hawaiis, die bis heute existiert und seinen Namen trägt.

Damit ist es aber nicht genug. Maui wirft ein zweites Mal seine Angel aus, und ein riesiger Fisch beißt an, der das Boot fast zu sprengen droht. Glücklich kehren die Brüder zurück in ihren Heimathafen, wo es ein großes Hallo gibt und alle begeistert sind. Maui warnt die Dorfbewohner: „Der große Fisch darf nicht einfach so verzehrt werden, sondern muss nach rituellen Regeln zerteilt werden.“ Kaum dreht er sich um und geht weg, stürzen sich seine Brüder auf den riesigen Fisch, zerteilen ihn und wollen ihn gleich aufessen. Darauf erwacht der Fang, der nicht nach ritueller Vorschrift getötet wurde, wieder zum Leben, fängt an, mit seinem Schwanz hin und her zu schlagen und kehrt die vordem flach gewölbte, glatte Insel von unten nach oben: Berge türmen sich auf, in die tiefe Schluchten gekerbt werden, und die Ufer werden in steile Kliffs gebrochen. Das Ergebnis ist die Insel in ihrem gegenwärtigen Zustand, wie sie die jetzt lebenden Menschen kennen.

Ist erst einmal der feste Boden unter den Füßen gesichert, stellen sich weitere Fragen, warum die Natur, die uns umgibt so beschaffen ist, wie wir sie vorfinden? Etwa was es mit dem Licht auf sich hat? Zwar schien seit Urzeiten die Sonne, aber in den Augen von Maui waren die Tage viel zu kurz: Denn kaum war sie am Morgen aufgegangen, schien sie auch schon wieder ins Meer hinabzufallen. Und er forderte, „wir brauchen längere Tage zum Arbeiten, um ausreichend für unser Essen zu sorgen.“ Wiederum fährt Maui mit den sich sträubenden Brüdern hinaus aufs Meer, mit dem Plan, den Lauf der Sonne zu verlangsamen. Es geht gegen Osten, weiter und weiter ins Unbekannte – nicht anders als bei den Fahrten von einer Insel zur nächsten während der Landnahme der Südseeinseln in der realen Geschichte. Die Brüder gelangen ans Ende der Welt, an einen Abgrund, aus dem die Sonne tagtäglich emporsteigt. Maui lässt seine Brüder eine Falle aus Flachs herstellen und lehrt sie bei dieser Gelegenheit die Fertigkeit, Taue zu knüpfen und flechten: Vierkanttaue, runde Taue, flache Taue. Daraus macht er eine riesige Schlinge, um die Sonne zu fangen. Und tatsächlich: Am Morgen, als die Sonne aufgeht, verfängt sie sich in der großen Schlinge und kann sich nicht aus den Fesseln befreien, so sehr sie sich auch wehrt. Maui schlägt mit seinem Angelhaken auf sie ein, bis sie resigniert und verzweifelt seiner Forderung nachgibt. In Zukunft wird die Sonne ihren Lauf über den Himmel verlangsamen und die Dauer der Tage wird länger werden – wie es die Menschen seitdem tagtäglich erleben.

Auf die fundamentalen Fragen nach der Entstehung der Welt und ihrer Gestaltung bis hin zur Erschaffung des Menschen haben die Völker in allen Teilen der Erde vielfältige und unterschiedliche Antworten gefunden, die den Reichtum ihrer individuellen Erfindungsgabe und kulturellen Tradition bezeugen. Dass es sich meist um immer wieder neue, unabhängig voneinander gefundene, variierende „Lösungen“ handelt, zeigen zwei Parallelen von mythischen Überlieferungen aus Japan und China, beide im weiteren Sinne Randgebiete des Pazifiks. Im „uralten“ China etwa stiegen der Überlieferung nach jeden Tag zehn Sonnen empor und ließen so die Erde verdorren, bis endlich der mythische Bogenschütze Yi neun von ihnen abschoss und damit den aktuellen Zustand bewirkte. Der Gründungsmythos des Inselreichs Japan erzählt von einem göttlichen Geschwisterpaar, das mit einem Speer im Urozean rührte und aus den herabfallenden Tropfen feste Inseln im Wasser entstehen ließ. Auch hier ist es ein Alltagsgerät, das in den Händen von Kulturheroen seine magische Kraft entfaltet. Im Angeln wiederum liegt nach einem anderen chinesischen Mythos auch der Ursprung der Menschen: Ein Götterpaar ließ eine Schnur in ein Schlammloch hängen, an der sich Erdklumpen verfestigten – die ersten Menschen. In einer anderen Version spricht der Schöpfungsmythos der Bibel vom christlichen Gott, der den ersten Menschen aus Lehm formt.

Ob jagen, fischen oder töpfern – es sind gewöhnliche, allen bekannte Tätigkeiten, die den Menschen auf seinen mythischen Anfang zurückführen. Die sich alltäglich immer wiederholenden Handlungen greifen einen ursprünglichen Akt auf und erinnern an die Vorfahren, die ihn zum ersten Mal vollzogen. Dank der besonderen Form des Angelhakens, der wie der Kiefer eines Menschen gebogen ist, sind in ihm die magischen Kräfte versammelt, die vom mythischen Helden Maui und den Ahnen stammen und auch in der Gegenwart für reichen Fischfang sorgen sollen. So erinnern wir uns selbst täglich daran, dass die Welt, wie wir sie erleben, erst so geworden ist, von jemandem begründet werden musste. Ob es Gottheiten waren oder Helden, Trickster, Schamanen oder Tiere, die das erste Mal eine Angel auswarfen oder zum ersten Mal Getreide säten, die Berge und Flüsse in ihrer gegenwärtigen Form gestalteten – sie alle haben dafür gesorgt, dass wir in der Welt leben, wie sie sich heute darstellt. Davor war alles anders, wie auch immer, jedenfalls noch nicht so wie heute. Vielleicht war auch nichts da, doch das können wir aus den Geschichten nur erahnen.

Hätte Paul Valéry am Strand einen Angelhaken gefunden, wären wir möglicherweise um einen weiteren Essay reicher, wenn auch der Angelhaken wie die Schnecke wieder im Meer gelandet wäre. Dagegen finden Angelhaken aus fernen Regionen leichter und in großer Zahl private Liebhaber oder ihren Platz in Museumssammlungen, sind sie doch bequem und leicht zugänglich in Schubladen aufzubewahren. Der Blick richtet sich über die Schönheit der Einzelobjekte hinaus auch auf ihre kulturhistorische Vielfalt. Bei einer größeren Sammlung von Angelhaken besticht das Bild ihrer Verbreitung und ihrer Variationen ebenso wie die Vielfalt des Materials, aus dem sie gefertigt wurden: Knochen von Tieren und Menschen, Muscheln, Hartholz, Zähne, verschiedene Steine und Korallen. In ihnen allen lebt der eine Angelhaken fort, an dem Maui das Festland aus dem Meer gezogen hat.

Den Religionen auf der Spur

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