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Die Toten vergessen – ein langer Abschied

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Es ist schwer, Dinge zu verlieren, die einem viel bedeuten, die Heimat verlassen zu müssen, vor allem aber einen nahestehenden, lieb gewordenen Menschen, der gestorben ist, nie mehr wiedersehen zu können. All das ist schmerzhaft und setzt Prozesse in Bewegung, die nicht einfach zu bewältigen sind. Das Wissen, allein zurückzubleiben, schafft trotz anderer ebenfalls Trauernder ein Gefühl der Verlassenheit und Leere, mit dem umzugehen man immer wieder lernen muss. Wir versuchen es auf verschiedene Weise, vor allem, indem wir Erinnerungen an das Verlorene bewahren. In vielen Religionen ist es Tradition, Verstorbenen ein Grabmal zu errichten, einen Leichenstein zu setzen, der den Namen und die Lebensdaten von der Familienzugehörigkeit über den Beruf bis hin zu bestimmten Umständen des Todes festhält. So dienen Friedhöfe den unmittelbar Trauernden zum Gedenken, künftigen Generationen zur Erinnerung und werden schließlich zu historischen Archiven einer Gemeinschaft. Das Netz von Erinnerungen ist jedoch sehr viel weiter über unseren Alltag gespannt: Da gibt es Denkmäler von berühmten Herrschern und bedeutenden Gelehrten auf Plätzen oder in den Parks der Städte, und zahlreiche Straßennamen erinnern uns unablässig an Vergangenes und Verlorenes. Sie werden naturgemäß immer wieder erneuert, auch spontan, wenn etwa für den Popstar Michael Jackson eine Gedenkstätte geschaffen und mit Blumen und Kerzen lebendig gehalten wird oder wenn „Erinnerungen“ ins Gerede kommen und „vergessen“ werden sollen, wie etwa Straßen, die ehemaligen deutschen Kolonien in Afrika oder in der Südsee gewidmet sind.

Es gibt andere Formen des Umgangs mit dem Tod von Menschen und ihres Gedenkens, in denen nicht das Sich-immer-aufs-Neue-Erinnern gepflegt wird, das Sichfesthalten an Vergangenem, sondern ganz im Gegenteil das Bewältigen der Erinnerung, indem man bewusst vergisst. Neuirland (papuanisch Niu Ailan) ist eine der größeren Inseln des südöstlich von Papua-Neuguinea gelegenen Bismarck-Archipels. Von 1885 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs hieß die Insel Neumecklenburg und war – wie die Bezeichnung nahelegt – Teil des deutschen Kolonialreichs in der Südsee. Neuirland war bekannt für die hohe Qualität seiner Schnitzkunst, die vornehmlich im Kontext des Ahnenkults blühte. Vom Ende des 19. und dem Beginn des 20. Jahrhunderts stammt ein Großteil der umfangreichen und wertvollen Bestände solcher Werke in deutschen Völkerkundemuseen. Es waren beliebte, exotische Mitbringsel von deutschen Kapitänen, Missionaren, Händlern und frühen Reisenden. Im Unterschied zu den üblichen Sammelmethoden der Zeit wurden sie allerdings im Allgemeinen nicht als Kriegsbeute mitgenommen und auch nicht gegen Glasperlen oder Messer eingetauscht, sondern mit Billigung ihrer Schnitzer beziehungsweise der ursprünglichen Eigentümer den Europäern überlassen. Die als „Malangan“ bezeichneten Schnitzereien gehörten zu einem vollendeten, abgeschlossenen Begräbnisritual; daher war es den Neuirländern gleichgültig, ob sie im Busch vermoderten oder in Museen jenseits des Meeres aufgestellt wurden. Dort erfreuten sich außereuropäische Objekte seit Anfang des 20. Jahrhunderts der besonderen Aufmerksamkeit von Malern wie Pablo Picasso oder Künstlern der „Brücke“ und des „Blauen Reiters“, die die künstlerische Inspiration in den Vordergrund stellten – bis heute ein bleibendes Kriterium in den Augen westlicher Betrachter. Mit dieser Reduktion auf das künstlerische Element übersieht man aber allzu leicht, dass solche Objekte Teil und Endpunkt einer langen und komplexen Geschichte sind, die von religiöser Kraft und sozialen Funktionen geprägt ist und ohne die sie unverstanden bleiben.

Auf den ersten Blick sind Malangane filigrane Schnitzwerke aus Holz, die sich bei genauer Betrachtung häufig als miteinander kombinierte Elemente wie Tiere, Menschen oder mythische Wesen enträtseln. Meist sind sie in Form von Friesen, Säulen, Masken oder Einzelskulpturen gefertigt. Sie entsprechen demnach der gängigen einheimischen Bedeutung von malangan, was so viel bedeutet wie „ein Bild machen“, „als etwas erscheinen“. Doch dieses Wort ist keineswegs nur die Bezeichnung für ein Abbild egal welcher Art, sondern auch der umfassende Begriff für alle Handlungen, mit denen sich die Lebenden von einem Verstorbenen trennen: die Begleitung eines sterbenden Menschen, das Schnitzen von Objekten, die bei den Ritualen einzusetzen sind, die verschiedenen Phasen des Begräbnisses und der Trauerfeierlichkeiten bis hin zum endgültigen Entlassen des Toten aus der Gemeinschaft und seinem Verschwinden aus dem Gedächtnis der Nachkommen. Malangan beschreibt einen mehrere Jahre dauernden Prozess des Abschieds, an dem die eigentlichen Schnitzwerke gleichen Namens einen zwar konkret sichtbaren, aber eher überschaubaren Anteil haben.


Aus Holz geschnitzte Malangan-Figur aus Zentral-Neuirland, bemalt mit roten und schwarzen Pigmentfarben, vor 1913.

Die erste Phase betrifft den Tod eines Mannes oder einer Frau und die rituelle Trennung des Toten von den Lebenden. Der Tod kommt immer überraschend, aber nie unvorhersehbar. Wie es bei uns üblich ist, sich darauf vorzubereiten, indem man „sein Leben in Ordnung bringt“, ein Testament verfasst oder eine Grabstätte bestimmt, so verfahren auch die Menschen auf Neuirland ihren kulturellen Traditionen gemäß: Sterbende werden von den engsten Angehörigen gepflegt und betreut, nach dem Tode selbst versammelt sich die größtmögliche Gemeinschaft der Familie, die den Verstorbenen bei den Bestattungsfeiern begleitet. Um für diese Feierlichkeiten, die zahlreiche Angehörige und Helfer zusammenführen, gerüstet zu sein, müssen bereits angesichts des nahenden Todes Lebensmittel und Geld gesammelt werden. Wenn der Mensch zu atmen aufgehört hat, ist der erste Schritt des Todes eingetreten: Seine Atemseele hat ihn verlassen, aber seine Körperseele ist noch präsent. Jetzt beginnen die eigentlichen Totenrituale, in denen alle Angehörigen des Klans verschiedene Aufgaben zu erfüllen haben.

In dieser ersten Phase sollen die rituellen Handlungen aller Beteiligten zeigen, dass eine Gemeinschaft von einem Toten Abschied nimmt und alle zusammen die Betroffenheit, die Emotionen, das aufkommende Gefühl der Leere bewältigen wollen. Zunächst wird der Tote gewaschen, dann festlich gekleidet und schließlich auf einem Zeremonialsitz festgebunden. Tänzer werden aufgefordert, zu Ehren des Toten Tänze zu veranstalten, es werden rituelle Klagen angestimmt, und die engsten Familienangehörigen bemalen sich am ganzen Körper mit der schwarzen Farbe der Trauer. Im Anschluss daran übernimmt ein enger Angehöriger des Verstorbenen die Aufgabe, in einer kurzen Rede des Toten zu gedenken, seiner Taten und seiner besonderen Bedeutung für die Gemeinschaft. Danach wird der Tote verbrannt oder begraben, allerdings werden einige größere Knochen vom Leichnam für spätere zeremonielle Zwecke aufbewahrt. Im Anschluss an die Totenklage und das gemeinsame große Festmahl verteilt man die Reste des Essens unter den Anwesenden und bezahlt die Organisatoren, die Besitzer der geschlachteten Schweine sowie die Tänzer mit Muschelgeldschnüren. Während einer etwa zweimonatigen Trauerperiode bleiben die nahen Verwandten des Verstorbenen im Dorf, müssen bestimmte Nahrungstabus befolgen und sexuelle Enthaltsamkeit üben. Zum Abschluss dieser Phase waschen die engeren Familienangehörigen die schwarze Trauerfarbe vom Körper mit Ausnahme der Haare ab. Jetzt setzt man die Trauerfeiern mit gemeinschaftlichen Essritualen und Tänzen fort, die das Zusammengehörigkeitsgefühl unter den Familienangehörigen stärken sollen. Zum einen tragen alle Trauernden dazu bei, die aufwändigen Feste zu realisieren und durchzuführen, zum anderen bekräftigen die gemeinsamen, einander verbindenden Handlungen des Essens, Feierns, Tanzens, Sprechens das Gefühl, dass der Zusammenhalt der Familie trotz des Todes eines ihrer Mitglieder Bestand haben wird.

Die endgültige Trennung des Toten von der Gemeinschaft der Lebenden findet erst Jahre später statt. Der prosaisch erscheinende Grund für diesen langen Abschied liegt darin, dass als Vorbereitung für den abschließenden, umfangreichen Festzyklus Geld gespart sowie eine größere Menge an Nahrungsmitteln angesammelt werden muss und vor allem zusätzlich Schweine zu züchten sind, die im Allgemeinen zwei Jahre bis zur Schlachtreife brauchen. In dieser Feier kommt nun dem Malangan-Schnitzwerk seine rituelle Bedeutung zu. Der erste Schritt ist die Beauftragung seiner Herstellung. Die Kenntnis, welcher Typus von Malangan für einen bestimmten Todesfall zu wählen ist und welche konkreten Riten durchzuführen sind, beschränkt sich auf wenige Mitglieder des Klans. Die Familie des Verstorbenen wendet sich an einen der Klan-Älteren und bittet ihn, die spezifische Form vorzugeben, in welcher der Malangan geschnitzt werden soll. Dieser bestimmte Typus geht dann aus diesem Anlass ins Eigentum dieser Familie über und darf in Zukunft nicht mehr verwendet werden. Nunmehr erteilt die Familie den Auftrag einem professionellen Schnitzer, der zunächst ein bestimmtes Holz auswählt, einen passenden Baum fällt und das Holz austrocknen lässt, bevor die eigentliche Phase des Schnitzens beginnt. Bei allen einzelnen Abschnitten der Vorbereitung und Herstellung eines Malangans versammelt sich die Trauergemeinde zu Festmahlen und gemeinsamen Feiern mit rituellen Tänzen, vor allem aber, um an der Arbeit des Künstlers teilzunehmen, ihn von der Gestaltung der groben Vorlage bis hin zu den abschließenden Durchbruchsschnitzereien zu begleiten und sich schließlich von der ästhetischen Qualität des Schnitzwerks zu überzeugen. Die Ausrichtung der Feiern sowie die Entlohnung des Schnitzers und der Tänzer werden von der Familie gemeinsam getragen.

Nach Wochen und Monaten ist der Schnitzvorgang abgeschlossen; der Künstler glättet die Oberfläche des Holzes und bemalt es. Nun ist der Malangan vollendet und seine Errichtung wird mit einem großen Abschlussfest gefeiert, zu dem er, manchmal mit mehreren anderen solcher Figuren, in einer Umzäunung aufgestellt und von den Mitgliedern der Gemeinschaft im Rahmen eines großen Festmahls gewürdigt wird. Dies ist der endgültig Abschied des Toten vom Dorf und er kann nun dem Vergessen anheimgegeben werden. Doch vergessen heißt nicht, dass er gänzlich verschwindet – er ist lediglich als Person nicht mehr präsent und wird nicht im Gedächtnis bewahrt. Dennoch bleibt erhalten, was ihn als Individuum auszeichnete, nämlich seine Lebenskraft, die auf andere Menschen übertragen wird, in denen er weiter wirkt und fortlebt.

Weitverbreitet – vor allem in Ackerbaukulturen – ist die Vorstellung, dass mit dem Tod die Erneuerung des Lebens, eine Wiederauferstehung verbunden ist. So bringt das Säen von Samen in die Erde nach einer Zeit des scheinbaren Todes neue Früchte hervor. Derselbe Gedanke – dass neues Leben aus dem Tode entsteht – manifestiert sich auf Neuirland in einem zentralen Ritus während der Initiation der jugendlichen Mitglieder in die Gemeinschaft. Wenn zur endgültigen Verabschiedung eines Verstorbenen das Malangan-Schnitzwerk aufgestellt wird, versammelt man die Initianden in einer abgesonderten Hütte und sie werden für die Dauer der Zeremonien für den Toten selbst als tot erachtet. Wenn sie dann wieder „zum Leben erwachen“ – und damit den Status als verantwortliche Mitglieder ihrer Gemeinschaft erhalten –, hat sich die Lebenskraft der Malangane auf sie übertragen. Diese haben ihrerseits mit dem Abschluss der rituellen Feiern für den von ihnen repräsentierten Verstorbenen ihre Aufgabe vollbracht. Als greifbare Gegenstände existieren sie nicht mehr den Augen der Zuschauer. Sie erfüllen keine Funktion mehr, weder als Abbild für einen Toten noch als Erinnerung an ihn. Wie die einzelnen Wörter in den Geschichten, die man einander erzählt hat, die verschiedenen Klänge der Musik und die aufeinanderfolgenden Schritte der Tänze hört und sieht man sie nicht mehr. Sie waren vorübergehend Glieder einer Kette und haben so den Fortbestand der sozialen Gruppe gesichert. Nicht die Unsterblichkeit des Einzelnen, sondern die Unvergänglichkeit der Gemeinschaft haben sie versinnbildlicht.

Die Malangane Neuirlands sind Beispiele der großartigen traditionellen Schnitzkunst der Südseeinseln. Sie haben nicht nur expressionistische Künstler vor hundert Jahren beeindruckt, sondern ziehen bis heute das Auge der Besucher von Museen auf sich und werden dies auch weiterhin tun, selbst wenn manche Motive nicht mehr klar zu deuten sind oder ihre Verbindung zu mythischen Erzählungen tatsächlich in Vergessenheit geraten ist. Uns erscheinen die Szenen auf den Friesen und die mit Figuren geschmückten Pfosten auf den ersten Blick verwirrend. Sie bleiben dunkel in ihrer Vielgestaltigkeit – wie etwa der durchbrochen geschnitzte Malangan-Pfahl, der sich dank zweier Augenpaare oben und unten als Doppelfigur entpuppt: eine Frau, die von einem weit aufgerissenen Fischmaul gestützt oder in dieses hineingeworfen und verschlungen wird? Bei einem anderen Malangan-Fries im Flachrelief löst sich dessen elegant bewegte Ornamentik als das Bild eines Hahns auf, der über einem auf dem Boden liegenden Menschen steht und in seinem Schnabel eine vollplastisch geschnitzte Schlange hält. Etwas zu vergessen scheint einfacher zu sein, als etwas zu enträtseln. Beides braucht jedoch seine Zeit und die Hilfe anderer.

Den Religionen auf der Spur

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