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Der kleine Paul
ОглавлениеVon Klaus-Dieter Welker
Wollte man den Statistiken Glauben schenken, dann gab es ihn eigentlich nicht. Junge Studenten hatten sein Dasein unmöglich gemacht. Mit spitzer Feder, mit Hochleistungsrechnern und anderem intelligenten Unfug hatten sie errechnet, wie schnell er sein musste, um jedes Kind an Weihnachten zu bescheren. Wie viele Rentiere er vor seinen Schlitten spannen musste, um die ganzen Geschenke in der Christnacht transportieren zu können, und dass diese – und dann auch er – bei der errechneten wahnwitzigen Geschwindigkeit letztendlich verdampfen würden. Er schüttelte den Schnee von seinem Mantel und schaute auf seine Rentiere. Natürlich „dampften“ sie ein wenig. Das war ja auch kein Wunder, die kalte Luft ließ den Atem vor ihren Mäulern kondensieren. Aber von einem „Verdampfen“ konnte gewiss keine Rede sein.
Was wussten diese jungen Hüpfer schon von den Wundern der Weihnacht? Bei ihnen musste alles berechenbar, messbar und in Zahlen belegbar sein. Da fing das ganze Unglück ja an. Kaum waren die Menschen alt und klug genug, um zu rechnen und zu schreiben, begannen sie, sich als „allwissend“ zu betrachten. Und je älter und „klüger“ sie wurden, desto weniger glaubten sie an die Wunder dieser Welt. Es war also nur eine Frage der Zeit bis sie auch ihn aus ihren Gedächtnissen gerechnet hatten, keine Briefe mehr mit ihren großen und kleinen Wünschen an ihn schickten und darauf vertrauten, dass er sie, so gut es eben möglich war, erfüllen würde. Und gar zu viele erzählten ihren Kindern überhaupt nicht mehr von ihm, sondern mieteten sich gleich einen „Weihnachtsmann“, der ihn ersetzen sollte. Vielleicht würde es nicht mehr lange dauern, bis er überflüssig wurde.
Nein, das waren zu trübe Gedanken für diese Nacht. Noch war es nicht so weit, noch gab es Menschen, die an ihn glaubten. Und die wollte und durfte er nicht enttäuschen. Er schaute auf seine Liste, die in den letzten Jahren immer kürzer geworden war. Da mussten diese jungen Studenten mal dringend ihre Berechnungen aktualisieren, dachte er wehmütig schmunzelnd. Die Zahlen, die sie zugrunde gelegt hatten, waren längst überholt. Ja, früher einmal...
„Ach was, hör auf damit“, schimpfte er sich selbst.
Der nächste auf seiner Liste war Paul. ‚Sankt-Vincent-Heim‘ hatte in Schönschrift auf dem Brief gestanden, der an ihn adressiert gewesen war. Das war selten geworden; inzwischen schrieben ihm die Menschen mit Computern oder Schreibmaschinen. Oder sie legten ihren Wunschzettel auf das Fensterbrett – falls sie ihn nicht gleich ihren Eltern, Ehegatten oder sonstigen Verwandten gaben, damit die wussten, was sie im nächsten Juwelier-, Spiele- oder Geschenkladen einzukaufen hatten.
„Lieber Weihnachtsmann“, hatte in dem Brief von Paul gestanden, „ich wünsche mir so sehr, dass Heinrich wieder eine gute Arbeit findet, damit Ulrike nicht mehr arbeiten muss und wieder mehr Zeit für mich hat. Und dass ich dann vielleicht wieder nach Hause kann. Ich vermisse die beiden so sehr. Hier bin ich ganz allein, obwohl ganz viele andere auch hier sind. Aber die haben meistens keine Zeit für mich. Die meiste Zeit bin ich alleine in meinem Zimmer und nach draußen darf ich nur, wenn eine Schwester dabei ist. Aber die müssen sich ja noch um so viele andere kümmern. Bitte, bitte! Du kannst bestimmt eine Arbeit für Heinrich finden. Und wenn das nicht geht, könntest du dann vielleicht machen, dass sie mich öfters besuchen kommen?
Viele Grüße an das Christkind. Dein Paul.“
Der Brief war ordentlich und ohne Fehler geschrieben. Entweder ist er ein kluges Bürschchen, oder es hat ihm einer geholfen, dachte er. Nur die Wasserflecke unter „Dein Paul“ passten nicht dazu.
„Tränen“, dachte der alte Mann. Er hatte lange gegrübelt, als er den Brief gelesen hatte. Nein, ein Paul aus einem ‚Sankt-Vincent-Heim‘, war ihm nicht bekannt. Er hatte sich auch die Briefe der letzten Jahre angeschaut. Da war keiner von dem kleinen Paul dabei. Es schien also ein neuer „Kunde“ zu sein. Da musste er sich besondere Mühe geben.
Das ‚Sankt-Vincent-Heim‘ lag abseits der kleinen Stadt. Die meisten Fenster waren dunkel; nur im Treppenhaus brannte Licht. Es war wohl nur eine kurze Weihnachtsfeier gewesen und die Kinder lagen bestimmt schon in ihren Betten. Eigentlich schade, aber es erleichterte ihm seine Aufgabe, ungesehen dort hinein zu kommen. Ach Quatsch – sehen konnten ihn ja doch nur jene, die auch an ihn glaubten. Und außer von dem kleinen Paul hatte er keinen Brief oder Wunschzettel erhalten.
Entgegen der weit verbreiteten Meinung, er müsste durch den Schornstein rutschen, um in ein Haus zu kommen, hatte er das nicht nötig. Geschlossene Türen gab es für ihn nur dort, wo er nicht erwünscht war. Und so spazierte er durch die große Eingangstür, die sich bereitwillig vor ihm öffnete, stiefelte an der verglasten Empfangsloge vorbei, in der eine ältere Dame in einem Modemagazin blätterte und stieg unbemerkt die breite Treppe hinauf. Das war auch eines der Dinge, die sich die jungen Studenten, die ihn aus dieser Welt heraus gerechnet hatten, nicht erklären konnten, dachte er. Er fand seinen Weg ohne neumodische Navigationsgeräte oder Wegbeschreibungen. Sein „Navi“ – wie sie es nannten – war sein Herz, sein Gespür und sein Wunsch, die Menschen an diesem Tag glücklich zu machen. Nun, besser wäre es noch, sie für längere Zeit zu beglücken. Aber das gelang nicht immer. Die Menschen standen ihrem Glück oftmals selbst im Wege.
Oben begegnete ihm eine ältere Dame im weißen Kittel, die mit ärgerlichem Gesicht und einer Garnitur frischer Bettwäsche an ihm vorbei eilte, ohne ihn auch nur mit einem Blick zu bedenken. Dabei war er ein stattlicher Mann und in seinem rotem Mantel, seinem langen, weißen Bart und dem großen Sack über seiner Schulter gewiss ein ungewöhnlicher Anblick. Schon wieder eine, die nicht an ihn glaubte.
Grummelnd verschwand die Weißbekittelte in einem der Zimmer. Da war wohl einem der Kleinen ein Unglück passiert. Eigentlich kein Grund, mit so bösem Gesicht durch die Gänge zu streifen, dachte er. Wem war das als Kind nicht passiert? Außerdem war Weihnachten. Das Fest der Freude. Aber hier in diesem „Heim“ war wenig davon zu spüren. Vielleicht – ja, vielleicht müsste er hier öfters einmal vorbeischauen. Und wenn er dann doch durch den Schornstein rutschen musste, weil er „unerwünscht“ war: nun, dann müsste er es eben tun. Da hätten die jungen Herren Studenten dann wieder genügend zu berechnen, um die Unmöglichkeit zu beweisen, dass ein Mann mit seiner Statur durch die heutigen Schornsteine passte. Und ob er das schaffen würde.
Er schritt weiter durch den langen Gang, der nur dürftig von einer Notbeleuchtung erhellt wurde. Er war fast da, das spürte er ganz deutlich. Dort, hinter der nächsten Tür, wartete der kleine Paul auf ihn, der wohl auch sein Kommen spürte, denn noch bevor er sie erreichte, wurde sie von innen geöffnet.
Ein paar große, vor kindlicher Freude strahlende Augen starrten ihn an. Pauls Mund stand vor Staunen ein wenig offen, als er den Weihnachtsmann erblickte. Dann legte er schnell einen Zeigefinger vor die Lippen um ihm zu bedeuten, ja leise zu sein und winkte ihn aufgeregt in sein Zimmer.
„Die Schwestern schimpfen bestimmt, wenn sie dich sehen“, flüsterte er. „Nach dem Zu-Bett-Gehen darf nämlich keiner mehr in die Zimmer kommen.“
Hastig zog er die Tür hinter sich ins Schloss und strahlte den Weihnachtsmann wieder an.
„Ich habe ganz fest daran geglaubt, dass du kommst“, wisperte er glücklich. „Ich bin extra wach geblieben. Und ich habe auch Milch und Kekse für dich. Die Milch ist aber noch vom Frühstück; abends bekommen wir keine mehr. Hoffentlich ist sie noch gut. Sie stand den ganzen Tag vor dem Fenster, damit sie nicht sauer wird.“ Er kicherte fröhlich. „Aber die Schwester ist ein bisschen sauer geworden als sie gemerkt hat, dass ein Milchkännchen fehlt. Aber morgen bringe ich es ja wieder zurück. Das ist doch nicht schlimm, oder?“
Erwartungsvoll schaute er den Weihnachtsmann an, der sprachlos und mit vor Staunen offenem Mund vor ihm stand.
„Ääh, nein. Ganz bestimmt nicht.“
Mehr brachte er erst einmal nicht heraus.
„Setz dich doch“, sagte Paul und deutete auf einen alten Sessel, der vor dem Fenster stand und ließ sich selbst auf sein Bett plumpsen. Doch sofort stand er wieder auf und eilte zu dem kleinen Fenster.
„Die Milch“, haspelte er aufgeregt und holte ein Blechkännchen vom Fensterbrett. Dann huschte er zum Nachttisch und kramte eilig ein paar in eine Serviette gewickelte Kekse aus der Schublade. Aus einem kleinen Spind holte er eine Tasse und einen Teller, goss die Milch ein und drapierte die Kekse liebevoll auf dem Porzellan.
„Die habe ich leider nicht selber gebacken. Das dürfen wir nicht, sagen die Schwestern. Die halten uns für zu dumm dafür. Dabei habe ich das früher immer selber gemacht. Mit Ulrike, als sie noch ein Kind war. Wir hatten ja nicht so viel Geld, um alles zu kaufen. Außerdem war es so viel schöner. Da haben wir uns schon wochenlang auf Weihnachten freuen können, wenn es im ganzen Haus nach frisch gebackenen Plätzchen und Keksen duftete. Meine Frau hatte es ja nicht so mit dem Backen und als sie gestorben war, da habe ich es gelernt. Und Ulrike hat es dann von mir gelernt. Sie backt die besten Plätzchen auf der ganzen Welt.“
Paul schaute den Weihnachtsmann traurig an.
„Naja, das ist nun leider alles nicht mehr möglich. Weißt du...“
Die Freude verschwand aus seinem Gesicht und damit alles Kindliche, das vorher dort gewesen war. Da saß er nun vor ihm, ein alter Mann in einem alten Schlafanzug. In einem lieblosen Zimmer mit kleinem Fenster, ohne Hoffnung und so voller Traurigkeit, dass dem Weihnachtsmann das Herz weh tat. Der „kleine Paul“, der ihn vorhin so glücklich in sein Zimmer gewunken hatte, er war verschwunden. Und der alte Mann vor ihm erzählte traurig weiter:
„Weißt du, manchmal bin ich wieder wie ein kleines Kind. Dann vergesse ich alles, weiß nicht mehr, wie ich heiße, wo ich wohne, wie ich meine Schuhe zubinden soll. Oder sogar, was Schuhe überhaupt sind. Und dann kann ich nicht alleine sein. Dann muss jemand auf mich aufpassen, sich um mich kümmern. Das hat Ulrike immer getan. Sie ist ein gutes Kind. Aber dann wurde Heinrich arbeitslos und sie musste arbeiten. Er ist auch ein guter Mann, hat sich immer um mich gesorgt. Aber so ganz gesund ist er auch nicht mehr. Das ging einfach nicht, als Ulrike arbeiten gehen musste und den ganzen Tag auf den Beinen war. Heinrich alleine hat es einfach nicht geschafft. Sie wollten beide nicht, dass ich hierher komme. Aber ich habe ja doch gemerkt, dass es so nicht weitergeht...“
Wieder schwieg er und ein paar Tränen kullerten über seine Wangen.
„Besuchen können sie mich auch nicht so oft. Dafür ist es zu weit. Und die Bahnfahrt kostet so viel. Und es ist auch immer so traurig, wenn sie wieder weg müssen. Dann weinen wir alle. Das tut mir am meisten weh. Wenn ich sehe, wie traurig die beiden sind.“
Schweigend sahen sich beide an. Was sollte er da nur tun, fragte sich der Weihnachtsmann. Wie konnte er nur helfen? Und wollten die beiden – Heinrich und Ulrike – wirklich, dass der alte Paul wieder zu ihnen kam? Das war ja das Wichtigste.
„Und da hast du mir geschrieben?“, fragte er Paul.
„Ja. Das war die Idee von Ulrike. Als ich mal wieder nicht so richtig im Kopf war, naja, als ich wieder wie ein Kind war. Das war wohl so vor drei Wochen. Da waren die beiden nämlich zu Besuch. Und da hat sie gesagt: Schreib doch an den Weihnachtsmann. So wie früher, als du noch klein warst. Da hast du auch immer einen Wunschzettel geschrieben, so wie ich selber. Vielleicht kann er ja helfen. Das hat er immer gemacht. Und dann hat sie noch gesagt: Wir schreiben selber auch einen Wunschzettel an ihn. Dann haben wir uns hier an den Tisch gesetzt und geschrieben.“
„Sie hat auch einen Wunschzettel geschrieben?“, fragte der Weihnachtsmann.
„Ja, das hat sie. Ich weiß natürlich nicht, was darin stand. Das muss ja ein Geheimnis bleiben. Aber das weißt du ja am besten.“
„Das sollte ich wohl wissen“, erwiderte der Alte im roten Mantel, während er in seinen großen Taschen kramte. Wo hatte er nur die Liste mit den Wunschzetteln hin gesteckt? Wahrscheinlich wurde er langsam auch ein wenig alt und vergesslich. In der letzten Tasche fand er ihn endlich und fuhr mit dem Finger über die Namen.
„Karl-Heinz, Fritz, Klaus-Dieter, Marina, Nathalie......“, murmelte er leise vor sich hin. „Da! Ulrike.“
Hoffentlich war es die Richtige. Er suchte noch schnell den passenden Brief dazu. Eine säuberliche Handschrift. Schönschrift. Das musste sie sein.
„Lieber Weihnachtsmann“, stand da. „Ich habe dir lange nicht mehr geschrieben. Aber heute muss ich es einfach tun und ich hoffe, dass du meinen Brief auch liest. Früher hast du es immer getan, aber da ich leider so lange nicht mehr an dich gedacht habe, weiß ich nicht, ob du mich nicht vergessen hast. Ich hoffe, dass du auch für uns Erwachsene noch da bist.
Ich habe nur einen Wunsch an dich. Einen ganz großen. Ich möchte meinen Papa Paul wieder haben. Er lebt im Sankt-Vincent-Heim. Wir alle, ich, mein Mann Heinrich und mein Papa sind sehr traurig, dass wir nicht mehr zusammen sind. Mein Papa ist schon 82 Jahre alt und hat Demenz. Manchmal vergisst er alles. Aber das ist nicht so schlimm für uns. Das Getrenntsein ist viel schlimmer. Er wollte uns keinen Kummer machen und deshalb ist er in das Heim gezogen. Weil er Angst hatte, dass uns alles zu viel wird, weil ich arbeiten muss und Heinrich nicht ganz gesund ist.
Aber so ist es viel schlimmer, weil wir alle traurig sind. Wir – Heinrich und ich – würden das schon schaffen. Auch wenn Heinrich keine Arbeit findet. Irgendwie wird es gehen. Ganz bestimmt. Das ist mein einziger Wunsch, dass Papa wieder bei uns ist. Um alles andere kümmern wir uns schon. Versprochen.
Liebe Grüße an das Christkind.
Deine Ulrike
P.S.: Und Grüße auch von Heinrich. Er hat den gleichen Wunsch. Deshalb ist es nur ein Wunschzettel.“
„Paul“, sagte der Weihnachtsmann und schaute den alten Mann an. „Kannst du noch ein bisschen wach bleiben? Ich muss noch ganz schnell etwas erledigen. Aber ich komme wieder. Versprochen.“
Und als der alte Mann ihm vertrauensvoll zunickte, eilte er aus dem Zimmer, die Treppe hinunter, vorbei an der Pförtnerloge und im Eiltempo zu seinem Schlitten. Es gab viel zu tun. Aber das wäre doch gelacht, wenn er das nicht schaffen würde. Als erstes eine anständige Arbeit für Heinrich. Er hatte da doch noch einige Verbindungen. Das würde klappen. Dann ein schneller Besuch bei den beiden. Darauf freute er sich schon. Dann ein Transportmittel, ein schnelles. Es war Weihnachten, und hier konnte er gleich drei große Wünsche erfüllen. Notfalls würde er halt den Schlitten nehmen. Und dann wieder zu Paul. Zu dem „kleinen Paul“ mit den großen, vertrauensvollen, glücklichen Augen und dem vor Staunen offenen Mund. Darauf freute er sich am allermeisten.