Читать книгу Drachenreich - Claus Bork - Страница 6
Zola
ОглавлениеAm nächsten Tag, als er auf dem Weg zur Schule war, war er ernstlich böse. Die Sodawassermaschine hatte mitten auf dem Küchentisch gestanden und ihn angegrinst, als er sein Essenspaket holte.
Zehn Minuten nach neun kurvte er beim Fahrradständer um die Ecke und überquerte den Rasen zum Eingang des Schulhofes. Alle anderen waren längst in die Klassen hochgegangen. Er kam zu spät, wie immer. Gerade als er durch das Tor schritt, rief ihn jemand.
"Hey, Winzling..."
Jesper reagierte normalerweise nicht auf Worte wie Winzling oder klein, aber etwas an der Stimme brachte ihn dazu, es doch zu tun.
Er blieb stehen und drehte sich um. Es war ein großer Junge. Er stand an einen gemauerten Pfeiler am Tor gelehnt, mit den Armen über der Brust gekreuzt. Er hatte eine Schirmmütze nachlässig in den Nacken geschoben und in seinem Mundwinkel baumelte eine Zigarette.
"Man kommt wohl zu spät, was?" sagte der Junge.
"Hm," nickte Jesper Aksel Bergmann. Irgendetwas war an dem Jungen. Etwas gleichzeitig Anziehendes und gefährliches.
"Bist du auch zu spät gekommen?" fragte Jesper. Es schien ihm nicht, daß er den Jungen überhaupt schon einmal gesehen hatte.
"Ha..." rief der große Junge, nahm einen tiefen Zug aus der Zigarette und schnippte sie mit zwei Fingern ins Gras.
"Leute von meinem Kaliber gehen, verdammt nochmal, nicht in die Schule, Mann," spottete er.
"Was bedeutet Kaliber?" fragte Jesper.
"Sag mal, hast du das nicht in der Schule gelernt?" fragte der Junge mit gerunzelten Augenbrauen.
Jesper steckte die Hände in die Seiten. "Ich passe nicht auf in den Stunden," antwortete er. "Ich setz nur meine Füße in die Schule, weil meine Eltern mich dazu zwingen."
"Halts Maul," sagte der Junge und kam näher. "Das ist wirklich stark, Mann!"
"Er ist tatsächlich ein netter Kerl," dachte Jesper.
"Rauchst du, Kleiner?" Der Junge hielt ihm eine Packung Zigaretten unter die Nase.
"Äh, nee, oder danke..." antwortete Jesper und hielt abwehrend die Hände vor sich.
"Das lernst du, nur ruhig," sagte der Junge verständnisvoll und spuckte auf den Asphalt. "Wie heißt du, übrigens?"
"Jesper Aksel Bergmann," antwortete Jesper.
"Na ja, da kannst du ja nichts für," sagte der Junge und biß sich auf die Lippen. "Das ist auch die Schuld deiner Eltern. Genau wie all die anderen Unglücke in deinem Leben, an denen sie Schuld sind."
"Was für Unglücke?" fragte Jesper und versuchte, die flapsige Art des anderen zu reden nachzuahmen.
"Denk nach, Mann. Die Schule - in die du dich jeden Tag schleppen mußt; der Abwasch, das Aufräumen des Zimmers - nur um einige Beispiele zu nennen."
"Tjah..." seufzte Jesper. Da war ja etwas dran, wenn man es auf diese Weise serviert bekam.
"Und dann das, mit der Sodawassermaschine..." flüsterte der Junge und beobachtete ihn aus dem Augenwinkel.
Jesper schrak zusammen. "Woher weißt du das ?"
Der Junge zündete sich noch eine Zigarette an und nahm einen tiefen Zug. "Ähh..." murmelte er und sah in den Himmel. "Sowas weiß ich eben einfach." Der Rauch dampfte zwischen den Lippen heraus, als er sprach.
Jesper Aksel Bergmann war sichtlich imponiert.
"Nee, du, ich kenne einen Ort, wo es einfach toll ist," sagte der Junge beiläufig.
"Na..." antwortete Jesper und versuchte, nicht allzu interessiert zu wirken. Der Junge wandte ihm die Seite zu, aber betrachtete ihn aus dem Augenwinkel, ohne daß er es bemerkte. Er blies Rauchringe in die Luft und sah sie über den Rasen hinwegsegeln.
"Wo ist es?" fragte Jesper zuletzt.
"Wo ist was?"
"Der tolle Ort," sagte Jesper vorsichtig.
Der Junge drehte sich wieder zu ihm. Dann lächelte er breit, sodaß er seine langen, gelben Zähne entblößte. Und es glühte in seinen Augen, vor Erwartung.
"Es ist ein Land," sagte er. "Ein Land, wo man verflucht nochmal machen kann, was man will - und wenn dort einer sagt, man soll das eine oder andere tun, dann..."
Er hielt in seinem Wortschwall inne und betrachtete die Zigarette zwischen seinen Fingern.
"Was dann?"
Der Junge lehnte sich zu ihm und sagte mit tiefer, drohender Stimme: "Dann bittet man ihn, einem den Puckel 'runterzurutschen!"
Er war gefährlich, dieser Junge, dachte Jesper. Aber es war toll, ihn als Freund zu haben. "Wie heißt das Land?"
"Khanpur," sagte der Junge. "Jedes Jahr am St. Hans-Tag verbrennt man alle Schulbücher, die es gibt."
'Wahnsinnig,‘ dachte Jesper. "Aber - woher kommen denn so viele?"
"Was, so viele?"
"Viele Bücher," sagte Jesper. "Wenn man erst alle verbrannt hat, woher kommen dann noch so viele?"
Der Junge drehte sich blitzschnell und stach ihm mit einem Finger auf die Brust.
"Jetzt sei du nicht so verdammt schlau, denn sonst kommst du nicht mit, verstanden?"
Jesper nickte. Es konnte auch egal sein, das mit den Büchern. Hauptsache war, daß er mitkommen durfte. "Ich muß nur um vier zu Hause sein," sagte er. Denn dann ist die Schule vorbei, und dann hat meine Mutter Tee für mich gemacht, wenn ich nach Hause komme."
"Ja... ja," sagte der Junge und spuckte wieder. "Selbstverständlich, Macker."
Jesper lehnte seine Schultasche gegen den Pfeiler am Eingang zum Schulhof.
Dann geschah es, daß, gerade als sie losgehen wollten, Henrik hinunter auf den Schulhof kam. Er entdeckte Jesper und rannte los.
"Warum kommst du nicht nach oben?" fragte er keuchend, als er sie erreichte.
"Wir wollen nach Khanpur, ich und mein Freund," sagte Jesper begeistert.
"Was für ein Freund?" fragte Henrik. "Da ist doch nur der da."
Der Junge betrachtete Henrik mit skeptischer Miene.
Jesper nahm Henrik am Arm und zog ihn vor den fremden Jungen. "Das hier ist mein bester Freund - Henrik. Und..." Er dachte einen Augenblick nach. "Wie heißt du, übrigens?"
"Zola," antwortete der Junge ungeduldig. "Willst du mit, oder
was?"
"Wo war es, wo ihr hinwollt?" fragte Henrik, der Zola über den Rand der Brille betrachtete.
"Das geht dich nichts an," sagte Zola mürrisch.
Henrik glotzte ihn gaffend an. Jesper zog Henrik zur Seite, um weiteren Krach zu vermeiden. "Du kannst auf meine Schultasche aufpassen," flüsterte er und schob Henrik zur Tasche.
"Wir wollen nach Khanpur," flüsterte er, als sie etwas weiter von ihm wegstanden.
"Nie gehört von dem Ort," murmelte Henrik, der immer noch etwas empört war.
"Jetzt geh ich also," rief Zola und wandte sich zum Gehen.
"Ich hau ab," sagte Jesper. Vergiss nicht, auf meine Tasche aufzupassen. Ich komme um vier wieder."
"Bist du sicher, daß das klug ist?" protestierte Henrik.
"Ja, bist du verrückt," flüsterte Jesper. "Beruhige dich bloß, ich hab die Kontrolle über die Situation."
Er hinterließ Henrik die Schultasche und rannte hinter Zola her, der schon ein gutes Stück auf dem Bürgersteig voraus war.
Henrik blieb zurück und betrachtete sie, als sie den Weg überquerten und in den Wald gingen. Während er sie zwischen den Bäumen verschwinden sah, schlich sich ein unerklärliches Gefühl in ihn; daß Jesper lieber hätte bleiben sollen, und daß ein fremder Junge dabei war, ihn in etwas gefährliches hineinzulocken. Er kannte ja Jesper Aksel Bergmann und seinen großen Appetit auf Abenteuer, und er kannte fast alle Einzelheiten von seiner Reise nach Abenteuerland und seiner Begegnung mit dem Schwarzen Sigurd. Außerdem wußte er von Jespers Erlebnissen in Hanwayan - dem Land hinter den Nebeln, wo es ja auf keine Weise gemütlich abgelaufen war. Fast im Gegenteil.
"Das muß aufhören," dachte Henrik plötzlich. "Es kann nicht immer gut enden." Er ließ die Schultasche Schultasche sein und rannte los - den Bürgersteig hinunter, über den Weg hinüber und weiter in den Wald, gerade da, wo er sie verschwinden gesehen hatte.
Er lief weiter auf dem Wald Pfad mit atemberaubenden Tempo. Er bekam Seitenstiche aber bemerkte sie kaum. Er lief so schnell er konnte, und während er lief war er sich mehr und mehr sicher, daß etwas faul war - total faul. Er hielt einen Augenblick an und blieb unbeweglich stehen in der dunklen Finsternis unter den gewaltigen Kronen der Bäume. Er lauschte mit angehaltenem Atem, während er zwischen die Stämme spähte.
Aber alles, was er hörte, war sein eigenes, wild hämmerndes Herz, und das sanfte Rauschen des Windes in den Baumkronen.
Er ging etwas weiter den Pfad hinunter, ohne auch nur die geringste Spur von ihnen zu finden. Zuletzt gab er widerstrebend auf und ging zurück zur Schule und zu Jespers Tasche, die immer noch vor den Pfeiler geworfen dalag.