Читать книгу Chong - Claus-Peter Bügler - Страница 5
1.
Оглавление>>Prinzessin Pei-Pei saß in einem finsteren Verließ, sie fror und zitterte. An der Wand des Kerkers, in den sie der böse Zauberer Fu-Chen geworfen hatte, loderte hoch über ihrem Kopf die gelbe Flamme einer Fackel ... ihr schönes, pechschwarzes Haar war ganz zerzaust und ihr hübsches weißes Kleid schmutzig geworden, denn sie lag auf dem kalten Kerkerboden in einem Bett aus Stroh ... überall um sie herum quietschten kleine Ratten ... <<
Su-Lin stieß ein kurzes, entsetztes >>Iiiieeehhhhh!<< aus und verkroch sich ganz spontan unter ihrer kuscheligen Bettdecke.
>>Ich glaube, die Geschichte ist zu gruselig für dich, deswegen sollten wir das Gutenachtmärchen besser hier beenden ... sonst bekommst du Angst und kannst schließlich die ganze Nacht nicht einschlafen ... <<
Su-Lin reckte wie eine Schildkröte ihren Kopf unter der Bettdecke hervor. >>Weitererzählen ... weiter ... weiter ... weiter ... bitte ... bitte ... <<, quengelte sie aufgeregt, doch Chong deutete mit sanftem Lächeln auf seine Armbanduhr.
>>Liebling, wir haben uns für Morgen viel vorgenommen ... wenn wir heute zu spät schlafen gehen, dann werden wir beide morgen früh so müde und schlapp wie zwei alte Elefanten sein und man wird uns auf den Eiffelturm hochtragen müssen, weil es unsere Beine nicht schaffen ... nein ... morgen haben wir alle Zeit der Welt für uns, um ganz viele tolle Dinge zu machen: Eis essen gehen, Spielen, Kino ... was immer du möchtest. Außerdem möchte ich nachher noch mit Mami telefonieren ... <<
Su-Lin seufzte. Am liebsten hätte sie den bösen Zauber Fu-Chen in einen Berg Eiscreme verwandelt und mit der Prinzessin gespielt, aber man konnte ja schließlich nicht alles haben und so gab sie schließlich klein bei. >>Einverstanden ... <<
>>Dann gute Nacht, mein Schatz, ich liebe dich ... << Chong gab seiner Tochter ein Küsschen auf die Stirn und löschte das Licht.
>>Ich hab' dich auch lieb, Papi ... gute Nacht ... <<
Er trat leise ins Nachbarzimmer und schaltete den Fernseher ein, doch die seichte Unterhaltung amerikanischer Sitcoms, die über die Mattscheibe flimmerte, konnte ihn nicht so recht begeistern und so schaltete er wenig später den Apparat wieder aus.
Chong sah auf die Uhr. In etwas mehr als einer Stunde würde das Flugzeug seiner Frau landen. >>Also noch ein wenig Zeit für etwas Bewegung ... <<
Während er in einen bequemen Jogginganzug schlüpfte dachte er darüber nach, wie rasend schnell doch die Zeit verging. Su-Lin, seine Tochter war jetzt acht Jahre alt, ein süßes Mädchen mit lustigen dunklen Augen und einem schwarzen Pagenhaarschnitt. Chongs Frau arbeitete als Stewardess und flog beruflich praktisch in der ganzen Welt umher, während Chong (mit richtigen Namen hieß er Li Chong Hanzhiou, aber da sich kein Mensch diesen Namen merken konnte, wurde er von allen Leuten, die beruflich oder privat mit ihm zu tun hatten, einfach nur kurz und bündig Chong genannt) als Geschichtsprofessor an der Pariser Universität beschäftigt war. Er trug sein pechschwarzes Haar kurz geschnitten und seine geheimnisvollen, dunklen Augen, die ihm gerade aus dem Garderobenspiegel entgegenlächelten, strahlten unverhohlen Freundlichkeit, Wärme und Weltoffenheit aus. Der dunkle Jogginganzug den er trug ließ niemanden nur im Geringsten etwas von dem durchtrainierten und muskulösen 42-jährigen Körper darunter erahnen, denn Chong war ein Kampfsportmeister ...
Er reckte und streckte sich einige Male genüsslich, tat ein paar tiefe Atemzüge, machte ein bisschen Stretching und trat schließlich hinaus auf die Straße. Mild-warme, sommerliche Abendluft schwebte über den Häusern und Straßen und die drückende Schwüle trieb Chong schon nach wenigen Minuten Jogging den Schweiß aus allen Poren. Er beschloss ein paar Kilometer am Seine-Ufer entlangzulaufen, doch es sollte anders kommen.
>>Seht euch mal den verkackten Reisfresser da an ... <<
Lautes Gelächter.
Chong erblickte eine Gruppe Jugendlicher, die er dem Drogenmilieu zuordnete. Sie saßen alle auf Bänken. Er beschloss weiterzulaufen, sich nicht um die Kids zu kümmern, als er von einer leeren Bierdose am Kopf getroffen wurde.
>>He ... Hop-Sing ... <<
>>Was glotzt du so dämlich, du Schlitzauge? Willst du was aufs Maul?<<, hörte Chong einen anderen rufen.
Er lächelte gelassen über das ganze Gesicht, während er langsam an die Gruppe herantrat. >>Bitte, ich bin bereit ... <<
Der Wortführer der Bande, ein langhaariger, unrasierter Schmuddeltyp in Jeans und Lederjacke, beäugte Chong wie einen Geistesgestörten. Ein leises Klicken ertönte und schon lugte zwischen den Fingern des Langhaarigen die silbrig-glänzende Klinge eines Stiletts blutgierig hervor. Die Spitze deutete auf Chongs Brust. >>Du bist offensichtlich nicht ganz normal, Alter ... wir sind zu fünft ... und wir werden dir gleich deinen gelben Arsch aufreißen, dass du es dein Leben lang nicht mehr vergessen wirst ... <<
Aus den Augenwinkeln konnte Chong nun erkennen, dass seine Gegner sich langsam verteilten, um ihn einzukreisen. Die meisten waren mit Flaschen und Messern bewaffnet, während ein dicker, rundlicher Kerl eine umgeschmiedete Fahrradkette in seinen fleischigen Wurstfingern umklammert hielt. Sein verschwitztes, rosafarbenes Gesicht versuchte zu grinsen, während der über seinem Gürtel schwabbelnde Fleischberg mit jedem Atemzug auf und nieder hüpfte.
Dann ging es los ...
Chong sah gerade noch rechtzeitig das Messer auf sich zuschießen, hörte das bedrohliche, böse Zischen der Klinge und duckte sich. Das Messer schoss über seinen Kopf hinweg und bohrte sich dem Kerl, der hinter ihm stand, bis zum Schaft ins rechte Auge. Der stieß einen markerschütternden Schrei aus und sackte zusammen, doch Chong hatte keine Zeit auf ihn zu achten. Er hechtete zur Seite, rollte sich ab, um aus dem Zentrum der Schläger herauszugelangen.
Der Langhaarige starrte fassungslos auf die blutige Klinge in seiner Hand, dann wieder auf den sich vor Schmerzen am Boden krümmenden Mann und urplötzlich spiegelte sich in seinen Zügen grenzenlose Wut. >>Macht den Scheißkerl fertig ... legt das Arschloch um ... reißt ihm seine verdammten Eier ab ... lasst ihn nicht entkommen ... <<, schrie er hasserfüllt.
Schon stürzten sich die verbliebenen vier gleichzeitig auf Chong.
Mit einem blitzschnellen, rückwärts gedrehten Fußtritt trat Chong einem der Schläger die Bierflasche aus der Hand und setzt ihn mit einem hammerharten Kick zum Kopf außer Gefecht, als ihn die Fahrradkette mit aller Wucht im Rücken traf. Ein wahnsinniger Schmerz jagte wie ein Expresszug durch Chongs Körper, lähmte ihn förmlich, ließ ihn für ein paar Sekunden straucheln.
>>Ich hab' ihn erwischt<<, jubelte der Dicke.
>>Und jetzt ... <<
Chong spürte, dass sich etwas Kaltes, Unnachgiebiges um seinen Hals legte und fühlte das Blut in seinen Schläfen hämmern und klopfen. Es dauerte eine Weile, bis sein Gehirn registrierte was sich abspielte, bis ihm klar wurde, dass gerade jemand dabei war, ihn unbarmherzig und eiskalt mit einer Fahrradkette zu erwürgen. Unzählige Schläge und Tritte prasselten unaufhörlich auf seinen Körper nieder. Vor seinen Augen begann sich bereits alles zu drehen, während seine Finger sich an der seinen Hals umschließenden Fahrradkette entlang tasteten und fieberhaft nach den Händen seines Würgers suchten. Chong wusste, dass dies seine einzige Chance war.
Endlich ertastete er etwas, das sich wie Daumen anfühlte. Es gab ein ekelhaftes, hässliches Geräusch, als der Knochen brach, wie ein dürrer Zweig der zerknackt.
Der Dicke stieß einen grellen Schrei aus und Chong konnte spüren wie sich der Druck, den die Kette auf seinen Hals ausgeübt hatte, schlagartig auflöste. Blitzschnell schlug er dem Dicken seinen Ellbogen ins Gesicht, wich geschmeidig dem Angriff des Kerls rechts vor sich aus, dem er mit einem Seitwärtstritt den Kiefer brach, als auch schon eine Messerklinge über Chongs Oberarm schrammte, den Stoff auftrennte und eine zehn Zentimeter lange, haarnadelfeine rote Linie auf der Haut zurückließ. Der Messerstecher stieß mit einem lauten, wütenden Aufschrei erneut zu, doch Chong war auf den Angriff vorbereitet. Er wich zur Seite aus, ließ die Messerklinge an sich vorbeizischen, ergriff das Handgelenk des Angreifers und führte einen harten Kniestoß zu dessen Ellbogen aus. Der brüllte wie ein wilder Stier, als sein Arm wie ein Streichholz brach.
>>Na, was ist? Ist dir die Lust schon vergangen? Wolltest du mir nicht eben noch aufs Maul hauen, oder irre ich mich da?<<, wandte sich Chong gefährlich ruhig an den Langhaarigen.
Der blickte unschlüssig zwischen dem Messer in seiner Hand und Chong hin und her. Dann wischte er sich plötzlich die blutige Klinge kurzerhand am Hosenbein ab, klappte das Messer zusammen und rannte wie vom Teufel gejagt davon. Chong wollte hinterher, doch der Dicke warf sich plötzlich mit seinem ganzen Gewicht auf ihn und sie stürzten beide zu Boden.
Chong hatte keine große Mühe seinen korpulenten Gegner, der durch seine unlängst gebrochenen Daumen sichtlich gehandicapt war, unter Kontrolle zu bekommen. Der Dicke schwitzte und ächzte, zappelte wie ein Fisch, winselte vor Schmerz und Erschöpfung, als Chong ihm hart den Ellbogen in die Leber rammte.
>>Jetzt wirst du am eigenen Leib erfahren wie es ist, wenn man gewürgt wird ... merk' dir die Lektion gut<<, sagte Chong kühl, während er dem Dicken dessen ledernen Gürtel aus der Hose zog.
Das Pfannkuchengesicht mutierte schlagartig von rosarot in eine fahlgraue Leichenblässe, denn der Dicke ahnte nur zu gut, was ihm bevorstand.
>>Ich werde dir jetzt aus deinem Gürtel eine hübsche, nette, kleine Schlinge machen und sie dir um deinen fetten Hals legen. Vorher ... << Chong lächelte sanft. >> … hätte ich ganz gerne ein paar Fragen von dir beantwortet ... <<
>>Einen Scheiß werde ich tun<<, schnaubte und keuchte der Dicke. >>Du wirst es nicht wagen ... <<
>>So, meinst du wirklich? Wie du willst ... ganz offensichtlich stehst du auf die harte Tour — hätte ich eigentlich nicht von dir erwartet, aber ... wenn du es so willst — bitte ... << Chong zerrte seinen weitaus schwereren Gegner mühelos zu der gut hüfthohen Brüstung am Wegrand, die das Ufer von der Seine abgrenzte. Mit leisem, gedämpftem Murmeln trieb der Fluss dahin, wobei er immer wieder kleine schaumige Wellen gegen das Ufer warf. Chong knotete das andere Ende des Gürtels an der Brüstung fest und stemmte schließlich seinen massigen Gegner wie ein Spielzeug in die Höhe, um ihn über das Geländer zu wuchten.
Der war mittlerweile von Panik und Erschöpfung geradezu gelähmt.
>>Also ... bist du jetzt endlich bereit, mit mir ein bisschen zu plaudern? Oder soll ich loslassen und zusehen wie du dich strangulierst?<<
Der Dicke schüttelte heftig den Kopf.
>>Na endlich wirst du vernünftig ... wird aber auch Zeit<<, sagte Chong lächelnd, doch registrierte, dass die Augäpfel des Kerls zitterten und nervös, geradezu suchend hin und her wanderten. >>Falls du nach deinen Freunden Ausschau hältst ... wie es aussieht haben sie dich im Stich gelassen ... genauso wie dein langhaariger Boss, der ebenfalls längst auf und davon ist.<<
Langsam aber unaufhörlich begann die Abenddämmerung den Tag aufzufressen.
>>Was ... was willst du von mir?<<, röchelte der Dicke schwerfällig.
>>Nun ... sagen wir mal eine kleine Auskunft. Wer ist der langhaarige, zottelige Typ — und vor allem: wo finde ich ihn?<<
>>Marcel, sein Name ist Marcel ... es gibt da ein Versteck ... tief unter der Erde ... in den Katakomben unter der Stadt ... dort halten wir uns oft auf ... <<
>>Die Katakomben ... das klingt ja richtig romantisch.<<
Als Geschichtsprofessor kannte Chong das viele Jahrhunderte alte riesige Labyrinth aus Stollen, Gängen und Höhlen tief unter Paris nur zu gut, wenngleich er noch nie die Gelegenheit gehabt hatte, jene berüchtigten Katakomben persönlich zu begutachten, doch das sollte sich schon bald ändern. Um die Katakomben, das wusste Chong, rankten sich unzählige schaurige Sagen und Legenden. Wahr ist, dass ein Teil jener unterirdischen Gewölbe in früheren Zeiten als eine Art Friedhof genutzt worden war. In manchen Abschnitten stapeln sich heute noch Skelette und Knochen bis unter die Decke. Für Touristen finden hier und da regelmäßig Führungen statt, jedoch ist bis heute der größte Teil dieser unvorstellbar riesigen unterirdischen Konstruktion praktisch unerforscht. Über die tiefer in der Erde liegenden Abschnitte existieren keinerlei überlieferte Karten oder Ähnliches. Wahr ist aus eben diesem Grund, dass immer wieder Menschen in den Katakomben spurlos verschwinden, weil sie sich in den zahllosen unterirdischen Gängen verirren, ohne jemals wieder das Tageslicht zu sehen ...
>>Hier ... in der Nähe ... Avenue St. Etienne ... dort kommt man am einfachsten rein ... <<
***
Das Telefon läutete mittlerweile schon ewig. Schließlich krabbelte Su-Lin schlaftrunken unter ihrer kuscheligen Decke hervor, tapste benommen durch ihr dunkles Zimmer, betätigte unbeholfen den Lichtschalter und fragte sich fieberhaft, wieso und warum ihr Vater denn nicht ans Telefon ging. >>Immer auf die Kleinen ... ich komme ja, du dummes Telefon ... <<
Kurz darauf nahm sie den Hörer ab und meldete sich mit einem schüchternen, zaghaften >>Hallo?<<
>>Su-Lin?<<
>>Mami?<<
>>Kleines, Mami wollte eigentlich deinen Vater sprechen ... wieso bist du noch nicht in deinem Bett?<<
>>War ich doch ... im Bett ... das Telefon hat mich geweckt<<, verteidigte sich Su-Lin entrüstet.
>>Das tut mir leid, Liebes ... aber wieso bist du ans Telefon gegangen und nicht dein Papi? Er hat doch sicher ebenfalls das Läuten gehört, oder?<<
Su-Lin biss sich verlegen auf die Unterlippe, während sie aufgeregt in die Stille der sie umgebenden Wohnung lauschte, die lediglich durch die Stimme aus dem Telefonhörer unterbrochen wurde. Dann kam ihr plötzlich eine Idee. Sie legte rasch den Hörer neben dem Telefon auf der kleinen Kommode ab und sauste in den angrenzenden Flur, um ihren Verdacht bestätigt zu sehen, denn mit einem Blick konnte sie feststellen, dass ein paar Schuhe — die ihres Vaters — fehlten. Auch der Wohnungsschlüssel hing nicht im Schlüsselkasten.
>>Su-Lin? Su-Lin? Ich möchte, dass du mir auf der Stelle erklärst was hier vor sich geht ... <<
Erschrocken hastete das Mädchen zum Telefon zurück. >>Vati ... er ... er ... also ... er wollte spazieren gehen ... genau ... er hat gesagt, dass er noch spazieren gehen wollte ... <<
>>Um diese Urzeit? Es ist weit nach Mitternacht ... will er etwa irgendwelche Geister vertreiben? ... geht einfach fort und lässt dich allein ... na, dein Vater bekommt von mir aber gründlich was zu hören ... <<
>>Mami, ich bin doch kein kleines Baby mehr<<, widersprach Su-Lin energisch, doch sie biss bei ihrer Mutter auf Granit.
>>Schatz, darum geht es nicht ... es geschehen heutzutage so viele schlimme, böse Dinge auf der Welt und deine Mama hat einfach Angst, dass dir was passiert ... versteh' das bitte ... <<
***
Der Mann war ziemlich ungepflegt und roch streng nach einer unangenehmen Mischung aus Schweiß, Alkohol und Nikotin. Während er sein Portemonnaie hervor fingerte warf er der hübschen jungen Frau, die vor ihm auf einem schäbigen Bett in einem winzig kleinen und spärlich eingerichteten Zimmer saß, einen verächtlichen Blick zu. >>Du dreckige, geile kleine Schlampe ... du kannst es wahrscheinlich kaum noch erwarten, du geile, kleine Sau, was?<<
Mina schloss angewidert ihre dunklen, großen Augen, so wie sie es eigentlich immer tat, bis sich ihr jeweiliger Freier in ihr ergossen hatte. Doch diesmal war es anders, vollkommen anders sogar, denn sie hatte endgültig genug von der Prostitution und war fest dazu entschlossen auszusteigen.
Die junge Thailänderin erinnerte sich schmerzlich daran, wie sie mit 14 Jahren bereits vergewaltigt, missbraucht und zur Prostitution gezwungen worden war. Schließlich hatte man sie kurzerhand nach Europa verschleppt, wo sie, bar jeglicher Verwandter und Freunde — ihren Zuhältern hilflos ausgeliefert war. Mina wusste, dass niemand sie vermissen würde, wenn sie einfach von der Bildfläche verschwand, so wie es ihre Zuhälter schon mit etlichen Mädchen, die genau wie sie aussteigen wollten, gemacht hatten, doch sie war mittlerweile an einem Punkt angelangt, an dem sie lieber sterben würde, als weiter die Beine breitzumachen. >>Verpiss' dich!<<, spie sie schließlich ihrem Freier verächtlich entgegen.
>>Ich hör' wohl nicht recht ... pass auf was du sagst, du Schlampe, sonst ... <<
Mina erkannte, wie die Schläfenarterien des Freiers energisch zu arbeiten begannen und ihm förmlich das Blut ins Gesicht schoss, während seine rechte Hand weit zum Schlag ausholte.
>>Sonst was? Willst du mich schlagen, du Schwein? Versuch' es ... dann kannst du danach ziemlich sicher sein, dass man dich aus diesem Haus raus tragen wird ... aber in einer dieser grauen Metallbüchsen ... <<
Minas Stimme hatte einen warnenden, gefährlichen Unterton, den der Mann klugerweise nur zu gut verstand. Da er absolut keine Lust verspürte, sich mit irgendwelchen Zuhältern anzulegen, ließ er schließlich seine Hand wieder sinken.
>>Ich hab' dir Geld gegeben ... <<
>>Schieb' es dir in deinen fetten, verdammten Arsch und verschwinde ... hau' endlich ab<<, schrie die junge Frau aufgebracht, als plötzlich die Tür aufgerissen wurde und sich vier massige Männer, von denen jeder mehr Tätowierungen besaß als ein Maori, in das ohnehin schon enge Zimmer hineinzwängten.
>>Mina, du solltest dich etwas gastfreundlicher verhalten ... das kann so nicht weitergehen <<, sagte einer der Kerle, ein bulliger Kleiderschrank mit kahlrasiertem Schädel.
>>Die Schlampe ist einfach bockig ... ziert sich wie 'ne Jungfrau<<, warf Minas vermeintlicher Freier ein, doch unter den drohenden Blicken der ihn umgebenden Männer steckte er schnell zurück und machte sich aus dem Staub.
Der Glatzköpfige kramte plötzlich ein Stilett hervor. Die junge Thailänderin zuckte unwillkürlich zurück, als die Spitze der kalten, glänzenden Klinge sanft über ihre Wange strich. >>Mina ... Schätzchen ... du und deine süße, kleine Muschi ... ihr seid mir in all den Jahren richtig ans Herz gewachsen ... und es täte mir in der Seele weh, wenn ich mit meiner Klinge die hübsche Haut in deiner schönen Hurenvisage ein bisschen peelen müsste ... nur ein wenig — allerdings: Danach wirst du nicht mehr hübsch sein ... <<
>>Bertrand, du kannst dir dein beschissenes Gesabber sparen<<, erwiderte Mina heftig, wobei sie wütend mehrmals nach der Messerhand schlug, bis sie kurzzeitig aus ihrem Blickfeld verschwand. >>Du kotzt mich ganz einfach nur an ... ihr alle kotzt mich an ... ich habe genug, jeden Tag eure erbärmlichen Visagen sehen zu müssen<<, schrie sie nun fast schon hysterisch und sprang auf, um einem der Männer, der versuchte, sie an den Haaren zu zerren, hart zwischen die Beine zu treten.
>>Okay, okay ... wir kotzen dich also an, du dreckige Schlampe? Und du würdest gerne aussteigen, oder wahrscheinlich einfach so von hier verschwinden, was? Das kannst du haben, du ausgelutschte Nutte<<, warf der Kerl, der auf den Namen Bertrand hörte, leise und emotionslos ein. Der Zuhälter tauschte mit den anderen Männern eindeutige Blicke aus, dann wandte er sich wieder an die junge Frau: >>Du bist ab sofort draußen ... für immer und ewig. Allerdings wirst du niemals mehr dazu kommen, deine neue Freiheit zu genießen, weil wir dich noch heute Nacht kalt machen werden ... ich weiß auch schon einen netten, gemütlichen Ort, wo wir dich abladen werden, wenn wir mit dir fertig sind ... dir wird es sicher ganz gut dort gefallen ... du wirst um deinen Tod noch betteln, das schwör' ich dir ... <<
Minas Gesichtsfarbe mutierte zu einem käsigen Weiß, denn sie ahnte, wohin man sie verschleppen würde. — In die Katakomben, tief unter der Stadt ... Niemand würde sie schreien hören, nicht einmal, wenn sie sich die Seele aus dem Leib schrie. Niemand würde jemals ihre Leiche finden, oder das, was die Ratten davon noch übrig lassen würden ...
***
Zur gleichen Zeit im Pentagon, dem amerikanischen Verteidigungsministerium: >>Schon wieder so ein beschissener Anruf von irgendeinem Verrückten. Das müssen Sie sich anhören ... vermutlich irgend so ein Drogenfreak<<, rief der Mann im Vorbeigehen Specialagent Heller zu.
Der nippte gerade vorsichtig an seinem siedend heißen Kaffee. Heller war heilfroh, dass ihn der andere, der offenbar in Eile war, nicht angerempelt hatte, denn er trank seinen Kaffee lieber als ihn sich vom Jackett lecken zu müssen.
Wenig später hörte er sich interessiert mit einem runden Dutzend weiterer Sicherheitsleute die Aufzeichnung an. Sie kam von einem Band und was den Männern spontan auffiel, war der geradezu fanatische, hasserfüllte und aggressive Klang der Stimme. Ansonsten verstand zunächst keiner auch nur ein einziges Wort.
>>Shit ... das hört sich verdächtig nach Arabisch oder so etwas in der Art an ... Wir brauchen so schnell es geht einen Übersetzer<<, rief einer der Anwesenden schließlich und grapschte nach seinem Handy.
>>Das war kein Verrückter ... ich glaube, wir haben ein ernstes Problem<<, warf Heller düster ein.
Die Sicherheitsberaterin des Präsidenten starrte ihn fassungslos an. Allen steckte der Schrecken des 11. September noch tief in den Knochen und die Angst vor einem erneuten Terroranschlag wollte niemals mehr aus ihrem Bewusstsein weichen, so grausam war die Erinnerung.
>>Informieren Sie bitte umgehend den Präsidenten ... womöglich haben wir es gerade mit einer erneuten Terrordrohung zu tun ... <<
Einige Zeit später lag im Pentagon die schriftliche Übersetzung der Botschaft, die der offensichtlich ausländische Anrufer hinterlassen hatte, vor. Specialagent Heller griff nach dem Blatt und wurde beim Überfliegen des Textes bleich wie eine alte Leiche: Im Namen Allahs ... des Mächtigen ... des Weisen ... Wir sind die gerechten Krieger Allahs und sind bereit, für unseren Glauben und unsere Ziele zu sterben ... wenn ihr ... amerikanischen, imperialistischen Hunde ... diese Botschaft hört, ist der Tod bereits über euer Land hereingebrochen ... ihr werdet alle sterben ... Tod und Verderben euch allen ... mögen eure Seelen in der Hölle schmoren.
Unter den Anwesenden machte sich schlagartig eine unangenehme, an den Nerven zerrende Stille breit.
>>Diese fanatische Stimme ... das klingt nach<<, überlegte jemand.
>>Karem-Abu Jossr.<<
Die Sicherheitsberaterin des Präsidenten tätigte einen kurzen Anruf mir ihrem Handy und kurz darauf kam ein kahlköpfiger Mittvierziger schnaufend mit einer dicken Akte in den Raum gerannt. Sie nahm dem Mann rasch die Akte ab, überflog eilig die Seiten und wandte sich anschließend wieder an die restlichen anwesenden Pentagonmitglieder.
>>Gentlemen ... Karem-Abu Jossr ... geboren am 10.11.1950 in Riad ... Sohn eines reichen Geschäftsmannes ... sechs weitere Geschwister ... Studium in Oxford und Harvard cum laude ... Promotion in Jura und Medizin ... hochintelligent, aber auch ebenso eiskalt, fanatisch und gewissenlos ... mit 20 Jahren bereits Extremist gewesen ... aktiver Al-Khaida-Terrorist über etliche Jahre hinweg ... wurde allerdings mit der Zeit immer machthungriger und gründete schließlich aus einer Al-Khaida-Splittergruppe eine eigenständige Terrororganisation ... wir hatten zuletzt vor Monaten was von ihm gehört ... aus Europa ... genauer aus Paris ... damals war vor einem Hotel, in dem überwiegend Amerikaner wohnen, eine Autobombe hochgegangen, nachdem uns ein arabischer Anrufer darauf hingewiesen hatte ... der Anrufer war zweifelsohne Jossr ... <<
>>Dann müssen wir unverzüglich das ganze Land wegen der Gefahr eines drohenden Terroranschlags in Alarmbereitschaft versetzen.<<
Die Sicherheitsberaterin nickte düster. >>Allerdings ... wenn etwas passiert, dann wissen wir momentan leider noch nicht wo ... <<
Das Telefon läutete. Es war ein besonderes, rotes Telefon und stand auf einem dunklen Mahagonisideboard. Das Besondere daran war jedoch, dass die Leitung nur in dringenden, die innere Sicherheit gefährdenden Situationen von der jeweiligen Stelle benutzt werden durfte.
>>Ich glaube, das ändert sich gerade<<, fügte Specialagent Heller düster hinzu, indem er auf das Telefon deutete.
Es klingelte ein weiteres Mal, schrill und grell. Price, die Sicherheitsberaterin, fühlte wie ihr Herz zu hämmern begann. Als sie das letzte Mal jenen verdammten Hörer abgenommen hatte war es, um die Informationen über den Terroranschlag auf das World Trade Center in Empfang zu nehmen …
Es klingelte erneut.
>>Ich finde, wir sollten endlich rangehen<<, hörte Price jemand sagen und fasste sich ein Herz. Schweigend nahm sie den Anruf entgegen, holte tief Luft und wandte sich kurz darauf wieder an die sie umgebenden Männer: >>Gentlemen ... es hat eine heftige Explosion gegeben ... im New Yorker Hauptbahnhof ... die Lage vor Ort scheint ziemlich übel zu sein, denn die Sicherheitskräfte haben derzeit noch keinen Überblick über mögliche Opfer oder Verletzte ... offensichtlich hat sich irgendjemand selbst in die Luft gesprengt ... <<
***
>>He Sie, hallo Sie ... kommen sie da weg ... gehen Sie runter von den Schienen ... mein Gott hören Sie nicht? Runter von den Schienen! Sind Sie noch normal?<<
Der Mann, der da so stillschweigend auf den Gleisen stand, reagierte nicht. Lächelnd wie eine unbewegliche Statue stand er da, als würde er es genießen, von dem in irrsinnigem Tempo heranrasenden Schnellzug in Stücke gerissen zu werden. Er hatte schulterlanges, schwarzes Haar, die mit seinen dunklen, intensiven Augen harmonierten. Niemand konnte ahnen, dass sich unter dem nachtschwarzen Mantel des Mannes — ganz offensichtlich ein Orientale — rund 20 Kilogramm Sprengstoff versteckten. >>Tod ... Tod ... Tod über euch alle ... ihr werdet alle sterben ... ihr habt den Tod verdient ... <<, schrie er plötzlich und riss ruckartig die Hände in die Höhe. Im gleichen Augenblick wurde sein Körper von dem heranpreschenden Zug erfasst und hart durch die Luft geschleudert, als es auch schon einen ohrenbetäubenden Knall gab und ein widerlicher Regen aus Blut und Fleischfetzen auf die in Panik an den Bahnsteigen umherrennenden, schreienden Menschen niederging. Die Nase des Schnellzugs hob fast zwei Meter vom Boden ab, bis die Lok ächzend und stöhnend beinahe auf der Seite zu liegen kam und von den dahinterliegenden Waggons mit immer noch enormer Geschwindigkeit weitergeschoben wurde, geradewegs auf einen Güterzug zu, der 100.000 Liter hochexplosives Kerosin geladen hatte ...
>>Raus hier ... schnell ... hier wird gleich alles in die Luft fliegen<<, schrie irgendwo ein Mann, während woanders Frauen und Kinder weinten und blutüberströmte Verletzte mit abgerissenen Gliedmaßen sich im Todeskampf verzweifelt auf dem Boden wälzten.
Es war ein einziges Bild des Grauens.
Specialagent Jamal hatte an jenem Tag eigentlich dienstfrei und nun fand er sich wider Erwarten in einem unfassbaren, katastrophalen Inferno wieder. >>Sieht aus wie nach einem Bombenangriff ... bin mal wieder zur falschen Zeit am falschen Ort<<, seufzte er.
Die Explosion des Sprengstoffes, den der Selbstmörder am Leib gehabt hatte, war so immens gewesen, dass sie einen Teil des Bahnsteiges förmlich weggerissen hatte. Ein grauer Totenteppich aus Staub und Betonsplittern bedeckte den Boden, über den augenblicklich eine völlig verstörte, verängstigte Herde dahin rannte. Die Lok des entgleisten Zuges ragte über dem Kerosin-Zug auf, wie der schiefe Turm von Pisa, Flammen schlugen aus dem Motorblock.
>>Du lieber Himmel ... meine Tochter ... meine Tochter ist in dem Zug ... <<
>>Madam ... es tut mir leid ... sie können nicht weiter ... bitte kehren sie um ... bringen Sie sich in Sicherheit<<, gab Jamal ihr zu verstehen und bemühte sich seine Stimme ruhig und unbeteiligt klingen zu lassen, doch er spürte, wie seine eigenen Worte ihm eine Gänsehaut über den Rücken jagten, denn unwillkürlich musste er an seine eigene Tochter Cathy denken ... Jamal drängte die Frau sanft aber bestimmt zurück. >>Ich werde versuchen, ihnen zu helfen ... aber Sie müssen mir versprechen — auch, wenn es schwerfällt — vernünftig zu bleiben ... versprechen Sie mir das?<<
Sie nickte schwach.
>>Okay, dann begeben Sie sich bitte zum Ostausgang ... dort sind Sie in Sicherheit.<< Jamal ließ sie stehen, ohne ihre Antwort abzuwarten, denn er hatte keine Zeit zu verlieren. Die brennende Lok zitterte und es machte den Eindruck, als wolle sie jeden Moment auf den Güterzug kippen.
>>Fuck!<<, zischte Jamal leise, während es hinter seiner schweißbedeckten Stirn auf Hochtouren arbeitete. Fieberhaft suchte er nach einem Plan oder wenigstens dem Anzeichen einer Idee und er spürte, wie ihm die Zeit wie feiner Sand aus den Händen glitt. Er fühlte sich hilflos und zugleich auch wütend, denn es wollte ihm einfach nichts in den Sinn kommen, jedenfalls nichts Verwertbares, um den verdammten Zug aufzuhalten und damit die Katastrophe zu verhindern ...
Ein älterer, hochgewachsener Mann in dunkler Uniform rempelte ihn im Vorbeirennen versehentlich an. >>Verzeihung<<, lispelte der Mann mit hochgezogenen Schultern.
>>Sie sollten machen, dass Sie schnellstmöglich von hier verschwinden ... wird gleich 'nen Riesenknall geben ... << Ehe der Schaffner wieder verschwinden konnte, hatte Jamal ihn hart am Arm gepackt und ihm seinen Dienstausweis unter die Nase gerieben. >>Sie werden sich jetzt augenblicklich mit dem zuständigen Fahrdienstleiter in Verbindung setzen und ihn dazu veranlassen, dass dieser Gott verfluchte, mit Kerosin beladene Güterzug dort vorne weggefahren wird, weil sich ansonsten einige Hundert Tonnen Blech in seinen dämlichen Arsch bohren werden ... haben Sie mich verstanden?<<
Der Mann nickte ebenso hastig wie verblüfft.
>>Und noch etwas ... << Jamal reichte ihm sein Handy. >>Sagen Sie ihm, er soll sich beeilen ... uns bleiben ungefähr noch 30 Sekunden ... <<
***
Chong hatte unterdessen die Avenue St. Etienne erreicht und freute sich bereits auf ein Wiedersehen mit jenem langhaarigen Zotteltyp von zuvor, doch es sollte völlig anders kommen ...
Die Avenue lag geradezu ausgestorben und menschenleer vor ihm, doch etwas erregte plötzlich seine Aufmerksamkeit: Rasch zog er sich in eine dunkle Nische zurück und verfolgte gespannt, wie — keine 20 Meter vor ihm — drei Männer eine junge Frau aus einem schwarzen Wagen zerrten. Wenige Augenblicke später schienen die vier Personen geradezu geisterhaft von der Bildfläche verschwunden zu sein. Chong wartete noch ein paar Sekunden, horchte aufmerksam in die ihn Stille und trat schließlich aus seinem Versteck hervor. Langsam und vorsichtig kam er näher.
Hinter dem dunklen Wagen entdeckte er einen großen Gullydeckel, dicht am Rande eines kreisrunden, schwarzen Loches, das in eine schier bodenlose, undurchdringliche Tiefe zu führen schien. An der Wand des Schachtes befanden sich rostige, alte Sprossen. Chong setzte vorsichtig einen Fuß auf die oberste und stellte erleichtert fest, dass sie seinem Gewicht standhielt. Als er hinter seinem Rücken ein leises, tückisches Klick hörte wurde ihm siedend heiß klar, dass er einen fatalen Fehler gemacht hatte ...
>>Du hast dir den falschen Spielplatz ausgesucht, mon Ami. Weißt du, was mit Leuten geschieht, die zu neugierig sind? Die verschwinden einfach von der Bildfläche ... tauchen nie wieder auf<<, flüsterte der Mann hinter Chongs Rücken gefährlich ruhig. Offensichtlich hatte der Kerl einfach in dem Wagen gewartet und nun zielte er auf Chongs Hinterkopf.
>>Das muss sich erst noch rausstellen<<, erwiderte Chong gelassen, dann ließ er los ... und fiel wie ein Stein in die unergründliche, schwarze Tiefe.
Er landete mitten in einer hüfthohen, nach Moder stinkenden Brühe. Mit den Händen rudernd ertastete er schließlich den Rand des Kanals, als ihm eine vorbeihuschende Ratte in den Arm biss. Fluchend zog er sich erschöpft auf den trockenen Beton hinauf. Ganz offensichtlich befand er sich in einem der Kanäle des städtischen Abwassersystems, doch die Dunkelheit ließ zunächst keine weiteren Rückschlüsse zu. Worauf habe ich mich da bloß eingelassen ... Han-Yeun wird mir die Augen auskratzen, wenn sie erfährt, wo ich mich gerade rumtreibe. Hoffentlich hat sie noch nicht zu Hause angerufen ... großer Gott ...
Ein unangenehmes, beängstigendes Gefühl beschlich ihn mit einem Mal, während er hastig seine klammen Hosentaschen durchwühlte. >>Die Schlüssel ... verflixter Mist<<, fluchte er leise. >>Was, wenn einer dieser Mistkerle die Schlüssel gefunden hat ... und ... << Chong wollte in seiner augenblicklichen Lage jenen Gedanken nicht zu Ende denken, dazu blieb ihm auch überhaupt keine Zeit, denn über seinem Kopf erklangen plötzlich gedämpfte Geräusche, die ihm von Mal zu Mal näher erschienen — einer der Ganoven kletterte gerade den Schacht hinunter ...
>>Salut, Chinamann<<, zischte der Kerl verärgert, als er sich auf den Boden hinabließ, um mit der freien Hand seine Waffe zu ziehen.
Katzengleich stieß Chong sich von der Wand ab und duckte sich gerade noch im richtigen Augenblick, als mit ohrenbetäubendem Grollen eine Kugel über seine Haarspitzen hinweg pfiff.
>>Was ist da los? Ihr beiden seht nach!<<, hörte Chong nicht weit entfernt eine dunkle Männerstimme brüllen und schon hallten ihm hämmernde Schritte aus einem der umliegenden, finsteren Gänge entgegen.
Er wäre froh gewesen, wenn der Kerl vor seiner Nase nicht zum Schuss gekommen wäre, aber das war nun mal nicht zu ändern. Er verpasste seinem Angreifer blitzschnell einen Faustschlag auf die Nasenwurzel und platzierte einen weiteren in die Leber seines Gegners. Der Schlag ließ den Kerl mit weit aufgerissenen Augen zusammensacken.
Aus der entgegengesetzten Richtung fielen plötzlich Schüsse in der Dunkelheit, laut und ohrenbetäubend. Kaum hatte sich Chong geistesgegenwärtig zu Boden fallen lassen, als auch schon die ersten Kugeln über seinen Kopf hinweg knallten. Aus der anderen Richtung hörte Chong mehrere Männer konfus durcheinander schreien. Irgendwo glaubte er auch die Stimme einer Frau zu hören und da endlich begriff er, was gespielt wurde: er lag genau zwischen den Fronten, denn aus dem dunklen Gang zu Chongs linker Seite ballerte irgendein Unbekannter wie verrückt in seine Richtung, während sich von rechts ein paar Kerle näherten, die einige Zeit zuvor eine hübsche Thailänderin hier herunter verschleppt hatten und mit den Typen war nicht zu spaßen.
Das mörderische Stakkato einer MP5 mähte todbringend über Chong hinweg und im gleichen Atemzug schrie in der Dunkelheit zu seiner linken jemand gellend auf. Es war ein kurzer, greller Schrei, dessen schauriges Echo tausendfach von den Wänden widerhallte. Gnadenlos zerfetzte die Maschinenpistole weiterhin die Luft und Chong wurde mit Lichtgeschwindigkeit klar, dass er etwas tun musste, wenn er nicht von den Kugeln der langsam näher rückenden Kerle durchsiebt werden wollte. Er verwarf den Gedanken, einfach aufzustehen und schnellstmöglich den Schacht hinauf ins Freie zu klettern rasch wieder, denn noch ehe er die Straße erreicht hätte, würde man ihn abknallen wie einen alten Straßenköter. Also holte er tief Luft, schloss die Augen und rollte sich in die widerliche Brühe zurück. Während seiner Militärzeit in der Volksbefreiungsarmee, die nun schon etliche Jahre zurücklag, hatte er sich an so viele unangenehme Dinge gewöhnen müssen, die vermutlich jedem Normalsterblichen den Magen umgedreht hätten, dass ihm das Tauchen in jener Kloake fast schon paradiesisch erschien.
Chong wusste, dass er ein Mensch ohne Vergangenheit war, denn sein Lebenslauf war genauso gefälscht wie sein Personalausweis, Geburtsurkunde sowie seine sonstigen persönlichen Dokumente. Niemand schien es zu kümmern, dass einige Jahre zuvor ein gewisser Li Chong Hanzhiou quasi aus dem Nichts aufgetaucht war. Niemand, nicht einmal Chongs derzeitige Frau ahnte etwas von seiner Vergangenheit und das war auch gut so, denn immerhin galt er seit zwölf Jahren als tot ...
Chong tauchte ein langes Stück in jene Richtung, aus der der Pistolenschütze geschossen hatte, und nachdem er überzeugt war, dass der Typ von den MP-Salven getroffen worden war, zog er sich vorsichtig auf den betonierten Steg. Seine Hände ertasteten warmen, blutdurchtränkten Stoff. — Dem armen Teufel war wohl nicht mehr zu helfen.
>>Hey, bleib stehen du Mistkerl<<, brüllte irgendjemand aus der Dunkelheit hinter ihm, gerade als die Maschinenpistolen für einen winzigen Moment ihr Todeslied unterbrachen, so als wollten sie noch ein letztes Mal Atem schöpfen, bevor sie Chong endgültig das Licht ausbliesen.
Der Lichtstrahl einer Taschenlampe zielte plötzlich auf seinen Kopf und blendete ihn einige Sekunden, während er hörte, wie seine Verfolger neue Magazine in ihre Waffen schoben. Ohne zu zögern sprang er auf und rannte los, tiefer in den Gang hinein. Etliche Male stolperte, rutschte und stürzte er ziemlich schmerzhaft, stöhnte und fluchte, kam wieder auf die Beine wie ein Betrunkener und torkelte weiter. Urplötzlich ertastete er in der Dunkelheit zu seiner linken einen Spalt und zwängte sich hinein, als seine Verfolger erneut das Feuer eröffneten. Chong vermutete, dass er sich in irgendeinem Seitengang befand. Der Boden unter seinen Schuhen knirschte laut und verräterisch durch die Schwärze, was ihm gar nicht gefallen wollte. Offensichtlich trat er über steiniges Geröll, sodass man jeden seiner Schritte weithin hören konnte, wodurch er sich selbst verriet. Er kam nicht sehr weit, denn eine kalte, metallische Fläche versperrte ihm plötzlich den Weg. Er stieß einen unterdrückten Schmerzlaut aus, als er in der Dunkelheit mit der Schulter gegen die Stahltür knallte. Irgendjemand rief unverständliche Worte jenseits der Tür, die sich überraschend und unerwartet öffnete, wodurch Chong vorwärts strauchelte und den Mann vor sich fast umgerempelt hätte, wenn dieser nicht gerade noch rechtzeitig zur Seite gesprungen wäre.
>>Die Tür<<, keuchte Chong, als auch schon die Hölle losbrach.
Er musste mit ansehen wie der junge Mann der ihm geöffnet hatte blutüberströmt zusammensackte ... wie eine Marionette, der man die Fäden abgeschnitten hatte. Eine MP-Salve hatte ihm den halben Unterkiefer weggerissen. Es war ein scheußlicher Anblick.
Die Kugeln rissen den Putz von den Wänden, unzählige Querschläger pfiffen höhnisch durch den Raum. In einer Ecke der gut und gerne sechsmal vier Meter großen Kammer kreischte eine Frau. Eine verirrte Kugel hatte sie getroffen und ein fingergroßes Fleischstück aus ihrem Oberarm gerissen.
>>Die Tür!<<
Einer der Anwesenden begriff schlagartig und trat mit aller Wucht gegen den schweren Stahl. Krachend donnerte die Tür ins Schloss und von einem Moment zum anderen verstummten die Schüsse.
>>Scheiße ... das ist alles die Schuld von diesem dummen Wichser da. Wir sollten ihn lieber gleich umlegen<<, schrie einer der Junkies aufgebracht. >>Dieses dumme Arschloch hat die Typen da draußen schließlich hierher geführt ... <<
Erst jetzt hatte Chong Gelegenheit, sich umzusehen. Er befand sich in einer Art Kammer, die von mehreren Petroleumleuchten sanft erhellt wurde. Auf dem Boden waren etliche schmutzige Decken ausgebreitet worden. Darauf erblickte Chong jede Menge einschlägiger Drogenutensilien wie Haschpfeifen, Spritzen, Zigarettenschachteln, sowie ein immenses Bataillon Wodkaflaschen. Chong sah sich von etwa 15 Männern und Frauen umgeben, von denen die meisten allerdings völlig zugedröhnt am Boden hockten und mit glasigem Blick in die Gegend glotzten. Kaum jemand nahm Notiz von der verletzten jungen Frau in der Ecke.
Der Wortführer fischte plötzlich aus seiner Jacke eine Waffe hervor und fuchtelte damit wie wild vor Chongs Nase herum. >>Sind das Bullen?<<, stieß der Junge fast schon hysterisch hervor, wobei er Chong mit seinen glasig-trotzigen Augen förmlich durchbohrte.
Chong vermutete, dass der Junkie genug Rauschgift in den Venen hatte, um eine ganze Kleinstadt zu beglücken, aber deswegen war dieser Kerl nicht ungefährlich — im Gegenteil. Er wusste nur zu gut, dass gerade unter Alkohol- und Drogeneinfluss das Schmerzempfinden nahezu ausgeschaltet sein konnte, während diese unliebsamen Zeitgenossen kurzfristig geradezu übermenschliche Kräfte entwickelten. Jeder, der schon einmal erlebt hat, wie Drogensüchtige — vor allem im Entzug — wütend können weiß, wovon die Rede ist. Es wäre Chong zwar ohne Weiteres möglich gewesen den Junkie auszuschalten, doch er konnte schwer abschätzen, wie sich die restliche Clique dann verhalten würde. Sicher waren so gut wie alle auf die eine oder andere Art bewaffnet, also würde er versuchen noch eine Weile zu pokern.
>>Sieh' dich um. Würden die Bullen so etwas tun? Hier aufkreuzen und gnadenlos alles niedermähen?<<, erwiderte er betont ruhig, wobei er seinem gegenüber fest und ohne Angst in die Augen blickte.
>>Scheiße ... << Der andere spuckte fluchend auf den Boden.
>>Was ist mit Marcel? Wo steckt er? Wo zum Teufel bleibt er? Wann, verdammt, trifft er endlich hier ein?<<
Chong musste an den Jungen denken, der da draußen in jenem dunklen Gang vor nicht allzu langer Zeit niedergemetzelt wurde. Langsam schüttelte er den Kopf. >>Ich glaube nicht, dass er jemals wieder auf eure Party kommen wird<<, entgegnete Chong leise, wobei er auf den am Boden liegenden Toten deutete.
Der andere verstand die Botschaft und schluckte hörbar. >>Wir sollten diese Schweine dort draußen plattmachen ... umlegen ... alle ... <<
>>Womit? Mit euren lächerlichen Schießeisen gegen ein paar Maschinenpistolen? Das wäre ungefähr so, als ob man versuchen wollte mit einer Schleuder einen Panzer aufzuhalten ... <<
Zeitlupenartig ließ der Junkie schließlich seine bewaffnete Hand sinken, als wäre ihm plötzlich das Gewicht unerträglich geworden, doch das Blatt wendete sich schlagartig zu Chongs Ungunsten, als draußen jemand forsch mit den Fäusten gegen die Tür hämmerte.
>>Wir bieten euch einen Tausch an ... gebt uns diesen verdammten Chinesen und ihr erhaltet von uns eine hübsche, schnuckelige Schlampe, mit der ihr euren Spaß haben könnt ... solange ihr wollt<<, brüllte jemand hinter der Tür.
Ein unrasierter, schmuddeliger Typ, der sich unbeholfen um die verletzte junge Frau kümmerte, nickte dem bewaffneten Wortführer schwach zu. >>Wir sollten ihnen diesen Flachwichser ... <<, er spie verächtlich aus, >>ausliefern ... schließlich ist dieser Typ an allem schuld.<<
>>Du hast recht, Roger<<, erwiderte der andere ohne Zögern und Chong musste unwillig mit ansehen, wie sich die Hand mit der Pistole nach und nach wieder anhob, bis der schwarze Lauf direkt auf seine Stirn zeigte.
>>Glaubt ihr wirklich, die Jungs da draußen werden euch auch nur eine Sekunde am Leben lassen, wenn ihr ihnen die Tür öffnet und sie hier hereinspazieren lasst? Das sind ziemlich abgebrühte, eiskalte Killer. Die werden keine Zeugen am Leben lassen ... die werden euch ohne mit der Wimper zu zucken ausknipsen ... und zwar alle<<, warf Chong ein, doch es war vergeblich.
>>Halt' dein gottverfluchtes, verdammtes Maul, Mann!<<, herrschte der Kerl mit der Pistole ihn bissig an.
>>Roger ... behalte diesen Wichser im Auge. Ich werde jetzt die Tür öffnen ... <<
Aus den Augenwinkeln heraus erkannte Chong, dass der Junkie namens Roger nun mit einer Art Pumpgun — eine dieser großkalibrigen mit abgesägtem Lauf — auf seine Brust zielte, wobei er ihn mit kaltem, starrem Blick fixierte.
>>Wenn dieses schlitzäugige, kleine Arschloch auch nur ein bisschen mit dem Schwanz zuckt, pustest du ihn um.<<
Roger nickte grinsend. >>Mit Vergnügen ... <<
Chong war sich darüber im Klaren, dass der Typ mit der Pumpgun eiskalt abdrücken würde, falls er sich bewegte, wodurch sich sein Gehirn hässlich an den Wand verteilen würde, da kam ihm beim Anblick der Petroleumlampen die rettende Idee.
>>Einverstanden ... ich werde jetzt öffnen<<, schrie der bewaffnete Junkie, der Stahltür zugewandt.
>>In Ordnung wir werden nicht schießen. Wir schicken euch zuerst die Nutte rein. Wenn sie drin ist, gebt ihr uns den Chinesen. Kommt bloß nicht auf die Idee, uns zu verarschen ... <<
Chong musste mit ansehen, wie die Tür langsam aufschwang und den Blick auf eine verschüchterte, junge Thailänderin freigab. Langsam und zögernd trat sie näher ...
Hinter ihr standen drei massige Kerle, groß und breitschultrig, die Finger am Abzug ihrer Maschinenpistolen, bereit, alles, was sich bewegte, auszulöschen. Sie würden hier unten niemanden am Leben lassen, davon war Chong felsenfest überzeugt. Jetzt trat die junge Frau durch die Tür und Chong verzog schmerzerfüllt das Gesicht, als er einen Stoß zwischen die Rippen erhielt.
>>Beweg dich, du chinesische Missgeburt!<<
Als sicher war, dass sich die junge Frau außerhalb der Schusslinie befand, blinzelte Chong dem Kerl, der ihm die Pumpgun in die Rippen geknallt hatte, lächelnd zu. Der glotzte ihm dummerweise aus nächster Nähe ins Gesicht. Als ihm klar wurde, dass er sich hatte ablenken lassen, war es bereits zu spät, denn Chong hatte blitzschnell eine der Petroleumlampen umgetreten. Der Effekt war fatal, die austretende Flüssigkeit entzündete stichflammenartig die schmutzige Stoffdecke. Roger stöhnte und schrie verzweifelt, als die Flammen erbarmungslos seine Kleidung auffraßen. Die Pumpgun war ihm längst aus den Fingern geglitten. Ein widerlicher Geruch nach verbrannter Haut und angesengten Haaren erfüllte bald darauf den Raum. Alles war rasend schnell über die Bühne gegangen, so schnell, dass der Junkie, welcher Chong kurz zuvor noch mit seiner Pistole bedroht hatte, bereits, von Dutzenden MP-Salven durchsiebt, tot zusammengebrochen war, ehe er überhaupt begreifen konnte, was vor sich ging. Er hatte sich genau im Schussfeld der Maschinenpistolen befunden, als diese ihren Todesgesang anstimmten.
>>Laaaaaauuuuuffffff<<, schrie Chong der Thailänderin, die ihn aus einer Ecke heraus ungläubig anstarrte, über das infernalische MP-Feuer hinweg zu, während er selbst zur Seite sprang, sich abrollte und — Haken schlagend — eine weitere Tür im rechten, hinteren Bereich der Kammer entdeckte, durch die nun auch die restlichen Drogenfreaks zu entkommen versuchten. >>Mach schon, komm endlich!<<
Mina nahm die Beine in die Hand und spurtete los, gerade noch rechtzeitig, denn hinter ihr breitete sich das Feuer rasch im gesamten Raum aus. Eine Petroleumlampe explodierte in den Flammen und jagte feine Glassplitter durch die Luft.
>>Das wird die Typen eine Weile aufhalten.<<
>>Hoffentlich<<, keuchte Mina, als sie Chong erreicht hatte.
Die Tür mündete in einen düsteren Gang. Chong und seine Begleiterin zwängten sich an den verbliebenen neun Frauen und Männern vorbei, ohne sonderlich auf sie zu achten, denn die Drogensüchtigen machten auf sie den Eindruck einer hilf-und orientierungslosen Schafherde, was nicht zuletzt auf ihren Rauschgiftkonsum zurückzuführen war. Chong staunte nicht wenig als er erkannte, was die hübsche Asiatin in ihren Händen hielt: eine geladene Beretta ... sowie eine schwere, schwarze Maglite-Taschenlampe, mit der man ohne Weiteres einem erwachsenen Mann den Schädel einschlagen konnte.
>>Alles, was eine moderne, junge Frau so braucht<<, verteidigte sie sich mit gespielter Unschuldsmiene.
>>Nicht schlecht. Ich nehme an, dass der Kerl, dem die Knarre gehörte, sie jetzt sowieso nicht mehr brauchen wird, oder?<<
Mina nickte lächelnd.
>>Gut, dann sollten wir uns auf den Weg machen.<<
>>Du könntest übrigens eine Dusche vertragen. Es mieft in deiner Nähe, als hättest du drei Tage in einer Jauchegrube gelegen.<<
Chong dachte an sein kürzliches Bad in der schwarzen Brühe und grinste. >>Da liegst du gar nicht so verkehrt ... aber besser lebend stinken als stinkend tot ... findest du nicht auch?<<
Bald hatten die Flüchtenden die Gruppe der Nebelhirne, wie Chong sie scherzhaft taufte, hinter sich gelassen, als im Schein der Taschenlampe ein weiterer Gang auftauchte.
>>Halt' mal die Leuchte etwas höher ... ja ... genau so ... über den steinernen Bogen ... da ist irgendetwas angebracht ... sieht aus wie ein Schild ... mal sehen, was da draufsteht ... <<
Mina tat wie gewünscht und zielte mit ihrer Taschenlampe auf das rechteckige Schild über dem Durchlass, während Chong nähertrat.
>>Was steht dort? Irgendwas von Bedeutung?<<
>>Wie man's nimmt. Ich fürchte nur, wenn wir weitergehen wird's ein bisschen gruselig werden ... << Chong drehte sich unvermittelt zu ihr um. >>Hier steht: Halt, dies ist der Ort der Toten.<<
>>Die Katakomben<<, flüsterte Mina erschrocken.
Chong nickte langsam. >>Früher haben die Menschen ihre Toten hier heruntergebracht ... sieh mal ... << Er trat ein paar Schritte in den Gang hinein und deutete auf unzählige Mulden in den Wänden, in welchen mühelos ein erwachsener Mann liegen konnte.
Der Lichtkegel der Taschenlampe scheuchte schlagartig ganze Scharen von Ratten auf, die nun kreischend und fiepend auseinanderstoben.
>>Wissenschaftlichen Schätzungen zufolge wurden hier unten — vor allem nach den Kriegen — etwa drei Millionen Leichen entsorgt, vielfach auch um der Seuchengefahr zu entgehen ... als damals die ... << Chong hielt abrupt inne, als seine Begleiterin plötzlich einen grellen Schrei ausstieß — sie hatte sich an irgendetwas schmerzhaft den Fuß gestoßen. Der Chinese bückte sich lachend, ergriff den bleichen Totenschädel, tätschelte ihn liebevoll und platzierte ihn schließlich in einer der Mulden. >>Der Arme tut dir doch nichts.<<
>>Mistkerl<<, schnaubte Mina, während sie ihren malträtierten Knöchel massierte.
>>Wenn man's genau nimmt, bin ich ebenfalls schon lange tot<<, fügte Chong sanft hinzu, doch erntete nur Verwirrung.
Mina blickte Chong nun ziemlich entgeistert an und fragte sich, ob der seltsame Chinese sie einfach nur auf den Arm nahm, oder womöglich irgendeinen Knacks hatte. Am Ende war sie vielleicht sogar mit irgendeinem durchgeknallten Psychopathen unterwegs. War es denn normal, dass irgendein Kerl nachts mutterseelenallein in die Kanalisation hinabstieg? >>Ich muss mal ... und zwar ziemlich dringend<<, seufzte sie leicht verlegen.
>>Verstehe<<, lächelte Chong, nahm ihr bereitwillig die Beretta und die Taschenlampe ab, um sich schließlich diskret abzuwenden, damit seine Begleiterin ungestört ihr Geschäft verrichten konnte.
Chong zerriss mit der Taschenlampe ein riesiges Spinnennetz, das ihm den Weg versperrte, und holte tief Luft. Der Boden vor seinen Füßen war mit alten, bleichen Knochen geradezu übersät. Eine der unzähligen Ratten schleppte gerade ein paar Fingerglieder mit ihren kleinen, scharfen Zähnen davon.
>>So ein Mist<<, stieß er leise hervor, als er eine weitere, unangenehme Entdeckung machte.
>>Was ist los?<<
>>Ich fürchte, wir haben ein Problem.<<
>>Was ist?<<
Im Schein der Taschenlampe tauchten vor den beiden zahllose finstere, schwarze Löcher auf — ein jedes gut und gerne so hoch wie ein erwachsener Mann — zu beiden Seiten des vor ihnen liegenden Ganges im Abstand von nur wenigen Metern.
>>Sind das alles … ?<<
Chong nickte seiner Begleiterin schwach zu. >>Seitengänge ... unzählige ... ein regelrechter Irrgarten.<<
>>Und irgendeine Ahnung ... eine Idee ... wo wir sind? Ich meine, wo unter der Stadt? ... oder wie wir hier rauskommen?<<
Chong holte tief Luft. Beim Ausatmen hatte er das Gefühl, als würde eine tonnenschwere Last seine Schultern nach unten drücken. >>Keinen Schimmer ... wir müssen uns irgendeine Möglichkeit verschaffen, uns hier unten zu orientieren ... <<
>>Warum kehren wir nicht einfach um und laufen wieder zurück ... das ist doch das Einfachste, oder?<<
>>Sicher ... falls du Lust darauf hast, dir von deinen Freunden eine hübsche Ladung Blei in den Kopf jagen zu lassen ... <<
Mina spie verächtlich aus. >>Es sind nicht meine Freunde ... <<
>>Das ist mir mittlerweile klar geworden ... <<
In knappen Worten erzählte die junge Frau von sich, ihrer Arbeit im Bordell und schließlich den grausamen Zuhältern, die ihren Tod beschlossen hatten. >>Mein Name ist Mina ... und wer bist du?<<
>>Man nennt mich Chong ... <<
>>Okay ... Chong ... was hattest um diese unchristliche Urzeit hier unten zu suchen?<<
>>Sagen wir, ein hübsches Mädchen, das in Schwierigkeiten geraten war, vor ein paar bösen Buben zu retten ... <<
Mina war nahe dran an der stoischen, ruhigen Gelassenheit ihres Gegenübers zu verzweifeln. Ein Mann wie dieser Chinese konnte sie zur Weißglut treiben.
Das gedämpfte Klingeln eines Handys machte sich plötzlich unheilvoll bemerkbar. Chong sah zu, wie seine Begleiterin in ihre Hosentasche fasste und schüttelte langsam, aber warnend den Kopf.
>>Das ist keine gute Idee ... ich würde das besser nicht tun ... <<
Doch die Thailänderin nahm die Warnung ihres Gefährten nicht zur Kenntnis. Stattdessen fischte sie mit zittrigen Fingern das kleine, silbrige Telefon hervor und fühlte ihr Herz hämmern, als sie das Gespräch entgegennahm. >>Ja?<<
>>Hallo Mina, Schätzchen<<, flüsterte eine raubtierhafte Männerstimme widerlich in ihr Ohr.
Mina erstarrte, als ob man ihr einen Eimer mit Eiswasser ins Gesicht geschüttet hätte. >>Bertrand?<<
>>Wir warten auf euch ... <<
Dann wurde das Gespräch beendet.
>>Jetzt wissen diese Typen, dass wir noch am Leben sind ... und ich fürchte, sie werden keine Ruhe geben ... <<
Mina biss nervös auf die Unterlippe. >>Glaube ich auch<<, prognostizierte sie düster. >>Wir sitzen bis zum Hals in der Scheiße und haben uns verirrt … was machen wir jetzt?<<
Chong überlegte angestrengt. >>Wir bräuchten irgendetwas zum Schreiben.<<
>>Ich hab 'nen Lippenstift zu bieten ... hier ... falls du damit etwas anfangen kannst.<<
>>Na, immerhin<<, flachste Chong. >>Könntest du dich mal umdrehen? Mit dem Rücken zu mir?<<
>>Klar.<<
Chong malte nun im Rückenbereich auf Minas Bluse ein kleines rotes Lippenstiftkreuz. >>Mal sehen ... hier ist die Avenue St. Etienne ... von wo aus wir unter die Erde gelangt sind ... <<
>>Kannst du deine Karte nicht einfach irgendwo an die Wand malen, anstatt auf meine Bluse?, mokierte sich Mina.
>>Kein Problem ... wenn du Hammer und Meißel bei dir hast, um die entsprechenden Steine frei zu klopfen ... <<, gab Chong lachend zur Antwort.
>>Ich bin von einem gottverdammten Arschloch hier runter verschleppt worden<<, wechselte Mina frustriert das Thema.
Chong dachte an den langhaarigen Kerl, der jetzt tot irgendwo in der Kanalisation lag, weit hinter ihnen.
>>Und ich bin einem Arschloch gefolgt.<<
>>Da haben wir vielleicht was gemeinsam<<, lächelte Mina mühsam.
>>Übrigens ... du hättest das einfacher haben können: hier ... <<, fügte sie gelangweilt hinzu.
Chong nahm irritiert das Handy entgegen. >>Und ... was soll ich damit?<<
>>Internettaste drücken ... auf die entsprechende Seite gehen ... Namen der Stadt eingeben ... und schließlich Routefinder anklicken ... zum Beispiel<<, erwiderte Mina gleichgültig.
Etwas anderes trat plötzlich in Chongs Bewusstsein und ängstigte ihn, etwas Unerklärliches, das im Zusammenhang stand mit seinem verlorenen Wohnungsschlüssel. >>Ich möchte kurz zu Hause anrufen, um meiner Tochter zu sagen, dass sie die Tür verriegeln und niemanden hereinlassen soll. Weißt du ... ich hab' nämlich meine Wohnungsschlüssel verloren, irgendwo am Seine-Ufer ... <<
Chong wählte seine Nummer und horchte schließlich angespannt auf das dünne Piepen am anderen Ende der Leitung, doch es tat sich zunächst nichts. >>Nun geh' doch endlich ran. Geh' ran ... bitte<<, flehte er und spürte eine nie gekannte Angst sein Herz umklammern.
Ein weiteres Piepen, mittlerweile schon das achte, erklang und Chong wollte gerade entmutigt die Verbindung beenden, als er bemerkte, dass am anderen Ende der Strippe endlich jemand den Hörer abgenommen hatte, denn er vernahm ein leises Atmen. >>Su-Lin? Schatz ... Liebling ... bist du's? Ich bin es, dein Knuddelpapi ... antworte doch endlich ... <<
>>Dazu wird sie nicht in der Lage sein<<, entgegnete plötzlich eine kalte Männerstimme.
Chong spürte, wie sich seine Wirbelsäule vom Hals abwärts in klirrendes Eis verwandelte. Es fiel ihm außerordentlich schwer, seine Stimme beherrscht und ruhig klingen zu lassen. >>Wo ist meine Tochter? Was ist mit meinem Kind? Wenn du ihr auch nur ein einziges Haar krümmst bringe ich dich eigenhändig um ... das verspreche ich dir ... <<
>>Dazu musst du erst mal nach Hause kommen<<, unterbrach ihn der andere.
Atemlose Stille.
>>Ich warte auf dich<<, fügte die Stimme hinzu, dann wurde das Gespräch beendet.
>>Verdammt<<, schrie Chong, als die Verbindung getrennt wurde und kickte in einem Anflug aus Wut und Verzweiflung einige umherliegende Knochen in hohem Bogen durch die Gegend, was ein gruseliges Knacken und Scheppern in der Dunkelheit zur Folge hatte. >>Verdammt ... verdammt ... verdammt ... <<
Mina legte überraschend sanft ihre Hand auf Chongs Schulter. Er blickte auf, mitten in ihr hübsches Gesicht, doch gleichzeitig durch sie hindurch.
>>Hey ... mach dich jetzt nicht verrückt ... es wird schon alles irgendwie gut gehen.<<
>>Ja<<, erwiderte Chong ausdruckslos. >>Wahrscheinlich hast du recht.<<
Er überlegte fieberhaft, wie er vorgehen sollte. Ihm war bewusst, dass er, falls er via Handy die Polizei hinzuzog, Gefahr lief seine Tarnexistenz zu verlieren. Die ganze Sache würde in den Medien erscheinen und früher oder später würden einige alte Bekannte wiedererkennen und Jagd auf ihn machen, doch dann wäre nicht nur sein eigenes Leben in Gefahr, sondern auch das seiner Familie. Andererseits ging es auch jetzt gerade um das Leben seiner Tochter.
Schließlich fasste er einen Entschluss und begann auf dem Handy eine Nummer einzutippen.
>>Was hast du vor?<< Mina starrte ihn mit ihren großen, dunklen Augen neugierig an.
>>Ich werde jetzt die Polizei anrufen ... und ihnen sagen, dass sich bei mir zuhause ein gefährlicher Kerl aufhält ... und dass mein Kind in Gefahr ist ... <<
>>Die Polizei?<<, warf Mina wenig erfreut ein.
>>Ja, die Polizei ... ich weiß, dass du nicht unbedingt mit den Bullen befreundet bist, aber ich habe keine andere Wahl. Meine Tochter ist in Gefahr.<<
>>Die Bullen. In deren Augen bin ich nichts. Eine wertlose dumme, kleine Schlampe ... sonst nichts<<, entgegnete Mina geringschätzig. >>Wahrscheinlich könnte ich auf offener Straße vergewaltigt werden und die ... <<
>>So ein Mist<<, fluchte Chong dazwischen.
>>Was ist passiert?<<
>>Der Akku deines Handys ist leer. Heute geht aber auch alles schief ... << Chong reichte ihr das Telefon zurück. >>Und die Batterien der Taschenlampe werden auch nicht ewig halten. Wenn es uns nicht gelingt, einen Weg nach draußen zu finden, bevor die Maglite den Geist aufgibt, sind wir so gut wie tot ... <<
Mina deutete im fahlen, staubigen Licht der Taschenlampe auf die unzähligen Seitengänge. >>Was nun ... wo lang ... irgendeine Idee?<<
>>Wenn ich von der Skizze auf deinem Rücken ausgehe, dann müssen wir uns rechts halten, um zumindest in die Nähe einer U-Bahn-Station zu kommen ... <<
>>Was nützt uns das?<<
>>Ich bin mir nicht sicher ... wir könnten probieren, uns bis zu einer U-Bahn-Station durchzuschlagen ... vielleicht treffen wir unterwegs irgendwo auf eine Tür, ein Gitter oder etwas Ähnliches ... etwas, das wie ich hoffe die Katakomben mit den U-Bahnen verbindet ... <<
>>Und der nächstgelegene, öffentliche Ausgang aus den Katakomben ... <<
>> ... müsste nach meinen Berechnungen etwa drei bis vier Kilometer von unserem jetzigen Standpunkt entfernt in südöstlicher Richtung liegen ... wenig aussichtsreich, da wir nicht auf geradem Weg zum Ziel laufen können, sondern den Umweg über endlose Gänge nehmen müssen ... <<
Schließlich entschieden sie sich für den zweiten Seitengang zu ihrer Rechten, der nach einigen Minuten flotten Fußmarsches eine sanfte Biegung machte. Eine Schar Fledermäuse schoss, vom Licht der Lampe aufgeschreckt, quietschend über ihre Köpfe hinweg. Chong stellte beruhigt fest, dass der vor ihnen liegende Gang sich nicht weiter zu verzweigen schien. Die Decke befand sich nur wenige Zentimeter über seinem Kopf und die Luft roch schlecht, stickig und seltsam modrig. Noch immer waren sie gezwungen auf ihrem Weg über zahllose Gerippe und Knochen, die lautlos und geradezu gespenstisch den Boden förmlich pflasterten, hinwegzusteigen.
>>Der Typ am Telefon ... wer war das? Kennst du ihn? Und wie kommt er ausgerechnet in deine Wohnung?<<
Chong erzählte in knappen Worten von seiner Auseinandersetzung mit den Typen am Ufer der Seine. >>Der Rest war für den Kerl nicht schwer ... schließlich hatte Su-Lin mit schwarzer Tinte irgendwann Familiennamen und Anschrift auf die Innenseite des ledernen Schlüsseletuis gekritzelt.<<
Mina schwieg nachdenklich. Bestand denn die ganze Welt nur noch aus gewaltversessenen Verrückten?
Der Gang schien geradezu endlos zu sein. Chong hatte längst jegliches Zeitgefühl verloren. >>Und das ist noch nicht das Schlimmste ... meine Frau — sie ist Stewardess — ist wahrscheinlich längst mit ihrem Flieger gelandet. Hoffentlich ist sie nicht ... << Chong schwieg, er wollte und konnte den Gedanken, der ihn gerade peinigte, nicht zu Ende denken. Im Licht der Taschenlampe wirkte sein Gesicht bleich, fast gespenstisch, mit sorgenreichen Ringen unter den sonst so freundlich dreinschauenden Augen.
>>Psst ... war da nicht was? ... es hat sich angehört wie Schritte ... <<
Beide lauschten angestrengt in die sie umgebende Dunkelheit und so sehr Chong auch den Lichtkegel der Taschenlampe umherwandern ließ, es war unmöglich irgendetwas zu erkennen.
>>Vermutlich nur eine Ratte.<<
>>Ich weiß nicht. Irgendwie habe ich das Gefühl, da ist jemand ... hinter uns<<, erwiderte Mina, doch Chong schüttelte den Kopf.
>>Selbst, wenn uns jemand gefolgt sein sollte, so wird es Zeit, von hier zu verschwinden. Hier können wir nicht bleiben. Wir müssen weiter. Falls tatsächlich einer von den Kerlen mit den Maschinenpistolen sich an unsere Fersen geheftet haben sollte, hat er gegen unsere Beretta eindeutig bessere Karten in der Hand ... komm ... <<
Der Gang machte eine weitere sanfte Biegung und endete schließlich vor einer offenstehenden, massiven Stahltür. Chong stach mit dem Lichtstrahl der Taschenlampe in die Dunkelheit dahinter und stellte fest, dass vor ihnen ein kreisrunder, staubig-grauer Raum lag, dessen Grundfläche gut und gerne 20 Meter maß.
>>Sieh' dir das an ... weißt du, was das ist?<< Er ließ den Lichtkegel langsam an der spinnwebenbehangenen, abgerundeten Wand in die scheinbar endlose, dunkle Höhe wandern. >>Die Wand verläuft konisch nach oben. Das Ganze sieht aus wie ein riesiger Betonkegel, den man vor langer Zeit in den Boden eingelassen hat.<<
Mina folgte Chong in den Raum hinter der Stahltür. >>Du meinst ... ein Bunker?<<
Chong nickte. >>Dort drüber ... schräg gegenüber ... ist sogar noch die alte, verrostete Stahlleiter an der Wand zu erkennen ... die führt nach oben ... <<
>>Ins Freie?<<
>>Möglicherweise ... ich werde raufklettern und nachsehen, ob es einen Weg nach draußen gibt oder nicht ... <<
>>Kommt nicht infrage. Und ich soll in der Zwischenzeit allein hier unten rumhängen, oder was?<<, protestierte Mina energisch, doch Chong lächelte gelassen.
>>Okay, okay ... ich bleib' hier unten und du kletterst ... aber es kann durchaus sein, dass die alten Sprossen unter deinen Füßen durchbrechen und dein hübscher Körper aus etwa 20 Meter Höhe wie ein Stein in die Tiefe fällt.<<
>>Na schön, aber was, wenn ... <<
Chong schnitt ihr mit einer wegwerfenden Handbewegung plötzlich und unerwartet das Wort ab.
>>Hier ... für den Fall der Fälle<<, fügte er hinzu, nachdem er ihr kurz und bündig Beretta und Taschenlampe in die Hand geklatscht hatte, denn er hatte für sein Empfinden bereits genug diskutiert. >>Es wäre nett, wenn du mir mit der Taschenlampe ein wenig Licht spenden würdest, während ich nach oben klettere.<<
>>Geht in Ordnung<<
Mina richtete unvermittelt den Strahl in Chongs Gesicht. Der wendete sich geblendet ab und begann nun vorsichtig seinen Aufstieg an der alten Leiter.
>>Kannst du schon was erkennen?<<
>>Nur eine dunkelhaarige Lady, die zu viele Fragen stellt<<, hallte es von oben herab.
Mina sah angespannt, dass Chong nun fast drei Viertel der Strecke hinter sich gebracht hatte, als ein Geräusch sie plötzlich herumfahren ließ. Das Geräusch ... es hatte sich angehört wie ... Atmen ... oder besser leises Keuchen, nicht sehr weit weg, aber auch nicht ganz nah ... Sie zuckte zusammen. Instinktiv spürte sie, dass sich in dem Gang, durch den sie gemeinsam mit dem Chinesen gerade erst auf den Bunker gestoßen war, irgendetwas Bedrohliches, Gefährliches befand.
>>Hey ... lässt du Männer eigentlich gerne im Dunkeln stehen?<<, rief Chong verdutzt in die Tiefe.
Doch Mina reagierte nicht, denn eine Gestalt schälte sich gerade vor ihren Augen wie ein dunkler, unheimlicher Geist aus der düsteren Umgebung heraus und bewegte sich auf sie zu. Wie hypnotisiert verfolgte Mina die Bewegungen des lautlosen Schattens, der sich zielstrebig auf sie zubewegte, als plötzlich etwas ihren Arm traf. Sie schrie laut und lang gezogen auf, denn die unheimliche Gestalt hatte sich mit einem Mal auf sie geworfen und hart zu Boden gerissen. Die Taschenlampe war ihr ebenso aus den Händen geglitten wie die Beretta.
>>Was zum Teufel ... mein Gott<<, flüsterte Chong, als er nach unten sah und erkannte, was sich da am Boden abspielte.
Mina lag am Boden und wurde gerade von irgendeinem Kerl, der rittlings auf ihr saß, ziemlich übel gewürgt.
>>Lass' sie in Ruhe, du Mistkerl. Runter von ihr. Wenn du sie anfasst, schlag ich dir den Schädel ein ... <<
Die Gestalt blickte ungläubig nach oben. >>Ach ja?<<
Der Kerl löste seine Finger vom Hals der benommen daliegenden jungen Frau, doch nur, um nach der in der Nähe liegenden Beretta zu grapschen und die Mündung auf Chong zu richten. Chong hing unterdessen fast fünfzehn Meter über dem Boden an der Leiter und starrte wie gebannt auf den Lauf der Beretta, während die Thailänderin bewusstlos oder gar tot am Boden lag.
Der Kerl spuckte verächtlich. >>Fahr zur Hölle.<<
Chong zählte innerlich bis fünf. Er hoffte nur, dass es schnell gehen, dass die Kugel in sein Herz oder Hirn einschlagen würde, wenn der Typ endlich zum Abdrücken bereit war. Er schloss die Augen und erwartete das Ende, während er fühlte, wie ihm das Herz sprichwörtlich im Halse hämmerte. Dann gab es endlich einen ohrenbetäubenden Knall, als sich aus der Beretta ein Schuss löste.
***
Acht Stunden zuvor im Sheraton Hotel, Paris.
Der Mann, der gerade kritisch den Sitz seines Anzuges im Garderobenspiegel betrachtete, hatte volles, dunkles Haar, welches mit seinen geheimnisvollen, schwarzen Augen harmonierte. Sein Spiegelbild schenkte ihm schließlich ein zufriedenstellendes, entspanntes Lächeln und so zupfte er noch ein letztes Mal an seiner Krawatte, setzte als Teil seiner Tarnung eine Brille auf, die aus Fensterglas bestand und schenkte sich schließlich einen Whisky ein. Ohne Zweifel war er ein Orientale, doch die Angaben in seinem gefälschten Pass wiesen ihn als britischen Staatsbürger aus. Karem-Abu Jossr hatte mit jener Rolle kein Problem, denn neben nahezu akzentfreiem Englisch beherrschte er nicht nur vier weitere Sprachen fast perfekt, sondern er verfügte über eine sehr hohe soziale Intelligenz, was es ihm leicht machte, im Rahmen seines Planes einen Ungläubigen zu imitieren, der offiziell als Geschäftsmann unterwegs war. Schließlich trat er ins Schlafzimmer, um einen kleinen Radiowecker — ein Mitbringsel — auf sieben Uhr einzustellen. Er hatte weder vor in jenes Hotel zurückzukehren, noch wollte er irgendwelche verwertbaren Spuren hinterlassen. Deswegen würde am nächsten Morgen pünktlich um sieben Uhr eine geballte Ladung C4-Sprengstoff explodieren und das gesamte Appartement in die Luft jagen.
>>Es lebe Mr. Weston<<, rief Jossr fröhlich, während er den Rest seines Glases austrank.
Weston war der Name von Jossrs britischer Tarnidentität. Jossr warf noch einen kurzen prüfenden Blick auf seine Armbanduhr, dann nahm er die fertig gepackte, schwarze Aktentasche vom Bett und verließ sein Appartement. Wer ihm begegnete, hätte ihn ohne Weiteres für einen freundlichen, aber harmlosen Buchhalter halten können. Er pfiff vergnügt einige Töne eines alten amerikanischen Schlagers vor sich hin, grüßte lächelnd die ihn umgebenden Leute in dem geräumigen, hellen Fahrstuhl, der mit leisem, monotonem Summen abwärtsfuhr, und drückte schließlich dem völlig verdutzten, uniformierten Trottel an der Rezeption ein mehr als großzügiges Trinkgeld in die Hand.
Milde, warme Luft umarmte ihn angenehm, als er auf die recht belebte Straße hinaustrat und ein Taxi nahm. Er ließ sich von dem Taxifahrer ein wenig durch die Pariser Innenstadt kutschieren, vertrat sich die Beine, nahm ein neues Taxi und während der Wagen dahinpreschte studierte Jossr aufmerksam die Umgebung, doch er konnte keine Verfolger ausmachen, was ihm auch sehr unwahrscheinlich schien. >>Aber sicher ist sicher<<, flüsterte er leise zu sich selbst.
Er war nicht so dumm, sich von dem Fahrer direkt zum Ort seiner Verabredung fahren zu lassen, denn früher oder später würden die Bullen seine Fährte wittern, spätestens dann, wenn sein Hotelzimmer in die Luft flog. Gut möglich, dass sich dann der Fahrer an ihn erinnerte ... Nein, es erschien ihm besser, weil sicherer, sich von dem Chauffeur nicht unmittelbar an seinem geplanten Ziel, sondern irgendwo in der Nähe absetzen zu lassen. Die restliche Strecke würde er schließlich zu Fuß gehen.
Der Fahrer war dunkelhäutig, sehr verstockt und schweigsam, und Jossr war dies nur mehr als recht, da der Kerl nicht versuchte, ihn in ein Gespräch zu verwickeln.
Einige Zeit später wies Jossr den Fahrer an nach der nächsten Abzweigung am Straßenrand zu halten. Er zückte seine Brieftasche und warf achtlos, während er ausstieg, einige Geldscheine auf den noch warmen Beifahrersitz, was der Fahrer mit einem erfreuten Zahnlückengrinsen registrierte.
Nach einem 15-minütigen Fußmarsch erreichte Jossr ein ziemlich heruntergekommenes Stadtviertel. Irgendwo bellte und knurrte ein Hund. Zielstrebig durchschritt Jossr eine Einfahrt und fand sich schließlich auf einer Müllhalde von Hinterhof wieder. Ein paar Jugendliche prügelten sich gerade miteinander. Jossr achtete nicht sonderlich auf sie, stattdessen stieg er eine schmutzig-graue, steinerne Treppe hinunter, die vor einer ehemals grünen Tür endete. An ihrem Holz war allerdings an vielen Stellen der Lack längst abgeblättert. Nach mehrmaligem Klopfen wurde endlich geöffnet. Ein schlanker, dunkelhaariger Orientale mit schmalen, unbarmherzigen Lippen und stechenden, fanatischen Augen erschien im Türrahmen und musterte Jossr zunächst misstrauisch.
>>Salam, Bruder ... <<
Das Gesicht des anderen erhellte sich plötzlich. >>Komm' doch rein ... <<
>>Ist alles bereit?<<
Der andere nickte lächelnd, während er Jossr in einen Raum führte, in dem fünf weitere junge Männer mit verschlossenen, stummen Blicken an einem Tisch saßen. Junge Männer, die ihr Leben nicht achteten, die den Tod nicht fürchteten, die bereit waren — bereit für ihre heiligen Ziele zu sterben. Allesamt waren sorgsam ausgewählte Schläfer ohne jegliche Vorstrafen, studierte und kluge Köpfe, die bislang weder als radikale Islamisten noch sonst irgendwie auffällig geworden waren. Alles unbeschriebene, weiße Blätter, doch das sollte sich schon bald ändern.
Jossr setzte sich und spürte genüsslich die ehrfürchtig-bewundernden Blicke der anderen Männer auf sich ruhen. >>Wir werden der ungläubigen, westlichen, imperialistischen Welt mit Allahs Segen ein Zeichen setzen ... etwas, was die Anschläge damals in New York noch um ein vielfaches übertreffen wird. Die Welt wird in Blut baden ... <<
>>Was ist es so Großes, Gewaltiges, Bruder?<<
>>Wir werden das Wahrzeichen Frankreichs vom Erdboden fegen<<, entgegnete Jossr mit seinen kalten, durchdringenden Augen emotionslos.
>>Den Eiffelturm?<<
Jossr nickte und jeder im Raum starrte gebannt auf die fanatischen Linien, die sich nun in seinem Gesicht abzeichneten.
>>Und wozu dann die Sache in Russland, Bruder?<<
>>Strategie ... wir bringen unsere Feinde dazu, ihre Augen dorthin zu richten, während wir in Wirklichkeit ganz woanders zuschlagen werden.<< — Wenige 100 Kilometer hinter Moskau wartete derzeit eine 40-köpfige Kämpferschar auf den Befehl zum Angriff.
>>Aber ... das ist doch Wahnsinn ... einen Militärkonvoi angreifen ... mit unserer spärlichen Bewaffnung ... die russische Armee, die du ins Auge gefasst hast, Bruder, verfügt über Kampfhubschrauber und Panzer ... <<
Jossr schlug dem Mann völlig überraschend und unerwartet mit der flachen Hand ins Gesicht. Die Visage des Zweiflers verzerrte sich vor Wut, als Jossrs Hand ein zweites Mal auf seine Wange klatschte. >>Ist dein Glaube so schwach, dass du an den mir von Allah geschenkten Plänen zweifelst, Mamoud?<<
Der Mann schüttelte mit zusammengebissenen Zähnen den Kopf.
>>Gut<<, lächelte Jossr milde, während er fortfuhr: >>Der Militärkonvoi der Russen hat ein Manöver hinter sich. Sie fahren im Gänsemarsch diese Strecke entlang ... << Jossr warf eine Karte auf den Tisch und deutete mit dem Zeigefinger auf einen ganz bestimmten Punkt. >>Hier werden sie eine Brücke überqueren müssen, die von uns mit Sprengstoff versehen ist. Sobald die ersten Fahrzeuge, darunter auch der Lastwagen mit den Waffen die Brücke passiert haben, werden wir alles in die Luft jagen. Unsere Leute springen aus ihren Verstecken wie verabredet, schnappen sich den Wagen mit den Waffen, beladen ihn zusätzlich noch mit Sprengstoff und dann werden sie sich mit Freuden für unsere Sache opfern ... <<
>>Opfern?<<
Jossr nickte erneut. >>Sie werden versuchen, mit den erbeuteten Waffen die Amerikanische Botschaft zu stürmen, Moskau anzugreifen. Ich rechne nicht damit, dass auch nur einer von ihnen überlebt. Die Welt wird nach Russland blicken, während wir hier, im Herzen Europas, den wirklichen, tödlichen Schlag ausführen werden.<<
Jossr zauberte sein Laptop hervor, wartete, bis die Internetverbindung stand, um eine kurze, verschlüsselte E-Mail abzusenden. Dann trennte er rasch die Verbindung wieder um sicherzugehen, dass man ihn nicht als Absender der E-Mail ausfindig machen konnte. Jossr rieb sich zufrieden die Hände, denn er konnte sicher sein, dass sich nun Tausende Kilometer entfernt ein tödliches Selbstmordkommando in Marsch setzte.
>>Hast du dabei nicht etwas übersehen?<<, warf der Mann namens Mamoud vorsichtig ein.
>>Die beiden Kampfhubschrauber? Die fliegen dem Konvoi etliche Kilometer voraus und werden vermutlich schon in ihren Kasernen sein, wenn wir zuschlagen ... wenn nicht ... << Jossr zuckte gleichgültig mit den Achseln. >>Aber jetzt wollen wir uns wichtigeren Dingen zuwenden ... << Aus einer Schublade kramte er ein Miniaturmodell des Eiffelturms hervor, das er achtlos auf den Tisch fallen ließ. >>Bumm ... <<