Читать книгу Chong - Claus-Peter Bügler - Страница 6

2.

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Mina starrte benommen zu dem bewaffneten Kerl, der dicht neben ihr stand und mit einer Pistole gerade auf ihren chinesischen Begleiter zielte. Chong hing noch immer an der alten, verrosteten Stahlleiter, etliche Meter über dem Erdboden und erwartete den alles beendenden, tödlichen Schuss. Im spärlichen Licht der Taschenlampe war es ihm nicht möglich das Gesicht des Mannes unter ihm zu erkennen, so würde er also nie erfahren von wem er letztlich erschossen worden war. Doch es kam völlig anders, denn aus irgendeinem Grund schrie der Kerl schmerzerfüllt auf. Es knallte ohrenbetäubend, als die Beretta das Feuer eröffnete. Chong stellte erleichtert fest, dass er enormes Glück gehabt hatte, denn die tödliche Kugel hatte ihn nur um wenige Zentimeter verfehlt. Das Geschoss schlug dicht neben seinem Kopf in die Wand, wodurch sich ein feiner Sprühregen aus Betonsplittern und Staub in seinen Haaren niederließ.

>>Hier<<, flüsterte kaum hörbar eine Frauenstimme. >>Lass' dich zu Boden fallen ... jetzt ... <<

Chong zögerte keine einzige Sekunde. Wie ein Feuerwehrmann ließ er sich blitzschnell an den beiden Holmen der Leiter in die Tiefe hinabgleiten. Kaum hatte er den Boden des ehemaligen Bunkers erreicht, als auch schon der ganze umliegende Raum in pechschwarze, undurchdringliche Finsternis fiel, denn die Maglite hatte ganz offensichtlich endgültig ihren Geist aufgegeben.

Chong horchte angestrengt in die Dunkelheit. Ganz in seiner Nähe hörte er gedämpftes Keuchen, dann das leise Knirschen von Schuhen, die sich vorsichtig über den unsichtbaren Boden tasteten. Chong zog ein vergoldetes Feuerzeug hervor. Es war ihm in die Hände gefallen, als er sich einige Zeit zuvor — auf der Flucht vor seinen Verfolgern — aus jenem schmuddeligen Abwasserkanal auf einen schmalen Betonsteg hinaufgezogen hatte, unmittelbar neben einer blutüberströmten Leiche. Chong hatte instinktiv geahnt, dass ihm das Feuerzeug noch nützlich sein würde. Die kleine Flamme erhellte nun schwach den Raum. Ein paar Meter vor sich konnte Chong seinen Gegner ausmachen, der glücklicherweise mit dem Rücken zu ihm stand.

>>He ... suchst du vielleicht mich? Ich bin hier ... <<

Wütend fuhr der Kerl wie eine tödlich gereizte Giftschlange herum, als Chong die Flamme verlöschen ließ, wodurch schlagartig alles erneut in dämonischer Finsternis versank. Instinktiv sank er zu Boden, rollte sich ab, als auch schon die Kugeln über ihn hinwegpfiffen. Er setzte in der Dunkelheit beide Handflächen auf den Boden, um mit einer Beinschere die Füße seines Gegners anzugreifen. Durch das Mündungsfeuer der Beretta konnte er ziemlich genau ausmachen, wo der andere sich befand. Der fiel förmlich wie ein vom Blitz gefällter Baum zu Boden, nachdem Chong seine Technik angebracht hatte. Ehe der Kerl auch nur die geringste Chance hatte, erneut auf die Beine zu kommen, war Chong — geschmeidig wie eine Katze, lautlos und gefährlich — bereits über ihm und versetzte ihm ein halbes Dutzend Faustschläge in Gesicht und Leber, bis der Kerl schließlich regungslos zusammensackte.

>>Mina? Alles in Ordnung?<<

>>Ich bin hier ... ich bin okay<<, kam die prompte Antwort irgendwo aus der Dunkelheit.

Chong zündete erneut das Feuerzeug, um in das erleichterte, wenn auch ein wenig blasse Gesicht der Asiatin zu blicken.

>>Ich fürchte nur ... wir sitzen bis zum Hals in der Tinte. Ohne die Taschenlampe sind wir hier unten so gut wie verloren ... selbst das Feuerzeug wird uns nicht viel nützen ... wird nicht ewig brennen ... <<

Irgendwie hatten beide plötzlich das Gefühl, dass der sie umgebende Raum leicht vibrierte, als hoch über ihren Köpfen ein immer lauter werdendes Summen und Brummen erscholl. Das Geräusch schwoll schließlich geradezu ohrenbetäubend an, um urplötzlich wieder zu versiegen und eisige Stille zurückzulassen.

>>Hast du das gehört?<<

Mina nickte in der Dunkelheit. >>Das klang ganz nach einer U-Bahn ... irgendwo in der Nähe ... über uns ... aber wir kommen hier nicht raus, oder?<<

>>Ich konnte am oberen Ende der Leiter eine eiserne Klappe entdecken. Allerdings ist sie verschlossen.<<

>>Also werden wir hier unten sterben.<<

>>Nicht unbedingt. Vielleicht gibt es eine Möglichkeit, hier rauszukommen ... hier ... halt mal.<< Chong reichte ihr das Feuerzeug.

>>Was hast du vor?<<

>>Ich brauche den Akku deines Handys<<

>>Wozu?<<

>>Diese Akkus sind recht explosiv<<, erwiderte Chong knapp, während er dem bewusstlosen Kerl eine schmutzige Socke auszog.

>>Hier.<< Mina reichte Chong den kleinen, rechteckigen schwarzen Akku, welcher von Chong dankend in Empfang genommen wurde. Sorgsam wickelte er das Gerät in die Socke.

>>Wenn wir Glück haben, funktioniert's. Wenn nicht, hilft nur beten. Ich werde versuchen nach oben zu klettern und das Päckchen irgendwo an der Klappe zu befestigen. Du bleibst hier und passt auf den da auf, damit er keine Dummheiten macht.<< Chong deutete im Licht des Feuerzeugs auf den am Boden liegenden Bewusstlosen. >>Vorher werden wir allerdings unserem ehrenwerten Freund die Flossen hübsch hinter dem Rücken verschnüren. Mit seinem Gürtel.<<

Wenig später lag der Kerl — verschnürt wie ein Päckchen — stöhnend an der Wand. Mina lehnte sich in sicherer Entfernung an, die Beretta schussbereit vor der Brust haltend. Sie war heilfroh, dass sie zumindest die Waffe wiederhatte. Irgendwie fühlte sie sich damit bedeutend wohler.

>>Falls der Kerl irgendwelche Dummheiten machen sollte, jagst du ihm einfach eine Kugel in den Hintern. Wenn du aus Versehen eine andere Körperstelle treffen solltest ... auch nicht schlimm<<, rief Chong, der bereits damit beschäftigt war erneut die Leiter hochzuklettern. >>Es sei denn, du hast Lust darauf ihm ein zweites Mal in die Wade zu beißen ... <<

>>Sehr witzig. Umwerfend komisch.<<

Als Chong das obere Ende der Leiter erreicht hatte, gelang es ihm eine Stelle unmittelbar unterhalb des Falltürschlosses zu ertasten, wo er ein kleines Stückchen Socke einklemmen konnte. >>Hoffentlich funktioniert es<<, murmelte er leise, während er mit dem Feuerzeug den Stoff entzündete.

Erneut ließ er sich an den beiden Holmen in die Tiefe rutschen, als es über ihm, einen heftigen Knall gab, als hätte jemand einen großen Feuerwerkskörper entzündet. Im spärlichen Schein des Feuerzeugs entdeckte er dichten grauen Nebel über sich. Chongs Gesicht wurde allmählich düster, während er kritisch in die Höhe blickte.

>>Sieht aus, als hätten wir Pech gehabt, als wäre alles unverändert beim Alten. Die Klappe sieht unbe... <<

>>Vorsicht!<<, kreischte Mina plötzlich.

Stahl quietschte und ächzte. Chong gelang es gerade noch rechtzeitig zur Seite zu springen, doch der Bursche, der unweit gefesselt am Boden lag, hatte weniger Glück. Die alte, verrostete Stahlplatte, die mit brachialer Gewalt herabstürzte, trennte ihm mit ekelhaft lautem Knirschen den Kopf ab. Mina wandte sich entsetzt ab.

Durch das kreisrunde Loch in der Höhe drang heller, weißer Lichtschimmer herunter, der sie kurzzeitig blendete.

>>Wir müssen weiter. Komm!<<, drängte Chong.

Mina folgte ihm mit flauem Gefühl im Magen.

Behände kletterte der Chinese die Leiter hinauf, um sich in einem rechteckigen, langen Gang wiederzufinden. Neonröhren an der Decke tauchten die Umgebung in ein milchig-weißes Licht. Er entdeckte eine Tür mit der Aufschrift NOTAUSGANG, allerdings verschlossen.

Mina war mittlerweile ebenfalls nach draußen geklettert und blickte sich irritiert um. >>Wo sind wir hier?<<

>>In irgendeinen der unzähligen unterirdischen Gänge der Pariser U-Bahn. Sie wurden irgendwann angelegt, um in Gefahrensituationen — zum Beispiel nach Bränden — schnellstmöglich Fahrgäste und Personal evakuieren zu können.<<

>>Du meinst ... dass wir durch diese Tür zur U-Bahn kommen?<<

Chong nickte lächelnd.

>>Aber was nützt uns das? Sie ist verschlossen.<<

>>Sieh' mal nach oben<<, entgegnete Chong.

Unter der Decke summte leise, fast unhörbar eine Überwachungskamera. Neben der Linse flammte plötzlich ein kleines rotes Licht auf.

>>Wir werden gerade gefilmt.<<

Es dauerte nicht sehr lange, bis die massive, schwere Tür aufschwang und zwei riesige uniformierte Kleiderschränke auftauchten, um die beiden misstrauisch zu begutachten. Unverkennbar gehörten die zwei Männer dem ortsansässigen Sicherheitsdienst an, der die U-Bahnhöfe bestreifte. Lange, nachtschwarze Schlagstöcke hingen bedrohlich an ihren ledernen Gürteln herab.

>>Was habt ihr beiden komischen Vögel hier unten verloren? Sie wissen sicher, dass das Betreten dieser Bereiche für Unbefugte verboten ist, oder? Das kann recht teuer werden.<<

>>Hören Sie, ich habe keine Zeit für lange Erklärungen. Mein Kind ist in Gefahr<<, unterbrach Chong den Wachmann entnervt.

>>Und wir lieben lange Erklärungen. Besonders unsere Kollegen von der Bahnpolizei. Haben Sie einen Ausweis dabei. Irgendwelche Papiere?<<, erwiderte der Wachmann gefährlich ruhig.

Chong ließ die Schultern sinken und schüttelte stumm wie ein Fisch den Kopf.

>>Das ist echt ungünstig, weil wir sie nämlich ansonsten auf die Wache bringen müssen, wo sie erkennungsdienstlich behandelt werden. Polizeiliche Personenüberprüfung. Feststellen der Personalien ... Fingerabdrücke nehmen ... das kann recht unangenehm werden ... und manchmal die ganze Nacht dauern<<, entgegnete der andere mit starrsinniger Freundlichkeit.

Chong war dabei, die Geduld zu verlieren. >>Hören, ich sagte es ihnen bereits. Mein Kind ist in Gefahr. Ich habe keine Zeit zu verlieren ... <<

>>Solange Sie mir nicht sagen was Sache ist, werden Sie, fürchte ich, gezwungen sein sich Zeit zu nehmen ... und zwar sehr viel Zeit.<<

>>Es ist wahr, was er sagt. Jemand ist in seine Wohnung eingedrungen und … <<, warf Mina ein, doch sie wurde unwirsch von einem der Wachmänner unterbrochen.

>>Das mag ja alles stimmen ... gut möglich ... aber das erklärt nicht, wieso Sie beide hier unten herumlatschen. Können Sie nicht lesen? Auf den Schildern steht doch klar und deutlich Betreten für Unbefugte verboten!<<

Chongs Antwort landete hammerhart und völlig überraschend in der Magengrube des Uniformierten, der mit weit aufgerissenen Augen wie ein Klappmesser zusammensackte. Blitzschnell wirbelte Chong um die eigene Achse, blockte mit der linken Hand den herabzischenden Schlagstock des zweiten Wachmanns und versetzte ihm einen Handflächenstoß mitten ins Gesicht, sodass er mit blutiger Nase rückwärts gegen die Wand taumelte.

>>Komm. Wir müssen weiter<<, stieß Chong zwischen den Lippen hervor, während er bereits durch die offenstehende Tür hindurchsprintete.

>>Hey, warte auf mich<<, keuchte Mina hinter Chongs Rücken. Sie hatte erhebliche Mühe, mit seinem Tempo schrittzuhalten.

Sie befanden sich an einem menschenleeren U-Bahnsteig. Keine 50 Meter entfernt konnte Chong eine stillstehende Rolltreppe ausmachen. Alles um die beiden herum schien so ruhig und lautlos wie auf einem Friedhof, doch das änderte sich schlagartig. Das Echo schwerer Stiefelschritte hallte plötzlich dutzendfach von den Wänden wieder und es dauerte nicht lange, bis eine Gruppe Wachmänner mit grimmigen Gesichtern die Rolltreppe heruntergerannt kam.

>>Das ist nicht gut, gar nicht gut<<, stöhnte Mina leise.

>>Halt' dich einfach hinter mir ... egal, was passiert ... vertrau' mir<<, flüsterte Chong ihr zu. Er tat einen tiefen Atemzug und ging langsam den Männern entgegen.

>>Das ist also der Typ, der hier Ärger machen will? Also ... entweder du kommst jetzt ganz ruhig und brav mit uns oder wir werden dir hier an Ort und Stelle so deinen verdammten Arsch aufreißen, dass du die nächsten Monate nicht mehr sitzen kannst<<, ergriff der Anführer der Männer das Wort.

Sie hatten sich zu sechst im Halbkreis um Chong postiert und begutachteten ihn misstrauisch. Chongs Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. Er machte eine wegwerfende, verächtliche Handbewegung gegenüber dem Redenden, als der Tanz begann. Chong sprang hoch, dreht sich in der Luft rückwärts um die eigene Achse und erwischte mit einem spagatartigen Kick zwei der Männer gleichzeitig am Kinn. Er landete geschmeidig wie eine Katze auf dem Boden, rollte über die Schulter ab und zuckte zusammen, als ein Stockhieb hart seinen rechten Arm traf. Der Schmerz lähmte kurzzeitig seine Extremität, doch noch hatte Chong ja seine Beine. Er duckte sich ab, pendelte mit dem Oberkörper an einem weiteren Stockschlag vorbei und setzte den Angreifer mit einem harten Seitwärtstritt außer Gefecht. Der Kick war so stark, dass die Schuhsohlen seines Gegners fast zehn Zentimeter vom Boden abhoben, wodurch der Mann wie ein lebloses Blatt Papier nach hinten umknickte. Rasch ergriff Chong den schwarzen Schlagstock, den der Wachmann fallen gelassen hatte, um sich blitzschnell zu ducken und dem Kerl zu seiner Rechten einen Hieb unter die Kniescheibe zu verpassen. Der brüllte auf wie ein verwundeter Stier.

>>Achtung, pass auf, hinter dir<<, hörte Chong gerade noch rechtzeitig und fuhr herum.

Der andere schlug diagonal zu, so schnell und hart, dass das Holz durch die Luft zischte.

Chong lehnte seinen Oberkörper so weit zurück, dass das Ende des Stockes harmlos seine Brust streifte. Er drehte sich, ergriff das Handgelenk seines Gegners und setzt einen äußerst schmerzhaften Armdrehbeugehebel an. Mit den Fingerspitzen der anderen Hand drückte er kurzzeitig die Carotisarterie am Hals des Mannes ab, dessen Reflexe Sekunden später erloschen. Chong ließ den Bewusstlosen zu Boden gleiten.

Ein zittriger, blasser Junge in Uniform starrte Chong ungläubig an, als hätte er gerade einen Geist gesehen. Der Schlagstock, der absolut nicht in seine Hand passte, wedelte wie Espenlaub hin und her.

>>Vergiss es. Entspann' dich, geh' nach Hause<<, riet Chong ihm warnend und der Junge trat schließlich entgeistert zur Seite.

>>So ... so etwas ... habe ... habe ich noch nie gesehen ... einfach unglaublich ... <<

>>Sei froh, wenn du es nie wieder sehen musst. Könnte schlecht für deine Gesundheit sein, mein Junge<<, entgegnete Chong mit schwachem Lächeln und trat an ihm vorbei.

>>Warten Sie. He?<<

>>Was gibt's denn noch?<<

>>Können Sie mir das beibringen?<<

Chongs Augenbrauen wanderten unwillkürlich höher.

>>Wie Sie ... na ja ... wie Sie kämpfen ... das war große Klasse ... <<

>>Ein wirklich ungünstiger, unpassender Zeitpunkt für ein ungewöhnliches Angebot. Ein paar kriminelle Killer sind hinter uns her. Ich kann das im Augenblick nicht erklären. Jedenfalls müssen wir weiter.<<

>>Ich glaube Ihnen. Ich bin sicher, dass Sie nichts Schlimmes getan haben. Dafür sehen Sie zu ehrlich aus.<<

Chong musste lachen. >>Danke für das Kompliment, aber wir haben es wirklich eilig.<<

>>Ich fürchte nur, ohne das hier werdet ihr beiden nicht sehr weit kommen.<< Der Junge hielt einen schweren Schlüsselbund in die Höhe. >>Um diese Uhrzeit sind an den meisten U-Bahn-Stationen Rollgitter heruntergelassen, die verhindern sollen, dass sich Drogensüchtige, Penner und dergleichen über Nacht hierher verziehen.<<

Mina schnappte sich die Schlüssel, ehe der Junge auch nur ein weiteres Wort von sich geben konnte. >>Bist ein Goldschatz. Dankeschön ... <<

Beide hetzten wie vom Teufel persönlich gejagt eine der Rolltreppen hinauf, bis ihre Flucht vor einem silbrig schimmernden Rollgitter abrupt endete. Chong entdeckte auf der linken Seite, unmittelbar neben dem Gitter, an einem Pfosten einen Metallkasten, dessen Vorderseite unverkennbar ein Schlüsselloch aufwies.

>>Dahinter muss sich ein Knopf, ein Schalter, irgendetwas befinden, womit sich dieses verflixte Gitter öffnen lässt. Ich bin sicher, dass das ganze Teil elektronisch gesteuert wird ... mal sehen ... <<

>>Du solltest dich beeilen. Sieh mal nach unten<<, entgegnete Mina, auf die Rolltreppe deutend.

Ein Dutzend oder mehr uniformierte Männer zwängten sich mit wütenden Blicken die Rolltreppe hinauf, bewaffnet mit Schlagstöcken, Elektroschockern und Tränengas.

>>Wir kriegen euch beide am Arsch, verlasst euch drauf<<, brüllte einer der Wachleute, wobei er ein an seinem Gürtel befestigtes Funkgerät ergriff. >>Verdächtige im Augenblick auf Ebene B ... versuchen durch Gitter 3 zu flüchten ... den Strom für das Gitter abschalten ... ich wiederhole ... den Strom für Gitter 3 unverzüglich abschalten ... <<

Chong hatte, da die Schlüssel keine besondere Kennzeichnung besaßen, keine andere Wahl, als alle der Reihe nach durchzuprobieren.

>>Sie haben uns gleich erreicht. Mein Gott, sie kommen. Und sie wollen den Strom abschalten. Wenn sie das schaffen sind wir erledigt<<, stöhnte Mina, als zu ihrer Überraschung plötzlich ein leises, kaum vernehmbares Klicken ertönte und die kleine Tür des Metallkastens aufschwang, um den Blick auf zwei Knöpfe — einen roten und einen gelben — freizugeben. Ohne zu zögern entschied sich Chong für den gelben und donnerte mit seinem Daumen darauf. Im gleichen Atemzug begann das Gitter sich surrend und summend nach oben zu bewegen, doch nach knappen 40 Zentimetern blieb es stehen und gab keinen weiteren Laut mehr von sich.

>>Der Saft ist weg. Verdammt! Schnell, roll dich drunter durch. Ich komme nach. Ich versuche, sie aufzuhalten. Mach schon. Beweg' deinen Hintern hier weg!<<

Die Thailänderin warf Chong noch einen verständnislosen, aber zugleich auch besorgten Blick zu, ließ sich zu Boden fallen und rollte unter dem Gitter hindurch.

>>Jetzt haben wir dich, du Mistratte<<, hörte Chong irgendjemanden aus der Gruppe, die auf ihn zu stürmte, schreien.

Und dann tat er etwas, womit keiner gerechnet hatte: Er kletterte wie eine Katze an den Maschen des Blechgitters hinauf, bis er sich knapp einen Meter oberhalb der Köpfe seiner Gegner befand. Einer der Wachmänner fuchtelte wütend mit seinem Schlagstock in der Luft und versuchte vergeblich, Chongs Beine zu treffen, denn der hielt sich mit beiden Händen fest und hatte die Knie bis unter die Brust angezogen.

>>Komm' schon runter, du verfluchter Bastard ... oder wir werden so lange hier stehen bleiben, bis du von alleine runterfällst.<<

>>Lass' ihn doch ruhig dort oben hängen, Mathieu<<, lachte ein anderer Wachmann, während er seinen Elektroschocker entsicherte.

>>Herunter mit dir, du feiger Hund ... wir kriegen dich so oder so. Jetzt geht dir wohl der Arsch auf Grundeis, wie? Recht so ... <<

>>Was meint ihr? Wollen wir unseren Kameraden da oben ein bisschen grillen?<<

Fassungslos stand Mina auf der anderen Seite des Gitters und musste durch dessen Maschen hilflos mit ansehen, was sich ihr gegenüber abspielte, als sie schlagartig zusammenzuckte, denn etwas Kaltes, Unangenehmes hatte gerade wie eine widerliche Spinne ihren Nacken berührt. >>Salut, mon Amour. Schön, dich wiederzusehen<<, zischte eine gefühllose Stimme hinter ihrem Rücken und sie spürte, wie ihr das Blut in den Adern gerann, während sich der kalte Stahl einer Pistole weiterhin unbarmherzig an ihren Hinterkopf presste.

>>Also, ihr beiden ... du und dein Beschützer ... ihr seid wirklich zu dämlich. Wir brauchten nur zu warten, bis die Mäuse aus ihrem Loch wieder an die Oberfläche kamen<<, flüsterte der Mann hinter Mina amüsiert.

Mit dem Mut der Verzweiflung fuhr Mina plötzlich und unerwartet herum und starrte hasserfüllt in das völlig verdutzte, ungepflegte Gesicht des Kerls, der sie bedrohte. Sie gebärdete sich wie eine Furie, spuckte ihrem Gegenüber angewidert ins Gesicht. >>Fick dich ins Knie, Bertrand. Du kannst mich mal. Weißt du was? Weißt du, was du bist? Soll ich dir sagen, was du bist? Du bist eine miese Sau. Ein hirn- und schwanzloser Furz von einem Mann. Deine Mutter hätte dich besser abgetrieben. Ich lasse mir von dir nichts mehr befehlen. Die Zeiten sind vorbei. Aus und vorbei. Ich habe keine Angst mehr vor dem Tod, im Gegenteil. Ich möchte lieber sterben als für so ein armseliges Arschloch wie dich noch irgendwas zu tun. Früher oder später wirst du für das was du tust, bezahlen. Früher oder später wird es vorbei sein mit deinen Drogengeschäften und der Zuhälterei, du Wichser ... <<

Der Mann schlug ihr mit der flachen Hand hart und brutal ins Gesicht, dass ihr Kopf förmlich zurückgerissen wurde. Blut schoss aus ihrer Nase. >>Noch ein einziges Wort und ich schwöre dir ... du wirst um deinen Tod betteln.<<

Chong bekam unterdessen von alledem nichts mit. Er blickte lediglich von seiner Position aus nach unten, sah wie der Wachmann mit dem Elektroschocker sich dem Metallgitter näherte, stieß sich blitzschnell mit Händen und Füßen von dem Rolltor ab und wirbelte mit einem Salto rückwärts durch die Luft. Mit den Händen bremste er seinen Fall auf den harten Betonboden, rollte über die linke Schulter ab und war wieselflink wieder auf den Beinen. Dem Wächter vor ihm prasselten bereits Fauststöße ins Gesicht. Das Geheimnis des Sieges ist der Angriff. Wenn du zehntausend Mann zur Verfügung hast, musst du angreifen. Wenn du nur einen Soldaten zur Verfügung hast, musst du ebenfalls angreifen. Es gibt immer einen Weg, hatte ein berühmter amerikanischer General während des Bürgerkrieges gesagt. Chong tänzelte leichtfüßig, fast spielerisch zur Seite, blockte mit der Linken einen schlagenden Arm, während er mit der Rechten dem Mann einen Handflächenstoß ins Gesicht verpasste. Seine primäre Devise lautete: In Bewegung bleiben und damit den Gegnern kein leicht zu treffendes Ziel bieten. Er drehte sich, rammte irgendjemandem hart sein Knie in die Magengrube, spürte wie ein heftiger Schlag von hinten seine Schulter traf und ein rasender Schmerz wie ein Expresszug durch seinen Körper jagte. Er wirbelte mit einem wütenden, wild entschlossenen Aufschrei herum und sprang in die Höhe. Der Halbkreiskick landete exakt am Kopf des Angreifers und schickte ihn zeitgleich ins Reich der Träume. Chong drehte seine Hüften entgegengesetzt und führte im Anschluss mit dem gleichen Trittbein einen Fersendrehschlag rückwärts aus, der seine Wirkung nicht verfehlte ... Der Wachmann wurde von dem Tritt durchgeschüttelt und nach hinten, gegen das Rollgitter geschleudert. Chong rannte zur Wand gegenüber, verfolgt von der verbliebenen Meute. Er stieß sich kraftvoll vom Boden ab, sprang erneut in die Höhe, um sich auf Brusthöhe schnell und stark mit dem rechten Fuß von der Wand vor ihm abzudrücken, noch während er sich in der Luft befand. Er landete mit seinen Füßen auf den Schultern des vordersten Wachmanns, beugte sich, legte beide Hände auf dessen Kopf und ließ sich rasch tiefer rutschen, bis er quasi mit seinem Hintern auf den mächtigen Schultermuskeln des Wächters saß und einen Genickhebel anwendete, der den Mann schließlich zu Fall brachte. Alles war rasant schnell gegangen; so schnell, dass einige der Männer über ihren zu Boden stürzenden Kollegen stolperten und das Gleichgewicht verloren, während der Chinese bereits wieder auf den Beinen war. Chong hörte hinter sich einen wütenden Schrei und fuhr herum, doch es war zu spät. Instinktiv spürte er, dass er dem Schlag unmöglich noch ausweichen konnte und so riss er seinen Unterarm in die Höhe. Der Schlagstock krachte mit aller Wucht gegen seinen Ellbogen. Was folgte, war ein Geräusch das sich anhörte wie das Brechen eines dicken Astes, als der Stock in der Mitte zerbrach. Sein Besitzer gaffte Chong ungläubig an, als hätte er gerade einen Geist gesehen, dann wurde er durch einen Faustrückenschlag zu Boden geschickt. Chong biss energisch auf die Zähne, denn ein weiterer Stockschlag hatte gerade sein rechtes Schienbein getroffen, knapp unterhalb der Kniescheibe.

Training ist Training. Sport ist Sport ... und Kampf ist Kampf. Der Unterschied zwischen den Kämpfen innerhalb irgendeines Stiles und der Straße ist der, dass es auf der Straße keine Regeln und vor allem kein Pardon gibt. Auf der Straße wirst du weder mit Sicherheit wissen was passieren wird noch wann ... noch durch wen ... noch womit. Ein kluger, gerissener Angreifer wird sein Opfer höchstwahrscheinlich unfair und hinterhältig aus einer Situation heraus angreifen, in der das Opfer erkennbar im Nachteil ist. Und das bedeutet Schmerzen, große Schmerzen, merk dir das. Wenn irgendjemand dir weismachen will, er könne sich auf der Straße jederzeit verteidigen ohne selbst mehr oder minder schwer verletzt zu werden, dann ist derjenige ein Idiot, erinnerte sich Chong an die Worte seines früheren Kung-Fu-Meisters San, während er tief durchatmete und sich bemühte, den Schmerz in seinem Schienbein einfach zu ignorieren, doch der weigerte sich zu Chongs Unmut ...

Chong steppte geschickt zur Seite, wich dadurch einem erneuten Schlag aus. Mit großartigem Timing ergriff er mit links das Handgelenk seines Gegners, verdrehte es, wodurch er den Wachmann zwang seinen Stock fallen zu lassen, während er ihn schließlich mit einer sehr harten Ellbogentechnik zum Kinn ausknockte. Er hechtete nach dem zu Boden gefallenen Schlagstock, ergriff ihn und rollte sich ab, als er gerade noch einen kaum sichtbaren, feinen Nebel vor seinen Augen wahrnehmen konnte. Irgendetwas legte sich brennend in seinen Atemwegen nieder, dass er fürchtete, jeden Augenblick seine Lungen auszuwürgen ... Die Augen begannen zu brennen, sodass er sich gezwungen sah sie für einen Moment zu schließen. Er rollte sich ab und torkelte benommen auf die Beine. Alles in ihm brannte, als hätte jemand Säure in seine Luftröhre gekippt. Ein Hustenanfall jagte den nächsten, während er sich bemühte, seine Gedanken auf die Reihe zu kriegen. Verdammt noch mal, was war bloß passiert? Pfefferspray!, wurde ihm klar. Das war so ziemlich das Gemeinste und Effektivste im ganzen Arsenal an frei verkäuflichen Selbstverteidigungswaffen. Seine Augen waren gerötet, als hätte er sich einen Tripper eingefangen, und er musste unablässig blinzeln.

>>Jetzt haben wir dich, du Sackgesicht. Hier<<, kreischte der Kerl mit dem Elektroschocker, wobei er den Taser am ausgestreckten Arm gefährlich nahe in Chongs Richtung hielt.

>>Ja, mach ihm Feuer unterm Arsch<<, rief ein anderer fanatisch.

Chong zuckte zusammen, als er von einem Tritt im Rücken getroffen wurde und vornüber zu Boden stürzte. Instinktiv wälzte er sich zur Seite, wodurch ein herabsausender Stockschlag seinen Kopf um Haaresbreite verfehlte.

>>Jetzt machen wir dich fertig!<<, hörte Chong einen anderen brüllen. Da wurde ihm blitzartig bewusst, dass es Zeit wurde den Rückzug anzutreten. Doch er ahnte nicht im Entferntesten, dass auf der anderen Seite des Gitters der Tod auf ihn wartete.

Er sprang etwas unbeholfen auf die Beine und hielt sich den ersten Angreifer mit einem harten Sidekick vom Leib. Wie ein Footballspieler rannte er mitten durch die Männer, genau auf das silbrig schimmernde Rollgitter zu, ließ sich zu Boden fallen und rollte auf die andere Seite. Da merkte er, dass er vom Regen in die Traufe gekommen war, als er das blasse, angsterfüllte Gesicht der jungen Thailänderin über sich entdeckte.

>>Wenn du auch nur einmal ungefragt mit dem Schwanz zuckst ist deine hübsche kleine Freundin hier tot, hast du mich verstanden?<<, stieß der Kerl kalt hervor.

Chong nickte widerwillig.

Ein weiterer Mann tauchte auf. Chong erkannte, dass er irgendeine Decke trug, in die sorgfältig eine Maschinenpistole eingewickelt war.

>>Dieser Chinese ... der interessiert mich. Ich bin irgendwie sicher, dass er ein Profi ist ... ich will mehr über ihn erfahren<<, sagte der Mann namens Bertrand leise zu dem anderen.

>>Meinst du dass er 'n Bulle ist?<<

>>Ich bin mir nicht sicher. So etwas in der Richtung. Nur ein Verrückter oder ein Lebensmüder legt sich leichtfertig mit der Pariser Unterwelt an. Und der Hundesohn hier ist alles andere als wirr in der Birne.<<

>>Also ein Profi?<<

>>Sag' ich doch ... <<

Ohne Vorwarnung krachte der Lauf der MP hart gegen Chongs Schläfe. Das Letzte was er wahrnahm war das grinsende Gesicht des Kerles über sich, von dem ihm der Hieb verpasst worden war, dann wurde es finstere Nacht um ihn ...

Als er wieder zu sich kam und mühsam die geschwollenen Augen öffnete, musste er feststellen, dass er von tiefschwarzer, undurchdringlicher Dunkelheit umgeben war. Langsam, fast zögernd setzte sein Denken wieder ein, während er sich vergeblich abmühte, seine hinter dem Rücken gefesselten Hände ein wenig zu bewegen.

>>Bist du in Ordnung?<<, flüsterte ganz in der Nähe eine unsichtbare Frauenstimme.

>>Sagen wir, ich lebe noch ... halbwegs ... auch wenn mir ziemlich der Schädel brummt, als hätte jemand meinen Kopf als Abrissbirne benutzt. Und du?<<

>>Ich bin okay.<<

Mina rutsche auf ihrem Hintern ein Stück über den Boden, bis sie ihn fast mit der Schulter berühren konnte. Ihre Hände waren ebenfalls mit fingerdicken Seilen gefesselt.

>>Was ist hier los? Wo sind wir?<<, stöhnte Chong schwerfällig.

>>Auf einem Frachter in Richtung Taiwan.<<

>>Was?<<

>>Bertrand hat in deinen Klamotten einen Ausweis gefunden. Ich habe mitbekommen, wie er mit einem Typ telefonierte. Ein mächtiger, einflussreicher Drogenboss. Ich glaube, weil Betrand irgendwie misstrauisch geworden war, wollte er unbedingt mehr über dich herausfinden ... tja, und das hat er auch ... <<

Chong war fassungslos. Konnte das sein? Nein, das war unmöglich, oder?

>>Jedenfalls ... dieser Kerl, mit dem Bertrand telefonierte ... ich glaube, er hieß Maurice oder so … er erwähnte ... <<

>>Maurice? Maurice Cheng ... das kann nicht sein<<, widersprach Chong erregt. >>Cheng ist tot ... <<

>>Am Telefon hörte er sich aber sehr lebendig an. Du kennst den Typen? Das dachte ich mir ... <<

Chong schüttelte in der Dunkelheit stumm den Kopf. Maurice Cheng, der Sohn eines französischen Leutnants und einer chinesischen Hure, einst der Kopf einer brutalen Drogenmafia, die ihre Ware im asiatischen Raum bezog und sie schließlich über Frankreich nach Europa und in die USA exportierte, war tot, es sei denn ...

>>Dieser Maurice, jedenfalls ... soviel habe ich mitbekommen ... unterhält Verbindungen in den USA zu einem Kerl namens Hiller ... von der CIA ... der wird wohl von der Drogenbrigade ordentlich geschmiert, damit die Bullen die Auslieferung der Ware nicht stört ... <<

Chong hatte schlagartig das Gefühl, in ein abgrundtiefes Loch zu fallen.

>>Dieser Verbindungsmann in den USA heißt nicht Hiller sondern Heller. Specialagent Heller von der CIA, mein Gott<<, flüsterte Chong entsetzt. >>Jetzt passt alles zusammen.<<

>>Jedenfalls ... kennt dieser Hiller oder Heller deine Vergangenheit als Topagent des chinesischen Geheimdienstes. Vor etlichen Jahren wurde das Gerücht gestreut, dass ranghohe Politiker in Peking korrupt seien und mit der Drogenmafia gemeinsame Sache machten. Die damalige Connection über Asien nach Frankreich und von dort in die übrige Welt war den Bullen längst bekannt. Man wollte in Peking allerdings herausfinden, ob es tatsächlich so etwas wie einen Maulwurf in Regierungskreisen gab, jemand also, der den Drogendealern immer die nötigen Tipps und Informationen zuspielte, die sie benötigten, um ungestört zu agieren. Und so versuchte man, einen Topagenten bei der Bande einzuschleusen. Du wurdest allerdings gehörig verarscht ... <<

Chong lachte bitter. >>Mehr als das ... << Jetzt begriff er allmählich die Wahrheit. >>Dieser Maulwurf ... dieser ominöse, korrupte Informant saß nicht in Peking, sondern in den USA, mitten in der CIA. Damals ging meine Behörde in Peking davon aus, dass Maurice Cheng von Florida aus operierte. Nach außen hatte der Kerl so eine weiße, saubere Weste wie der Papst, es war ihm nichts nachzuweisen. Keine Vorstrafen ... nichts. Die amerikanischen Behörden waren erst auf ihn aufmerksam geworden, als eine Nutte wegen unerlaubter, illegaler Prostitution und Drogenbesitzes vorübergehend festgenommen wurde. Die Frau gab als ihren festen Wohnsitz Chengs Adresse an. Cheng lebte auf ziemlich großem Fuß, hatte 'ne Riesenvilla mitsamt Ferrari vor der Tür. Der Verdacht lag nahe, dass Cheng ihr Zuhälter war, was die Lady jedoch energisch bestritt. Eine heimliche Observierung Chengs hatte zunächst nicht sehr viel eingebracht, außer, dass er sich mit allerlei zwielichtigem Gesindel traf. Aber das allein ist ja nicht strafbar. Heller hatte offenbar mitbekommen, dass man seinem Busenfreund Cheng am Hintern klebte und warnte ihn vermutlich. Er war es schließlich auch, der lauthals behauptete er könne beweisen, dass Cheng in den internationalen Drogenhandel verstrickt war. Jetzt verstehe ich auch, warum. Die ganze Aktion war getürkt. Der Plan, Cheng mitten in seiner Villa hochgehen zu lassen, hatte letztlich nur den Zweck, ihn von der Bildfläche verschwinden zu lassen. Die Bullen sollten glauben er sei tot, während er in Wirklichkeit seine Geschäftchen woanders unbehelligt weiterführen konnte. Schließlich war er ja durch Heller vorgewarnt worden. Heller selbst stand durch den ihm zu verdankenden Schlag gegen den vermeintlichen Drogenboss Cheng wie ein Heiliger in glänzendem Licht da. Dieses verdammte Schwein, mein Gott, dass ich nicht schon früher darauf gekommen bin ... <<

>>Für dich lief die ganze Sache damals allerdings nicht so gut ... <<

Chong nickte im Dunkel neben ihr. >>Während meines Aufenthaltes in den USA erhielten die Pekinger Drogenfahnder einen anonymen Tipp, dass ich mit den Drogendealern gemeinsame Sache machen würde. In meiner Abwesenheit wurde mein Appartement auf den Kopf gestellt und ganze 25 Kilo Heroin beschlagnahmt.<<

>>Whoa ... ganz schön heftig ... <<

>>Zugleich kursierte unter den internationalen Drogendealern das Gerücht, dass ich derjenige gewesen sei, der Cheng ans Messer geliefert hatte. Die chinesischen Behörden bereiteten einen Haftbefehl für mich vor. Eine Bombe jagte kurze Zeit später vor meinen Augen meinen Wagen in die Luft. Ein Sniper ballerte nachts vom Dach eines Hauses durch das Fenster meines Motelzimmers ... Diese Drecksäcke werden keine Ruhe geben, bis du in der Kiste liegst, sagte Heller damals zu mir. Heller meinte, ich könne momentan nicht nach Peking zurück, wegen der in meinem Appartement gefundenen Drogen. Im Gegensatz zu den Chinesen waren die Amerikaner von meiner Unschuld überzeugt. Der einzige Schutz für mich wäre eine neue Identität. Neuer Name. Neuer Pass. Neues Outfit ... neues Leben ... unbehelligtes Leben. Heller habe ich es zu verdanken, dass man mich in den USA damals in eine Art Zeugenschutzprogramm aufgenommen hat — vor allem wegen sich wiederholender Mordanschläge seitens der Drogenmafia gegen mich. Das war die Geburt von Li Chong Hanzhiou. Ich erhielt einen neuen Pass, veränderte ein wenig mein Äußeres — kürzere Haare, Bart weg ... und reiste damals unbehelligt auf Hellers Anraten hin nach Frankreich, wo ich seiner Meinung nach am Sichersten war. In Wahrheit saß ich all die Jahre in Paris mit dem Teufel unter einem Dach. Es war ein dämonisch cleverer, geschickter Schachzug Hellers, mich nach Frankreich zu entsenden, denn zum einem kannte Heller als Chengs Komplize in spe meine wahre Vergangenheit. Und zum anderen hatte Cheng seinen Feind unmittelbar in nächster Nähe, sodass er ihn praktisch jederzeit kontrollieren und nötigenfalls auch eliminieren konnte. Cheng, der nach seiner vermeintlichen Exekutierung seine Geschäfte von den USA nach Paris verlegt hatte wusste von mir, aber nicht umgekehrt, was ihm einen enormen, riesigen Vorteil verschaffte. Ich bin sicher: wenn Cheng in den letzten Jahren auch nur den Hauch einer Ahnung verspürt hätte, dass ich ihm auf den Fersen wäre, dann hätte er mich ohne zu zögern ausgepustet.<<

Chong erschrak. All die Jahre unter neuem Namen hatte er sich und seine Familie in Sicherheit geglaubt, doch in Wirklichkeit schwebte bereits seit Langem ein unsichtbares Damoklesschwert über ihnen. Er erschauderte bei der Vorstellung, dass einer von Chengs Schergen jederzeit aus einem Hinterhalt auf seine Frau hätte schießen können — oder seine Tochter entführen. Oder beides. Oder Schlimmeres. All die Jahre, die er sich in Sicherheit wähnte ...

Er dachte an seine Tochter und schickte in Gedanken ein flehendes Gebet zum Himmel, dass ihr der fremde Mann doch ja nichts antun möge. Und er dachte an seine Frau, die jetzt längst nach Hause gekommen sein musste. Vermutlich war sie dem Eindringling längst über den Weg gelaufen. Nein, Chong konnte und wollte jetzt nicht daran denken, das würde ihn vor Sorge fast in den Wahnsinn treiben.

>>Die amerikanischen Behörden haben dir geholfen, trotz der Drogen, die man damals in deinem Appartement gefunden hat?<<, holte Minas Stimme Chong in die Gegenwart zurück.

>>Auch das hatte Heller zu meinen Gunsten gedreht. Er war überzeugt — und überzeugte auch seine Vorgesetzten — dass mir irgendjemand die Drogen untergeschoben hatte. Wahrscheinlich der mysteriöse, korrupte Maulwurf, auf den es die Pekinger Behörden abgesehen hatten.<<

>>Aber schließlich wurde doch der Verdacht auf dich gelenkt. Man ging davon aus, du könntest der gesuchte Maulwurf sein.<<

>>Den Verdacht schürte Heller vermutlich, nachdem ich meine neue Identität hatte, weil Ermittlungen gegen ihn wegen möglicher Bestechung bevorstanden. Wahrscheinlich wollte er einfach von sich ablenken, dieses Aas. Du liebe Güte, wie blind und dumm ich doch gewesen bin. Heller ist seit jeher die Schlüsselfigur in dem ganzen Spiel. Er war es, der mir die Idee ans Herz legte nach Frankreich auszureisen ... mitsamt einer neuen Identität. Er wusste von Anbeginn über meine wahre Vergangenheit Bescheid und konnte mir jederzeit die Hölle bereiten, indem er den falschen Leuten die Wahrheit über mich zukommen ließ. Er konnte mir jederzeit Chengs Drogenmafia oder den chinesischen Geheimdienst auf die Fersen hetzen.<<

>>Ich glaube nur, das wird in Anbetracht unserer derzeitigen Situation nicht mehr nötig sein, oder?<<

Chong widersprach: >>Solange wir am Leben sind, haben wir noch eine Chance.<<

>>Irgendeine Idee? Ich meine ... wie wir hier raus kommen?<<

>>Nicht die mindeste<<, gestand Chong ehrlich. >>Aber ... wenn die Typen uns hätten umlegen wollen, dann wären wir schon tot. Das lässt hoffen. Da steckt anderes dahinter. Es hat vermutlich damit zu tun, dass die Kerle über meine Vergangenheit im Bilde sind.<< Chong rutschte nach hinten gegen eine Wand, zog die Füße an und stemmte sich in die Höhe. >>Sieht ganz danach aus, als würde man uns in einer Art Metallcontainer gefangen halten. Wenn wir uns gegen die Tür stemmen, würde das vermutlich einen Höllenlärm erzeugen, und dann würde möglicherweise eine ganze Horde bewaffneter Killer hier reinströmen. Wir müssen uns etwas einfallen lassen. Als Erstes sollten wir versuchen uns von diesen dämlichen Stricken an den Handgelenken zu befreien.<<

Das Loswerden der Fesseln stellte sich für beide als nicht sonderlich schwierig heraus, denn ihre Gegner hatten sich damit nicht viel Mühe gemacht. Das war schließlich auch nicht notwendig gewesen, denn immerhin hielt man sie wie Frischfleisch in einer fest verschlossenen Konservenbüchse gefangen.

>>Wir müssen etwas tun, was ihre Aufmerksamkeit erregt, ohne dass sie misstrauisch werden ... <<

Chong schwieg einen kurzen Moment, dann kam ihm eine Idee. >>Kannst du einen Orgasmus vortäuschen?<<

>>Du stellt vielleicht Fragen ... <<

>>Ich möchte dich nur bitten, dass du gleich laut und aus vollem Hals zu stöhnen beginnst. Kriegst du das hin?<<,

>>Ja ... ich glaub' schon.<<

Chong tastete sich an der Wand entlang bis er sicher war, dass er die verschlossene Tür des Containers vor sich hatte, und postierte sich seitlich daneben.

>>Alles klar. Dann leg' mal los ... zeig's mir, Baby ... <<

Mina zuckte gleichgültig mit den Achseln, holte tief Luft und begann zu stöhnen, was das Zeug hielt.

Chong horchte angestrengt, doch anscheinend tat sich draußen nichts.

>>Das haben sie wohl nicht gehört. Versuch's noch ein wenig lauter.<<

>>Dann schrei' ich mir fast die Lunge aus dem Hals.<<

>>Mach schon.<<

Mina startete ihren nächsten Stöhnversuch, während Chong weiterhin aufmerksam lauschte.

Da war etwas ... Schritte ... Schritte von schweren Stiefeln ... Sie kamen näher ... und näher ...

Plötzlich wurde die Tür aufgerissen. Das einfallende Licht schmerzte und blendete Chongs Augen. Im Türrahmen erschien die Silhouette eines bulligen Mannes, vor dessen Brust eine Maschinenpistole baumelte.

>>Wenn dein Stecher mit dir fertig ist, du geile, dreckige Schlampe, und du mal einen Fick mit einem richtigen Mann ... <<

Der Kerl stolperte über Chongs Fuß und knallte auf den Boden. Ehe er richtig begriff was passiert war, hatte sich Chong bereits mit seinem ganzen Gewicht auf ihn geworfen und seinen Hals gepackt. Mit aller Kraft drückte er seinem Gegner die Luftröhre ab, bis dieser röchelnd erschlaffte. Im Anschluss wurde der Ganove an Händen und Füßen gefesselt. Chong stopfte ihm zur Sicherheit noch ein Taschentuch in den Mund, damit er nicht auf die Idee kam, um Hilfe zu rufen.

>>Schau' mal ganz vorsichtig nach draußen, wie das Wetter ist ... <<

>>Aber ganz vorsichtig<<, entgegnete Mina, wobei sie behutsam durch die offenstehende Tür hinausspähte. >>Alles ruhig. Verdächtig ruhig ... <<

Es war heller Tag und sie befanden sich an Deck irgendeines Schiffes. Überall waren mannshohe Kisten zu erkennen, doch so sehr Mina auch umherspähte, sie konnte nirgends auch nur eine einzige Menschenseele entdecken. >>Am anderen Ende des Schiffes sehe ich ein rechteckiges Loch ... vermutlich eine Treppe, die in die Tiefe führt. Dahinter erhebt sich ein meterhoher Aufbau mit Fenstern. Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, hinter den Fenstern scheinen sich Leute zu bewegen ... <<

>>Das ist unser Ziel. Aber zunächst sollten wir machen, dass wir hier rauskommen. Solange der Container korrekt von außen verschlossen ist, werden die Typen keinen Verdacht schöpfen.<<

Chong nahm die MP an sich und trat zögernd auf das Deck hinaus ins Freie. Allmählich gewöhnten sich seine Augen wieder an das Tageslicht. Tageslicht? Chong erschrak, wie die Zeit verronnen war, denn immerhin zeigte seine Swatch zehn Uhr morgens und das verstärkte die Sorgen um seine Tochter immens, da seit dem späten gestrigen Abend, als er beschlossen hatte noch ein wenig zu joggen endlose Stunden verflossen waren ... Innerlich fluchte und schimpfte er über sich und seine Dummheit, seine Tochter allein zu Hause zu lassen. Verdammt, warum hatte er sich auch auf eine Auseinandersetzung mit diesem jungen Halbstarken am Seine-Ufer eingelassen? Was hatte er damit beweisen wollen? Der überlegene Mann kämpft nicht. Siegen ohne zu kämpfen, das ist die einzige, die wahre Kunst, hörte Chong in Gedanken die Stimme seines Meisters San. Dein hitziges Temperament wird dich eines Tages noch in Schwierigkeiten bringen ...

Mina folgte Chong ins Freie. Rasch verriegelten sie die Tür des Containers.

>>Wir müssen zusehen, dass wir vom Deck verschwinden ... hier draußen geben wir eine wunderbare Zielscheibe ab ... komm' ... << Chong duckte sich, um gleich darauf zu einer der Kisten, die er als Deckung auserkoren hatte, hinüber zu sprinten, doch alles blieb entgegen seiner Erwartung totenstill. Er spähte vorsichtig zu den Fenstern auf der anderen Seite des Decks hinüber. >>Da stimmt was nicht.<<

>>Wie kommst du darauf?<<

>>Ich kann keine Menschenseele mehr in dem Raum entdecken und die müssten doch mittlerweile ihren Kumpel zumindest vermissen. Irgendeiner müsste doch mal den Kopf rausstrecken, aber da tut sich nichts und genau das macht mir Sorgen. Warte hier ... <<

>>Was hast du vor?<<

>>Ich werde rüberkriechen und nachsehen, was da los ist.<< Chong wartete ihre Antwort gar nicht erst ab, denn für Diskussionen blieb ihm keine Zeit. Vorsichtig pirschte er sich auf dem Bauch näher an das rechteckige Loch, das eine grüne Stahltreppe in sich barg, und lugte in die Tiefe. Nichts. Kein Schuss, kein Geräusch. Er kroch angespannt an der Treppe vorbei, bis er sich unmittelbar an der Wand der Kajüte, direkt unterhalb eines der Fenster befand. Die Stille ringsum zerrte allmählich an seinen Nerven. Stille? Das war es, was Chong so nachdenklich stimmte, denn er vernahm weder Motorengeräusche der Schiffsmaschinen, noch spürte er den leisesten Fahrtwind auf seiner Haut, woraus er schloss, dass das Schiff irgendwo auf offenem Meer vor Anker lag, und das stimmte ihn noch misstrauischer. Er holte tief Luft und lugte vorsichtig über den unteren Rand des Fensters in den Raum, doch er konnte keine Menschenseele ausmachen. In geduckter Haltung sprintete er zu der Tür um die Ecke, stieß sie auf und sprang mit schussbereiter MP vorwärts, doch er ließ sie rasch wieder sinken. Außer angetrunkenen Bierflaschen, unzähligen Seekarten, sowie einem verwirrenden Heer aus Hebeln, Schaltern und Knöpfen konnte er nicht einmal eine Fliege ausmachen.

>>Verdammt, was ist hier los?<<

Chong kehrte zur Treppe zurück. Es ließ sich nicht vermeiden, dass seine Schritte auf den stählernen Stufen ein lautes Echo erzeugten, das von den Wänden ringsum höhnisch widerhallte. Er wusste mit absoluter Sicherheit: Falls unter Deck jemand in einem Hinterhalt auf ihn lauerte, dann war er praktisch schon so gut wie tot ...

Die Treppe mündete in einen schmalen, gerade mal mannshohen Gang und irgendwie hatte es Chong fast schon erwartet, dass es weiter ruhig blieb. Er durchforstete hastig unzählige Räume und spätestens, als er die Mannschaftskajüten sowie den angrenzenden Aufenthaltsbereich und den Maschinenraum abgegrast hatte, war er sich vollkommen sicher, dass das Schiff verlassen worden war.

In Chongs Gedanken tauchte plötzlich das überdimensionale Gesicht von Maurice Cheng auf. Au revoir, mon ami, schien es zu sagen. Ein eiskalter Schauer jagte über Chongs Rücken und er fühlte plötzlich das Blut in seinen Schläfen pochen. Ein gewaltiger Andrenalinschub fegte wie ein Tornado durch seinen Körper.

Das Stresshormon aktivierte Chongs Erinnerungsvermögen. Er erinnerte sich daran, wie viele Jahre zuvor eine Hundertschaft schwer bewaffneter Polizeibeamte in den USA kurz davor gestanden hatte, Chengs Anwesen zu stürmen, um ihn festzunehmen. Tot oder lebendig. Das Grundstück war lückenlos umstellt gewesen. Dazu ein Hubschrauber mit Spezialeinsatzkräften hoch in der Luft über Chengs Villa, um das Dach einzunehmen. Dann kam der Zugriffsbefehl … und mit ihm war alles in die Luft geflogen ... 22 Beamte hatten damals bei dem Versuch Chengs Villa zu stürmen ihr Leben verloren, weitere 17 waren schwer verletzt worden. Chong wusste, er würde die grauenhaften Bilder von verblutenden, schreienden Menschen, zerfetzten, entstellten Gesichtern und abgetrennten Gliedmaßen nie mehr vergessen. Wie ein Blitz aus heiterem Himmel traf ihn schlagartig die Erkenntnis und er rannte wie der Teufel zurück an Deck. Mina blickte ihn verwundert an, als Chong sie hastig am Arm packte und zur Reling zerrte.

>>He, was soll das? Bist du verrückt?<<

>>Spring ins Wasser. Mach schon. Hier wird bald alles in die Luft fliegen.<<

>>Aber was ... wie kommst du darauf?<<

Statt einer Antwort legte Chong rasch den Arm um sie und riss sie mit sich über Bord. Beide fielen wie ein Stein ins Wasser, als es hinter ihnen einen lauten, ohrenbetäubenden Knall gab.

Zwei Kilometer weiter lag zur gleichen Zeit eine schneeweiße Luxusjacht vor Anker. Ein Mann in weißer Hose und blauem T-Shirt spähte mit genüsslichem Lächeln durch sein Fernglas.

>>Zufrieden?<<, fragte ein anderer.

Maurice Cheng nickte lächelnd. >>Aber wir sollten sichergehen, dass die beiden auch wirklich kaltgestellt sind. Mathieu.<<

Der Angesprochene trug eine moderne Tauchausrüstung sowie eine Harpune.

>>Hast du nicht Lust, ein bisschen zu tauchen?<<

>>Mit Vergnügen ... <<

>>Wir erhalten heute noch eine Lieferung unserer ... arabischen Freunde ... und ich möchte nicht riskieren, dass uns irgendwer dazwischenfunken könnte. Und sei es auch nur durch einen dummen Zufall ... <<

Es war ein offenes Geheimnis, dass in so manchen orientalischen Ländern Drogen produziert wurden. Allein in Afghanistan wurde weit über die Hälfte des Weltopiumhandels hergestellt ... und da der Terrorismus enorme Geldsummen zu seiner Finanzierung benötigte, hatten extreme Muslime längst den Drogenhandel für sich entdeckt. Karem-Abu Jossr hatte sich Cheng als zuverlässiger Geschäftspartner angeboten und Cheng seinerseits hatte die Gelegenheit genutzt.

>>Au revoir, mon ami.<<

***

Etliche Stunden zuvor.

Han-Yeun spürte, wie sich unmittelbar nach dem Telefongespräch mit ihrer Tochter ihr Magen aus irgendeinem unerfindlichen, verrückten Grund zu verkrampfen begann. Eine unerklärliche, noch nie da gewesene Unruhe wanderte wie ein grauenhaftes, grässliches Insekt langsam durch ihren Körper. Sie wusste, dass es in der Natur Tiere gab die, wenn sie eine Gefahr witterten, instinktiv extrem nervös wurden. Daran musste sie einfach denken, als sie das Gespräch beendet hatte. Noch immer befand sie sich am Flughafen, tauschte nachdenklich in ihrer Umkleidekabine ihre Stewardessenuniform gegen eine pechschwarze Lederkluft, nahm ihren blau-weißen Motorradhelm von der Ablage über ihrem Spind, fuhr sich noch einmal flüchtig durchs Haar und trat schließlich hinaus in einen der unzähligen Gänge.

Sicherheitsleute, Wachmänner patrouillierten an den Flughafenterminals, in das übliche Männergerede versunken. Han-Yeun grüßte sie flüchtig, wurde jedoch kaum von ihnen zur Kenntnis genommen. Sie fühlte sich müde und ausgelaugt, wie so häufig nach Langstreckenflügen, und die Zeitverschiebung tat das ihre dazu.

>>Vielleicht bin ich einfach nur hysterisch ... bilde mir irgendetwas ein<<, murmelte sie vor sich hin, während sie sich mit schweren Beinen dem Ausgang näherte.

Ein paar schnatternde Kolleginnen überholten sie mühelos:

>>Ist von Este Laure ... für nur 100 Dollar ... in New York ... Schnäppchen ... <<

>>So günstig ... 100 Dollar zahl' ich allein für mein Katzenfutter ... <<.

>>Hallo Hanni, grüß dich ... auch wieder im Lande? Fahr bloß nicht per Anhalter ... du wirkst schon mitgenommen genug ... <<, frotzelte die Erstere grinsend, als sie im Vorbeigehen Han-Yeun neben sich gewahrte.

>>Danke für das Kompliment. Ich hoffe, dein nächster Flieger muss in der Antarktis notlanden, damit sich die Pinguine über deine Witze einen Frack lachen können<<, konterte Han prompt.

>>Ach, die Kälte würde nichts ausmachen. Ich hab' nämlichen 'n heißen Arsch ... <<

Die beiden lachten lauthals miteinander und Han war heilfroh als die beiden endlich weiterzogen, denn ihre Ohren schmerzten bereits. Wenig später trat sie hinaus auf den Personalparklatz und sog die nächtliche Luft tief ein. Ihr ganzer Stolz stand am anderen Ende des Platzes und ließ ihr Herz pulsieren: eine Harley Davidson Goldwing ... Schon als Kind war Han verrückt nach Motorrädern gewesen, nicht zuletzt, weil einer ihrer älteren Brüder damals ein begeisterter Motocrossfahrer gewesen war. Mit ihren großen, schwarzen Augen hatte sie damals jedes Mal nahe an der Rennstrecke gestanden und die vorbeisausenden Motorräder verfolgt.

Han stülpte sich lächelnd den Helm über ihren Kopf und schwang sich auf die reichlich Platz bietende Sitzbank. Sie machte als zierliche Frau auf einem fünf Zentner schweren Motorrad vermutlich den gleichen Eindruck wie eine Fliege auf einem Elefanten, aber das war ihr egal. Sie steckte den Zündschlüssel ins Schloss, bis die Maschine unter ihrem Hintern ein erstes, startbereites Grollen ertönen ließ.

Das erste Mal mit Harleys in Kontakt gekommen war sie einige Jahre zuvor bei einem Flug in die USA. Da sie zwischen den Flügen immer eine bestimmte Aufenthaltsdauer am Zielort hatte, war es ihr in den Sinn gekommen, eine Motorradmesse zu besuchen. Und die Harley war es gewesen, die spontan ihr Herz erobert hatte. Chong hatte sie kurzerhand nach Europa importieren lassen, um sie ihr zum Geburtstag zu schenken.

Mir den Zehenspitzen konnte Han gerade noch mal so eben den Boden berühren. Es stellte jedes Mal einen wahnsinnigen Kraftakt für sie dar, die Maschine nach vorne zu schubsen, um die Stützen einzuklappen, aber irgendwie schaffte sie es doch. Schließlich glitt die Harley mit sanftem Donnern langsam vorwärts. Han kuppelte, schaltete und gab Gas. Eine Erfahrung, die jedes Mal einzigartig war und die von jedem eingefleischten Harleyfahrer bestätigt werden konnte.

Das Motorrad preschte durch nächtliche, schwach befahrene Straßen dahin, während Hans Gedanken zum Telefonat mit ihrer Tochter zurückkehrten. Chong war im Grunde genommen ein sehr pflichtbewusster und gewissenhafter Mann und dass er so spät in der Nacht noch weggegangen war erschien ihr recht ungewöhnlich, noch dazu ohne eine Nachricht zu hinterlassen. An der nächsten Kreuzung blickte sie flüchtig auf ihre Armbanduhr, die ihr zehn vor zwei signalisierte. Nachdem die Ampel endlich auf Grün geschaltet hatte ließ sie das Motorrad kurzerhand einige Meter entfernt an den Straßenrand rollen und hielt an. Hastig kramte sie ihr Handy aus der Jackentasche hervor und tippte mit dem Daumennagel, doch diesmal meldete sich nicht ihre Tochter ...

>>Ja?<<, vernahm sie eine schnöde, mürrisch klingende Stimme und schlagartig legte sich eine kalte, eisige Hand um ihr Herz.

>>Falsch verbunden<<, stieß sie mühsam hervor und beendete rasch mit zittrigen Fingern das Telefonat. >>Mein Gott, was geht da vor?

Sie hatte sich eindeutig nicht verwählt, hatte ihre Nummer gewählt, doch anstelle ihres Mannes antwortete am frühen Morgen ein Unbekannter, der sich alles andere als freundlich anhörte.

>>Du liebe Güte. Was soll ich jetzt nur tun?<<

***

Die peinigenden Kopfschmerzen schienen sie fast in den Wahnsinn zu treiben, dabei hatte sie bereits unzählige hoch dosierte Aspirinpillen mit Mineralwasser die Kehle hinunter gespült. Als der mächtigste Mann der Welt das Oval Office betrat wurde das Pochen in ihren Schläfen nicht besser, im Gegenteil ...

>>Mister President ... <<

Das Gesicht des Staatsoberhaupts der USA wirkte äußerst angespannt. Tiefe Ringe hatten sich unter seine braunen Augen gelegt. Er hörte sich die Ausführungen seiner Sicherheitsberaterin über den jüngsten Anschlag im New Yorker Hauptbahnhof an und ertappte sich dabei, wie er unaufhörlich mit der Rechten am Knoten seiner Krawatte herumzunesteln begann, als würde sie ihm die Luft abschnüren.

>>Mein Gott ... gibt es ... haben wir eine konkrete Schadensbilanz? Anzahl der Opfer ... der Verletzten ... genaue Hinweise über die Drahtzieher?<<

Die Sicherheitsberaterin deutete auf die beiden stumm und ehrfürchtig schweigenden Männer — hochrangige Vertreter von FBI und CIA, verantwortlich für die innere Sicherheit des Landes — zu ihrer Linken. Ein Mittfünfziger im dunklen Nadelstreifenanzug trat schließlich einen Schritt vor. Er hatte ein rosiges, fülliges Vollmondgesicht und sein ansonsten kahler Schädel wurde von einem dünnen silbrigen Haarkranz umrahmt. Der Mann genoss sichtlich die ihm zuteilgewordene Aufmerksamkeit, rückte ruhig, fast schon bedächtig seine dicke, altmodische Hornbrille zurecht und tat einen tiefen Atemzug, der die Fleischmassen über seinem Gürtel in Bewegung brachte.

>>Burke? Kommen Sie endlich zur Sache, oder sollen wir Ihnen vielleicht von den Lippen ablesen?<<, mahnte die Sicherheitsberaterin, woraufhin der Angesprochene schuldbeflissen seine klugen, listigen Augen zu Boden senkte.

>>Verzeihung.<<

>>Also?<<

>>Eine konkrete, verlässliche Aussage über die Höhe der entstandenen Schäden lässt sich zurzeit leider nicht erstellen. Die Aufräum- und Bergungsarbeiten dauern wahrscheinlich noch Tage, wenn nicht gar Wochen. Viel schlimmer sieht es aus in Bezug auf die Opfer. 47 wurden direkt oder unmittelbar durch die Explosion getötet. Darunter auch der Attentäter. Das, was von seinem Körper noch übrig geblieben ist, ist für eine Identifizierung nicht geeignet. Gewebe und Knochenfragmente wurden über Hunderte von Meter verstreut. Derzeit wissen wir weder mit Sicherheit, wer er ist, noch wo er herkam. Die Gerichtsmediziner versuchen zurzeit, durch Untersuchungen von DNA und Zahnsplittern weiterzukommen. 229 Verletzte haben die Rettungskräfte bislang registriert, von denen vermutlich elf in den nächsten Tagen an ihren schweren Verletzungen sterben werden. Doch es hätte schlimmer kommen können, viel schlimmer ... <<

Burke berichtete von dem mit Kerosin beladenen Güterzug.

>>Wir alle sind Specialagent Jamal zutiefst zu Dank verpflichtet. Er war zufällig vor Ort, hat anscheinend einen kühlen Kopf bewahrt und die Ausweitung der Katastrophe damit verhindert ... <<

Burke fuhr mit einer kurzen Beschreibung von Jamals Lebenslauf fort.

>>Ein ehemaliger Harvardabsolvent ... cum laude ... dann United-States-Marine-Korps ... brachte es dort bis zum Lieutenant, bevor er von uns ... ich meine natürlich von der Regierung angeheuert wurde ... einer unserer besten und zuverlässigsten Männer — erfahren, hochintelligent, körperlich absolut topfit, hohes Maß an Selbstkontrolle, auch unter Stress ... spricht fließend mehrere Sprachen ... ein überaus integerer, loyaler und zuverlässiger Charakter ... <<

>>Ich werde ihn mit dem Silverstar auszeichnen lassen<<, erwiderte der President.

Price, die Sicherheitsberaterin, kannte Jamal schon seit seinem Eintritt in den Staatsdienst und war von seinem Charme genauso fasziniert, wie von seiner bescheidenen, normalerweise zurückhaltenden Art. >>Es gibt sichere Hinweise, dass Karem-Abu Jossr hinter dem Anschlag steckt. Das letzte Lebenszeichen von Jossr stammte aus Frankreich ... um genau zu sein: Paris ... <<

>>Dann wird es, glaube ich, höchste Zeit, dass wir einen unserer Männer nach Europa schicken, um diesen Hundesohn bei den Ei... <<

>>Mister President!<< Price war eine solche Ausdrucksweise ihres Vorgesetzten alles andere als gewohnt.

>>Entschuldigung ... ich meine natürlich, dass es höchste Zeit wird, Jossr ein für alle Mal das Handwerk zu legen<<, korrigierte sich Donald Harellson, der Präsident, rasch. >>Da draußen vor dem Oval Office lauern drei Dutzend Reporter, die nur darauf warten sich wie blutgierige Wölfe auf uns zu stürzen ... noch dazu stehen in einem halben Jahr die nächsten Präsidentschaftswahlen an ... ich kann mir gut vorstellen, dass die Presse zusammen mit der Opposition mächtig Druck auf uns ausüben wird wegen des aktuellen Terroranschlags. Deswegen wird es wichtig für uns alle werden Ergebnisse zu liefern. Schuldige zu finden. Ehe es jemand anderes tut, der vielleicht die Dinge nach seinem eigenen Gutdünken auslegt ... <<

>>Wir sollten unseren Besuch in Frankreich offiziell machen ... ich halte es für ratsam, den französischen Staatschef über den aktuellen Stand der Dinge in Kenntnis zu setzen, da wir mit ziemlicher Sicherheit auch auf die Hilfe der französischen Behörden angewiesen sein werden. Es wäre außerdem ratsam ein Zweierteam über den großen Teich zu schicken. Das hat nicht nur den Vorteil, dass zwei paar Augen und Ohren mehr wahrnehmen. Falls einem unserer Leute etwas zustoßen sollte könnte der andere die Arbeit fortführen<<, fügte Price hinzu.

>>Gute Idee, nur wen von unseren Leuten sollten wir Jamal als Partner bei dem ihm vorliegenden Auftrag zur Hand gehen lassen?<< Harellson blickte fragend in die Runde.

>>Dinks?<<

Price funkelte Burke böse an. >>Kommt nicht infrage, der Junge ist noch viel zu grün und unerfahren. Außerdem ist er hitzig und temperamentvoll. Wir können in Paris keinen Ramboverschnitt brauchen.<<

>>Partons?<<, fragte Burke zögernd.

Die Sicherheitsberaterin schüttelte energisch den Kopf. >>Ich denke nicht, dass Partons schon wieder hundertprozentig einsatzfähig ist. Er hatte sich vor ein paar Monaten erst bei einer Übung das Sprunggelenk frakturiert, als er mit ein paar anderen Jungs das Abseilen von Hubschraubern trainierte. Er ist zwar ein guter Mann, aber ich möchte kein unnötiges Risiko eingehen.<<

>>Heller?<<

Specialagent Heller war zwar, was seine Arbeit anbelangte top, aber charakterlich sicherlich nicht jedermanns Kragenweite. Dazu trug nicht zuletzt auch seine bisweilen aufdringliche, manchmal auch überhebliche Art bei. Price schwieg einen kurzen Augenblick — ein Zeichen, dass sie nachdachte. Sie wusste, dass Jamal und Heller bislang noch nie als Teampartner gemeinsam gearbeitet hatten und daher fragte sie sich spontan, wie die beiden wohl miteinander zurechtkommen würden. Jamal würde vermutlich gute Mine zum bösen Spiel machen. >>Ach was, sie sollen miteinander arbeiten ... und sich nicht heiraten<<, murmelte sie schließlich, dann nickte sie.

>>Einverstanden<<, fügte der Präsident hinzu. Zum ersten Mal seit langer Zeit hatte er das intensive Bedürfnis nach einer Zigarette, doch er widerstand tapfer. >>Gibt es sonst irgendwelche schlechten Neuigkeiten, die mir meinen Tag noch mehr verderben könnten?<<

Price nickte düster. >>Ich fürchte ja.<<

Das Oberhaupt der USA hatte das Gefühl, als hätte man ihm ein Glas Eiswasser ins Gesicht geschüttet.

>>Unsere russischen Freunde wurden von den Terroristen ebenso wenig verschont wie wir. Irgendwelche Verrückten haben vor wenigen Stunden versucht einen Militärkonvoi zu überfallen. Der Premier im Kreml hat einen wahren Tobsuchtsanfall bekommen, als er davon erfahren hat. Er hat unverzüglich den Befehl gegeben die Terroristen mit allen erdenklichen Mitteln zur Strecke zu bringen. Die ganze Aktion erscheint mir von vornherein als völliger Wahnsinn. Ein russischer Jeep wurde durch eine Panzerfaust der Terroristen getroffen und förmlich in Stücke gerissen. Der Befehlshaber der 5. russischen Infanteriedivision, Oberst Wolkov, erahnte jedoch irgendwie intuitiv die Pläne seine Gegner und so ließ er die ganze Kompanie, die dabei war von einem ihrer Manöver nach Hause zurückzukehren, kurzerhand in der Nähe einer Brücke anhalten und ausschwärmen. Der Rest ist, wie sich bereits alle denken können, Geschichte. Hunderte und Aberhunderte schwer bewaffnete Soldaten strömten aus und begannen Jagd auf die Terroristen zu machen. Die leisteten zwar noch eine Weile Gegenwehr, waren letztlich aber doch der übermächtigen russischen Armee hoffnungslos unterlegen. Keiner von ihnen überlebte. Aller Wahrscheinlichkeit nach handelt es sich um tschetschenische Rebellen. Als Wolkovs Sprengstoffexperten die Brücke untersuchten stellten sie fest, dass an nahezu allen Brückenpfeilern Sprengladungen angebracht worden waren. Die hätten ausgereicht, um die gesamte Konstruktion in die Luft zu blasen.<<

>>Das ergibt doch alles keinen Sinn ... ich meine ... so ein amateurhafter Anschlag ... noch dazu in wahnsinniger, selbstmörderischer Weise gegen die russische Armee. Das Ganze hätte nie und nimmer funktionieren können.<<

>>Vielleicht war genau das die Absicht, Mr. President. Vor einigen Jahrzehnten versuchten ein gewisser Führer auch seine Feinde zu verwirren, indem er Scheinangriffe an der einen Front ausführen ließ, um dann überraschend ganz woanders zuzuschlagen.<<

Der Präsident schluckte hörbar. >>Sie meinen ... eine Ablenkung, Price?<<

Price nickte. >>Möglich wär's schon ... auf jeden Fall war es eine konkret geplante Aktion. Und wer auch immer sie organisiert hat wusste schon im Voraus mit ziemlicher Sicherheit, dass sie ein selbstmörderisches Himmelfahrtskommando sein würde.<<

>>Sie denken, das waren alles so etwas wie Selbstmordattentäter?<<, warf Burke erstaunt ein.

>>Menschliche Bomben. Die gefährlichste Bedrohung durch Terroristen überhaupt. Etwas, wogegen es keinen sicheren Schutz geben kann. Radikale, muslimische Schläfer können unerkannt über Jahre hinweg in nahezu jedem Land der Erde leben, bis sie für ihren Auftrag geweckt werden. Leute, die so fanatisch sind, dass sie keine Furcht vor dem Tod haben und noch viel weniger davor, andere mit ins Verderben zu reißen.<< Price stellte erleichtert fest, dass das Hämmern in ihren Schläfen endlich nachzulassen begann, dann fuhr sie fort: >>Wir wissen derzeit genauso wenig wie unsere russischen Kollegen, was sich dort drüben bei denen genau abgespielt hat, aber wir können, glaube ich, ziemlich sicher sein, dass das Ganze keine Tat irgendwelcher dummer, harmloser Amateure oder gar unglücklicher Zufall war. Wer auch immer hinter der Sache in Russland steckt ... er wollte — davon bin ich überzeugt — Aufmerksamkeit. Ihm ging es womöglich sogar nicht um ein erfolgreiches Gelingen des Anschlags, sondern darum, dass die Aktion wahrgenommen wird. Die Frage ist momentan nur: Wer steckt dahinter und vor allem: Was will er damit bezwecken?<<

>>Wahrscheinlich werden wir die Antwort sehr bald erfahren<<, prophezeite der Präsident, wobei sich sein Gesicht zunehmend verdüsterte.

***

Su-Lin erschrak, als ein Geräusch sie plötzlich aus dm Schlaf hochgeschreckt hatte. Die Zimmertür öffnete sich leise und helles Flurlicht drang herein. Kurz darauf erschienen die schattigen Konturen eines Mannes in dem dunklen Raum. Der unbekannte Mann trat langsam in den Raum. Sie spürte ihr Herz vor Aufregung pochen und klopfen und sie hätte sich vor Angst beinahe in die Hose gemacht, konnte sich aber gerade noch beherrschen.

Der unheimliche, fremde Mann trat langsam näher. Jetzt war er nur noch wenige Schritte von ihr entfernt und sie konnte sicher sein, dass der Mann auf keinen Fall ihr Papa war. Der würde sich auch nie und nimmer leise nachts an ihr Bett schleichen. Su-Lin schluckte leise und schloss rasch wieder ihre Augen.

>>Die kleine Göre scheint zu schlafen<<, murmelte der fremde Mann. >>Ist auch besser für sie ... << Dann machte er kehrt und verließ den Raum.

Su-Lin lag noch eine Weile regungslos in ihrem Bett, horchte und lauschte in die sie umgebende Dunkelheit, ehe sie es wagte ihre Augen wieder zu öffnen. Alles um sie herum lag in friedlicher Stille. >>Ich habe keine Angst vorm schwarzen Mann<<, flüsterte Su-Lin, während sie barfuß aus dem Bett hüpfte und ihre Kleider zusammensuchte. >>Von wegen kleine Göre ... <<

Auf dem Flur draußen ertönten plötzlich schwere Schritte. Langsam kamen sie näher, wodurch sie sich gezwungen sah, wie der Blitz in ihr Bett zurückzuspringen, doch die Schritte entfernten sich wieder, ohne dass jemand ihre Zimmertür geöffnet hatte. Sie wollte auf keinen Fall, auf gar keinen Fall mit jenem bösen, unheimlichen Mann allein im Haus bleiben. Sie erinnerte sich an die Warnungen ihrer Mutter: Falls irgendjemand jemals versuchen sollte dich festzuhalten oder dir wehzutun, dann versuch ganz einfach wegzulaufen ... zu anderen Erwachsenen oder zur Polizei ... um Hilfe zu holen. Su-Lin beschloss, sich diesen Rat zunutze zu machen.

Ihr Zimmer lag ebenerdig, sodass sie mit einem einzigen Sprung von der Fensterbank gefahrlos auf dem grünen, streichholzkurzen Rasen vor dem Haus landen würde, ohne sich zu verletzen. Sie schlüpfte hastig in ihre Schuhe, lauschte noch einmal kurz an der Zimmertür, fischte aus ihrem Kleiderschrank eine flauschige rosa Jacke und öffnete schließlich das Fenster. Warme, milde Luft begann sie sanft zu umhüllen, während sie auf die Fensterbank hinaufkrabbelte. Sie ging tief in die Hocke und landete mit einem leichten Hopser auf dem Rasen. Auch wenn der unheimliche, fremde Mann, der so plötzlich in ihrem Zimmer aufgetaucht war sie erschreckt hatte, so fand sie zugleich auch alles ziemlich aufregend und spannend. >>Wie im Kino<<, flüsterte sie, sprang auf die Füße und huschte ums Haus, um bald darauf mit der Dunkelheit zu verschmelzen.

Kurze Zeit später erhellte sich plötzlich ihr Zimmer, als das Licht eingeschaltet wurde. Jemand riss fluchend vor Wut das Fenster, durch welches das Mädchen entschlüpft war auf und stierte wie ein Wolf, den man um seine Beute betrogen hatte, in die Nacht hinaus.

>>Verdammtes Balg<<, schimpfte der Kerl. Er ärgerte sich, dass er so dumm und leichtsinnig gewesen war, die Kleine aus den Augen zu lassen. Innerlich rechnete er bereits damit, dass die Göre bald mit irgendwelchen Nachbarn oder gar den Bullen auftauchen würde. >>Zeit, die Segel zu streichen.<<

Als Souvenir hinterließ er eine mit den Schuhen ausgetretene Zigarettenkippe auf dem Treppenabsatz vor der Eingangstür.

Irgendwo knackten Zweige in der Dunkelheit. Das Knacken wurde von leichten, schnellen Kinderfüßen begleitet.

>>Ich würde dir liebend gerne deinen Arsch versohlen<<, murmelte der Mann, doch er hatte nicht die geringste Lust mit der Kleinen Fangen zu spielen und so verwarf er den Gedanken rasch wieder.

Das Grollen eines schweren Motorrads dröhnte im selben Moment durch die nächtliche Straße, wurde lauter und lauter. Der Mann hegte keinen Zweifel, dass die Maschine sehr rasch näherkam.

>>Falsch verbunden<<, stieß der Kerl in Gedanken gehässig hervor, dann fiel schlagartig der Groschen. Er hatte keinen Zweifel, dass es sich bei dem Motorradfahrer um die Anruferin handelte, die einige Zeit zuvor mit ihm telefoniert hatte. Das Motorrad verlangsamte seine Fahrt, wodurch das Grollen der Maschine in ein sanftes Brummen überging.

>>Maaaaaammmmiiii<<, plärrte irgendwo ein helles, zögerliches Kinderstimmchen, als die Harley endlich zum Stehen kam.

Die zierliche Frau auf dem Rücken der Maschine klappte das Visier ihres Helmes hoch und starrte völlig entgeistert, aber doch zutiefst erleichtert auf ihre Tochter, die sich vor ihr wild gestikulierend aus der Dunkelheit schälte. Dann erblickte sie den fremden Mann auf dem Treppenabsatz vor ihrer Haustür und der unbekannte Kerl sah sie ...

Mit raschen Schritten kam er näher und Han hatte das Gefühl, als würde das schmierige Grinsen im Gesicht des Mannes größer und größer, als wüsste er bereits siegessicher, dass sie ihm nicht entkommen konnte.

>>Spring auf! Schnell ... mach schon ... beeil dich, er hat uns gleich erreicht ... <<

Schon umklammerte Su-Lin mit beiden Armen den Oberkörper ihrer Mutter die Vollgas gab, bis sich die schwere Maschine wie ein sprungbereiter Löwe kurz auf das Hinterrad stellte und davonjagte. Das Mädchen drehte kurz den Kopf, um über ihre Schulter nach hinten zu blicken, wodurch der Fahrtwind ihre Haare zerzauste.

>>Der Mann steigt in ein blaues Auto<<, kreischte Su-Lin über den Motorenlärm ihrer Mutter zu. >>Jetzt verfolgt er uns.<<

>>Hätte ich mir fast denken können<<, sagte Han mehr zu sich selbst als zu ihrer Tochter. >>Festhalten! Wir biegen ab.<<

Das Motorrad legte sich mit seiner gewaltigen Masse so stark auf die Seite, dass Hans Knie fast den Boden streifte, als sie an der folgenden Kreuzung rechts abbogen, doch der blaue Wagen blieb ihnen unerbittlich auf den Fersen. Han warf einen flüchtigen Blick auf die Benzinanzeige der Harley, um festzustellen, dass der Tank fast leer war. Ein dunkler Schatten huschte unheilvoll über ihr Gesicht.

>>So ein Mist<<, fluchte sie leise, dann kam ihr eine Idee.

Sie nahm das Gas weg, bis die Maschine an den Straßenrand rollte.

>>Los. Spring ab. Schnell. Versteck' dich.<<

Su-Lin blickte ihre Mutter verständnislos an. >>Aber Mama.<<

>>Keine Widerrede. Mach was ich dir sage. Los, beeil dich.<<

Das Mädchen sprang schließlich vom Sozius, um sich hinter ein paar Mülltonnen zu kauern.

Man muss im Leben wissen, wann man kämpfen muss, hatte Chong früher einmal zu seiner Frau gesagt.

>>Du hast recht, mein Lieber<<, flüsterte sie leise.

Dann wendete sie mit ruhiger Entschlossenheit das Motorrad und steuerte geradewegs auf ihren Verfolger zu ...

***

Mina sah es zuerst.

Luftblasen, die ganz in ihrer Nähe aus der Tiefe des kühlen Meerwassers aufstiegen. Dicht unter der Wasseroberfläche schwebte ein dunkler, schwarzer Schatten langsam auf sie und Chong zu.

Eine Ewigkeit schien vergangen zu sein, seit der Frachter in die Luft geflogen war, nur vereinzelt trieben Trümmer im Wasser. Stumme Zeugen der Katastrophe, die Chong und seine Begleiterin nur mit viel Glück überlebt hatten.

>>Da drüben. Was ist das?<<

Chong schwamm herum und blickte in die Richtung, in welche Mina deutete. >>Ich glaube, wir kriegen gleich Besuch. Sieht aus wie ein Froschmann ... <<

Er holte tief Luft und tauchte. Jetzt konnte er den anderen genau vor sich sehen. Es war ein Taucher, der langsam auf ihn zu glitt. Seine Harpune zielte unmittelbar auf Chongs Kopf und das wollte diesem gar nicht gefallen ... Chong sah, wie der Kerl, der sich nur wenige Meter von ihm entfernt befand, abdrückte. Blitzschnell bewegte sich etwas silbrig Glänzendes durchs Wasser. Chong machte eine Drehung und tauchte zur Oberfläche zurück, um nach Luft zu schnappen, wodurch das Geschoss haarscharf an ihm vorbei glitt.

>>Vorsicht<<, kreischte Mina urplötzlich. >>Hinter dir.<<

Chong fuhr herum. Der Froschmann hatte ihn ganz offensichtlich schneller erreicht, als er es erwartet hatte. Dafür hielt der Taucher jetzt in seiner rechten Hand ein großes Marinemesser mit nachtschwarzem Griff, bereit auf Chong einzustechen. Der andere war ein richtiger Riese mit Bärenkräften, wie Chong feststellen musste, denn obwohl es ihm gelang, den Arm des Angreifers zu fassen und ihm das Messer zu entwenden, zog der Kerl ihn wie eine Spielzeugpuppe zu sich heran, um seine massigen Pranken wie zwei Schraubstöcke um seine Oberkörper zu legen. Chong hatte das Gefühl, als versuchte jemand ihm das Rückgrat zu brechen, während der harte, kontinuierliche Druck der gegnerischen Arme allmählich sämtliche Luft aus seinen Lungen presste. Das Blut in Chong Schläfenarterie begann wild zu pulsieren, zu klopfen, zu hämmern, als der andere ihn unter Wasser zog. Tiefer und tiefer sanken die beiden Männer in ihrem gnadenlosen Ringen, das nur einer von ihnen überleben würde, dem Meeresgrund entgegen. Chong schaffte es schließlich, dem Froschmann das Mundstück seines Atemgerätes zu entreißen. Der verdrehte schlagartig die Augen, schlug und zappelte wie ein Fisch, als sich Chongs Rechte in seine Leber bohrte. Tausende Luftblasen stiegen aus dem stumm geöffneten Mund des Mannes auf und endlich spürte Chong, wie sich die Umarmung seines Gegners zu lockern begann, als der Körper des Tauchers erschlafft.

Chong tat einen tiefen Zug aus dem Mundstück und ließ den Sauerstoff in seine brennenden Lungen strömen. Wenig später tauchte er der Wasseroberfläche entgegen, während der bewusstlose Taucher durch das Gewicht seines Atemgerätes unbarmherzig in die Tiefe gezogen wurde, seinem sicheren Tod entgegen.

Chong hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Keuchend schnappte er nach Luft, als er die Oberfläche endlich wieder erreicht hatte. Er entdeckte Mina wenige Meter hinter sich und winkte ihr kurz zu, doch kaum hatte Mina begonnen in Chongs Richtung zu schwimmen, als ein neues, fremdes und doch zugleich irgendwie vertrautes Geräusch an seine Ohren drang: Motoren. Schiffsmotoren ...

Es dauerte nicht lange, bis eine schneeweiße Jacht am Horizont auftauchte und mit hoher Geschwindigkeit auf die beiden im Wasser Treibenden zuraste. Wenig später zerriss das tödliche Knattern einer Maschinenpistole die Luft und ließ zahllose schäumende, kleine Fontänen in Chongs unmittelbarer Nähe in die Höhe schießen.

>>Achtung. Sie haben vor, uns zu überfahren<<, brüllte Chong dem Mädchen zu, als er erkannte, dass die Jacht geradewegs auf sie zusteuerte.

>>Wir müssen tauchen. Schnell.<<

Chong blieb keine Zeit sich zu vergewissern, ob seine Begleiterin die Botschaft verstanden hatte, denn der Bug des Schiffes war jetzt nur noch wenige Meter von ihm entfernt. Er holte tief Luft und tauchte abermals hinab, als auch schon die Jacht an der Oberfläche über ihn hinweg raste, so dicht, dass er das durch die Schiffsschrauben verdrängte Wasser hart in seinem Rücken spürte.

Er tauchte hinter der Jacht wieder auf und schnappte nach Luft, als in seiner Nähe ein birnenförmiger Gegenstand auf das Wasser klatschte und detonierte. Die Handgranate ließ sekundenlang einen kreisrunden, wabernden und zischenden Krater entstehen. Meterhohe Wasserfontänen schossen in die Luft. Chong stellte zu seiner Beunruhigung fest, dass die Jacht ihre Fahrt zurückgenommen hatte und nun langsam dahintrieb. Er schluckte schwer, als er auf der Reling fünf bewaffnete Männer entdeckte, deren Pistolen allesamt auf ihn zielten.

>>Du solltest jetzt ganz lieb und artig sein. Sonst werden dir meine Leute deinen gottverdammten Schädel wegblasen<<, hörte Chong hinter den Schützen jemanden rufen, und so streckte er zum Zeichen seiner Aufgabe den rechten Arm aus dem Wasser.

>>Kluges Kerlchen. Bereite dich schon mal auf deine Niederlage vor. Sie wird schmerzhaft, sehr schmerzhaft. Und jetzt holt mir dieses dumme Arschloch endlich an Bord.<<

>>Was ist mit dem Mädchen?<<, rief Chong zurück, als man ihm eine Strickleiter zuwarf.

Der Mann, der hoch über Chongs Kopf an der Reling stand, lachte hämisch.

>>Die Hure? Futter für die Haie … und das wirst du auch bald sein ... <<

***

Ihre Gefühle waren ein einziger Cocktail aus Angst und Erregung, während die schwere Harley auf den Wagen, von dem sie verfolgt worden war zuraste. Han-Yeun atmete tief durch, doch sie musste rasch feststellen, dass ihr Plan nicht aufzugehen drohte, denn ihr Gegner hielt gnadenlos seinen Kurs, statt das Steuer herumzureißen und auszuweichen. Offensichtlich war er entschlossen sie zu rammen. Hans Herz begann plötzlich wild zu hämmern, als ihr klar wurde, auf welch gefährliches Spiel sie sich eingelassen hatte. Der Wagen, auf den sie mit ihrem Motorrad geradewegs zuschoss, war jetzt keine 20 Meter mehr von ihr entfernt.

10 Meter …

5 ...

In letzter Sekunde stellte sich die Harley auf ihr massiges Hinterrad, als die Maschine mit dem Wagen kollidierte. Mit viel Glück setzte der Vorderreifen des Bikes auf der Motorhaube auf. Die Geschwindigkeit der Harley lieferte den nötigen Schub, um die Maschine blitzschnell über Haube, Windschutzscheibe und Dach des Wagens rollen zu lassen. Blech ächzte und stöhnte, als das Motorrad über das Heck des Wagens auf den Asphalt hinabrollte. Han schaffte es nur mit äußerster Mühe, die schleudernde Maschine unter Kontrolle zu halten. Ihr Herz raste, als sie das Bike forsch abbremste, während der Wagen ausbrach und gegen einen Hydranten knallte. Han sah, wie ein dicklicher Mann mit blutiger Stirn sich aus dem Fahrzeug schälte und wie ein Betrunkener auf sie zutorkelte.

>>So ein Mist<<, fluchte Han leise, denn ausgerechnet jetzt ging das Benzin endgültig zur Neige und der unbekannte Kerl kam langsam näher wie ein Wolf der wusste, dass seine Beute in der Falle saß.

Han hüpfte rasch vom Rücken der Harley und stutzte irritiert, denn der Mann änderte urplötzlich seine Richtung, um geradewegs auf eine Ansammlung von Mülltonnen zuzuschwenken.

>>Maaaaaamiiiiii<<, kreischte dahinter auf ein Mal eine angsterfüllte Kinderstimme und Han spürte, dass es höchste Zeit wurde zu handeln.

>>Meine Tochter bekommst du nicht, du Scheißkerl.<<

Han musste mit ansehen, wie der Mann ihr Kind grob am Arm zerrte, wobei sein Gesicht durch ein geradezu grotesk wirkendes Grinsen entstellt wurde.

>>Hör endlich auf, mir mit deiner verdammten Plärrerei auf den Geist zu gehen, sonst setzt es was<<, brüllte der Mann das Mädchen an.

Su-Lin zuckte zusammen, als hätte man ihr einen Stromschlag verpasst.

>>Liebes, tu' was der böse Mann dir sagt. Mami ist gleich bei dir. Hab' keine Angst ... <<

Der Kerl fuhr wütend herum. Seine braunen Augen funkelten bösartig, als er mit der freien Hand ein Stilett aus seiner Jackentasche hervorkramte.

>>Versuch's, du verdammte Schlampe. Komm schon, du Nutte. Ich werde dich gleich bis zum Hals aufschlitzen.<<

Der Kerl lachte irre als in der Ferne Sirenengeheul ertönte.

>>Die Polizei wird bald hier sein. Lassen Sie mich und meine Tochter gehen und ich verspreche Ihnen, dass ich Ihnen keine Unannehmlichkeiten machen werde.<<

>>Unannehmlichkeiten?<< Der Mann äffte linkisch Hans Tonfall nach. >>Unannehmlichkeiten, die wirst du gleich haben, Schätzchen, nicht ich ... <<

Überraschenderweise gab der Kerl Su-Lin einen Schubs, dass sie aufschreiend zu Boden stürzte, während er sich mit seinem ganzen Körpergewicht auf ihre Mutter warf. Han nahm hilflos wahr, wie sie zu Boden gerissen wurde, spürte heißen, übel riechenden Atem in ihrem Gesicht. Der Mann lag über ihr und hatte vor ihr das Messer in die Kehle zu rammen. Mit aller Verzweiflung setzte Han sich zur Wehr. Dann ging alles rasend schnell. — Reifen quietschten. Türen knallten. Schwere Stiefelschritte. Schüsse ...

Han musste mit ansehen, wie durch eine Kugel ein großes Stück des linken Schläfenknochens ihres Peinigers förmlich zerfetzt wurde und sich nun Blut und Hirnmasse auf ihren Oberkörper ergoss. Angewidert rollte sie den Toten von sich und übergab sich röchelnd. Jemand legte ihr tröstend eine Hand auf die Schulter. Sie blickte hinauf zu dem freundlich-mitfühlenden Uniformierten und fühlte sich schwach erleichtert.

>>Alles in Ordnung?<<

Sie nickte kraftlos. >>Wo ist … <<

>>Ihr Kind?<<, vollendete der Polizist Hans Satz, wobei er einem weiteren Beamten ein Zeichen gab.

Kurz darauf huschte Su-Lin kreidebleich in die Arme ihrer Mutter, doch Han ahnte instinktiv, dass der Albtraum noch lange nicht vorbei war ...

***

Chong hatte seine Füße kaum an Deck, als ihm irgendjemand von hinten hart den Lauf einer MP in den Rücken rammte. Er strauchelte, verlor das Gleichgewicht und knallte auf seine Knie. Irgendwer trat ihm plötzlich schmerzhaft in die Seite und er biss auf die Zähne, schluckte den Schmerz, der von seinen brennenden Rippen ausging. Wie durch einen dichten, undurchdringlichen Nebel sah Chong ein paar schwarze Sandalen vor sich. Er blickte wie ein Betrunkener in die Höhe, sah verschwommen eine weiße Hose und nach einer Ewigkeit tauchte das zu der Hose passende Gesicht in weiter Ferne auf. Ein grinsendes, bösartiges Gesicht mit asiatischen Zügen.

>>Willkommen<<, sagte Maurice Cheng lässig. Er blies den Rauch seiner Zigarette weit von sich. >>So sieht man sich also wieder ... << Cheng schob sich genüsslich die Zigarette zwischen die schmalen, kalten Lippen und sog den Rauch tief ein. >>Ich würde sagen, diesmal sind deine Karten ziemlich mies, denn wir werden dich endgültig zum Teufel jagen. Ich hasse nichts mehr, als wenn irgendein gottverfluchter Hurensohn wie du sich in meine Geschäfte einzumischen droht.<< Chengs Augen funkelten kalt.

>>Sagen wir doch statt Geschäfte besser Drogendealerei<<, entgegnete Chong ebenso eisig.

Chengs Grinsen wurde schlagartig breiter. >>Wir wär's mit einem kleinem Trip? Wolltest du nicht schon immer mal wissen wie es sich anfühlt, wenn Dope durch deine Adern rauscht? Haltet den Scheißkerl fest ... <<

Chong musste hilflos mit ansehen, wie sein Gegenüber eine aufgezogene Spritze aus einem kleinen Koffer entnahm. Es dauerte nicht lange, bis sich die Kanüle scharf in seine rechte Armvene bohrte. Er hatte plötzlich das Gefühl den Boden unter den Füßen zu verlieren, so als ob Zeit und Raum sich in Luft auflösen würden. Chengs Gesicht schwoll zu einer überdimensionalen, dämonischen Fratze an, während Chong auf einer rasanten Achterbahnfahrt durch ein diffuses Meer aus Licht und Farben raste. Er streckte unbeholfen seine Hand aus, doch sie fühlte sich seltsam taub und tot an. Er versuchte verzweifelt auf die Beine zu kommen und schlug der Länge nach hin. Cheng blies den Rauch von sich, beugte sich hinab und drückte die Zigarette auf Chongs Arm aus.

>>Das hier ist nur das Vorspiel, mein Freund. Du wirst um deinen Tod noch winseln, verlass' dich drauf.<<

>>Vorher werde ich dich töten<<, stieß Chong mühsam zwischen den Lippen hervor.

>>Du denkst wohl nie ans Aufhören, was?<< Unverhofft und brutal trat Cheng zu ...

***

Als die Schüsse losdonnerten, tat Mina instinktiv das einzig Richtige: Sie ließ sich gerade noch rechtzeitig mit dem Gesicht nach unten auf dem Wasser treiben und stellte sich tot.

Nach einer endlos langen Ewigkeit wagte sie es schließlich den Kopf ein wenig aus dem Wasser zu heben und nach Luft zu schnappen. Alles um sie herum schien unter einer geradezu erdrückenden Stille zu leiden. Sie sah die weiße Jacht unmittelbar vor sich, sah wie sich kleine Wellen sanft an ihrem Bug brachen.

Langsam schwamm sie weiter.

Ihr Herz hämmerte in wildem Rhythmus, denn sie rechnete jede Sekunde damit, dass irgendwer an Bord sie unter Beschuss nehmen würde, doch bislang blieben die tödlichen Kugeln aus. Sie umschwamm das langsam dahintreibende Schiff und machte bald darauf am Heck eine wichtige Entdeckung: Keine 50 Zentimeter über der Wasseroberfläche befand sich ein mehr als zwei Meter breites Gitter, auf welchem ein motorbetriebenes Schlauchboot befestigt war. Eine mannsbreite Leiter führte dahinter am Heck des Schiffes in die Höhe. Mina löste mit zittrigen Fingern die beiden Taue, mit denen das Boot festgezurrt worden war. Es kostete sie keine große Mühe das Schlauchboot ins Wasser zu ziehen. Schließlich stemmte sie sich mit beiden Händen in die Höhe und zog sich an Bord. Der Motor sprang laut und rasch an wie das Brüllen eines Löwen.

>>Verdammte Scheiße! Diese elende, ausgelutschte Fotze versucht mit dem Schlauchboot abzuhauen.<<

Dann zerhackte das Rattern von mehreren Maschinenpistolen die Stille über dem Wasser und Mina wusste, dass sie alles, wirklich alles tun würde, um zu überleben. Vielleicht würde sie irgendwo auf Hilfe treffen. Sie steuerte das Boot mit Vollgas geradewegs auf einen kleinen schwarzen Punkt am Horizont über den Wellen zu. Der Punkt wurde rasch größer und mutierte zu einem Schiff — einem Patrouillenboot der französischen Küstenwache. Doch sie war nicht allein mit der Küstenpolizei auf dem Wasser, denn die weiße Jacht hatte nunmehr ihre Fahrt wieder aufgenommen und jagte wie der Teufel hinter dem schlanken Boot der Asiatin her. Das Patrouillenboot änderte plötzlich seinen Kurs, bis es sich fast quer zur Fahrtrichtung der jungen Frau befand, während die Jacht stetig aufholte.

>>Achtung! Hier spricht die Polizei! Ändern Sie unverzüglich Ihren Kurs und halten Sie das Boot an, oder wir eröffnen das Feuer!<<, dröhnte eine kalte, emotionslose Männerstimme über das Wasser.

>>Ich will, dass ihr diesen verdammten Scheißkahn versenkt. Legt sie um. Jagt sie verdammt noch mal zum Teufel<<, schrie Cheng mit sich vor Wut überschlagender Stimme dazwischen.

Einer der Männer an Bord der Jacht begann lässig einen schweren Granatwerfer zu laden, als mit röhrenden Motoren zwei weitere Schnellboote der Küstenwache heranrauschten. Chong musste hilflos mit ansehen, wie das erste Boot von einer Granate förmlich auseinandergerissen wurde und in einem riesigen Feuerball explodierte. Noch immer lähmten die Drogen in seinem Blut sein Denken. Er fühlte sich seltsam taub und benommen, als hätte man ihm mit einem Baseballschläger den Schädel zertrümmert, doch sein unbändiger Überlebenswille ließ ihn schließlich instinktiv das Richtige tun: Er warf sich mit ganzer Kraft gegen den Kerl zu seiner Linken, torkelte weiter und sprang mit einem gewagten Satz über Bord.

>>Chong, hierher!<<, kreischte Mina aus vollem Hals, als der Kerl mit dem Granatwerfer das zweite Schnellboot ins Visier nahm und abdrückte.

Ein lauter Knall ertönte, als das schmale Boot, von dem Geschoss getroffen, meterhoch in die Luft geschleudert wurde. Einer der beiden uniformierten Männer an Bord riss entsetzt die Augen auf, denn er musste hilflos zusehen, wie sein Kollege förmlich in Stücke gerissen wurde und ein widerlicher Regen aus Blut, Fleischfetzen und Knochenfragmenten auf ihn niederging. Dann zerbarst das Boot in einem riesigen Feuerball, als der Benzintank explodierte. Die grellen Todesschreie des an Bord verbliebenen Mannes hallten grauenhaft über das Wasser, bis auch sein Körper in Tausend Stücke zerrissen wurde.

Im dritten Patrouillenboot, das wild und zügellos über die Wellen preschte, ergriff einer der beiden Beamten sein Funkgerät und setzte einen Hilferuf ab, während sein Kollege die Jacht unter Beschuss nahm.

>>Wir haben sie erwischt<<, jubelte einer der Männer an Bord der Jacht, doch seine Worte wurden schlagartig von seinem eigenen Todesröcheln erstickt. Blut schoss aus seinem Mund. Von einem Dutzend Kugeln zerfetzt sackte sein Körper leblos zusammen.

Mina lenkte ihr Boot so schnell es ihr möglich war in Chongs Richtung. Der ergriff mit glasigen Augen ihre Hand und ließ sich von der zierlichen Frau völlig entkräftet an Bord ziehen, was für die Thailänderin eine ziemliche Anstrengung bedeutete. Über ihren Köpfen pfiffen die Kugeln.

>>Lasst die beiden nicht entkommen! Legt sie um!<<, brüllte Maurice Cheng hysterisch hinter dem davonschießenden Schlauchboot her, als hoch oben am Himmel ein winziges Insekt auftauchte.

Das Insekt wurde rasch größer und entpuppte sich als Hubschrauber. Fünf schwer bewaffnete Männer in dunkler Kleidung zielten aus der Seitenluke mit Maschinenpistolen und Schnellfeuergewehren in die Tiefe.

>>Scheiße<<, schnaubte einer der Männer an Chengs Seite. >>Was tun wir jetzt? Die werden uns an den Eiern kriegen, außerdem können wir mit dieser Scheißjacht in keinem französischen Hafen mehr anlegen. Wir können uns mit diesem verfluchten Pott unter dem Arsch überhaupt nirgends mehr sehen lassen.<<

>>Achtung hier spricht die Polizei! Legen Sie unverzüglich Ihre Waffen nieder und heben Sie die Hände!<<, hallte eine metallische Männerstimme durch die Luft.

Einer von Chengs Männern verlor die Nerven und drehte durch. Mit einem wilden, entschlossenen Schrei feuerte er das gesamte Magazin seiner MP leer. Die Frontscheibe des Hubschraubers zersplitterte. Der Pilot sackte blutüberströmt auf seinem Sitz zusammen. Der Helikopter begann zu zittern wie ein Blatt im Wind, um kurz darauf wie ein Stein abzusacken.

Geistesgegenwärtig schnappte sich Cheng eine der umliegenden Taucherausrüstungen. Er schlüpfte hastig hinein und sprang von Bord, als der Hubschrauber mit voller Wucht auf die Jacht prallte und explodierte.

Es war, als hätte die Hölle von einer Sekunde zur anderen ihren grauenvollen Schlund geöffnet, um alles zu verschlingen. Eine gewaltige gelbe Stichflamme zuckte hoch in den Himmel und im gleichen Augenblick explodierte die Jacht. Schwarzer, beißender Rauch begrub schließlich die auf dem Meer treibenden Trümmer unter sich. Maurice Cheng schluckte mit zusammengebissenen Zähnen seine Wut notgedrungen runter und tauchte weiter, weg von dem Ort, an dem gerade sein Boot in die Luft geflogen war.

>>Das wirst du bereuen, du verdammter Hurensohn<<, stieß Cheng hasserfüllt hervor. >>Ich werde mich dafür revanchieren. Ich werde dir das nehmen, was du am meisten liebst ... <<

Dann verschwand der dunkle Schatten seines Neoprenanzuges allmählich im Zwielicht der ihn umgebenden endlosen Stille ...

Chong

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