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Anfang 1999 zieht Francesca nach Deutschland und wohnt in Freiburg in meiner kleinen Wohnung, während ich noch drei Monate Stipendiat auf der Villa Massimo bleibe. Sie muß sich einleben, sich mit der Universität vertraut machen. Und mit dem extremen Winter zurechtkommen. Trotz meiner Schwester und ihrer Familie ein paar Fußminuten entfernt, fühlt sie sich verständlicherweise einsam. Ihr Piccolo ist in Rom; sie faxt Hunderte von Briefseiten. Ende März kommt sie nach Rom und berichtet von ihren ersten universitären Erfahrungen. Man habe ihr bedeutet, sagt Francesca, daß für eine universitäre Laufbahn bis zum höchsten Punkt (schon damals wollte sie sich alle Türen offen halten) eine deutsche Staatsangehörigkeit von großem Vorteil sei. Diese erhält man nach acht Jahren Residenz in Deutschland oder nach dreien, wenn man verheiratet ist. Spontan mache ich ihr einen Heiratsantrag. In meinem Inneren gibt nicht den geringsten Zweifel, daß Francesca die Frau meines Lebens ist. Francesca stimmt sofort zu. Uns verbindet, wie so häufig, eine tiefe Syntonie. Die Heirat in Deutschland wird Francesca in fast allen Belangen helfen, nicht zuletzt bei den Ärzten, die sie teilweise zurückweisen, weil die Honorare aus Italien nicht überwiesen werden. Nach meiner Rückkehr aus Rom betreiben wir zielstrebig die Planung für die – standesamtliche – Hochzeit, die am 3. September im kleineren Familienkreis stattfindet. In der Familie herrscht anfänglich Skepsis, da man unseren Schritt für übereilt hält. Aber sie ist unbegründet. Als wir nach unserer Hochzeit in die gemeinsame, für unsere damaligen Verhältnisse großzügige Wohnung ziehen, funktioniert das Zusammenleben wunderbar.

Francesca wurde am 20. Mai 1974 in Rom geboren. Sie war das erste Kind. Ihre Eltern sind assimilierte Juden mit sephardischem Hintergrund. Im Übergang von den Urgroßeltern zu den Großeltern paßten sich die Familien an den in Italien üblichen Katholizismus an, ohne diesen gläubig zu leben. Die Eltern, die bald noch eine zweite Tochter bekamen, kauften in diesen Jahren eine Wohnung, die sowohl in der Nähe des Monte Mario als auch der Vatikanstadt, also ausgesprochen zentral liegt. Die Großeltern mütterlicherseits wohnten in der Nähe. Das zu erwähnen, ist nicht unerheblich. Später, als die Immobilienpreise in der italienischen Hauptstadt anzogen, wäre es für Francescas Familie gänzlich unmöglich gewesen, im Zentrum zu leben. Sie hätte, wie ihre Tante in der Peripherie, sich der dortigen öden Kulturlosigkeit und den sozialen Spannungen aussetzen müssen. So aber wuchs Francesca inmitten des Geschehens auf: einer städtischen Kultur mit allen historischen Bezügen, politischen Aktivitäten und Kulturangeboten. Sie durchlief für dreizehn Jahre die Schule, erst die Grund-, dann die Mittelschule, schließlich das Gymnasium, so, wie es in Italien üblich ist. Anstelle des Liceo classico, das sich die Familie nicht leisten konnte, wurde eine auf Wirtschaft und Tourismus spezialisierte Schule gewählt, der Francesca nicht nur drei lebende Fremdsprachen, sondern auch gründliche Kenntnisse in der Landeskunde, mithin auch in Kunstgeschichte verdankt.

Francesca wurde zwar, ganz nach Landessitte, katholisch getauft und zur Kommunion geschickt, nicht aber religiös erzogen und hielt ihrerseits auch wenig von Religion. Statt dessen zeigten sich sehr früh ihre sprachliche Begabung und ihre Leidenschaft für das Lesen. Francesca durchlief das Drama des hochbegabten Kindes in der falschen Umgebung. Sie war in allen Fächern (von Sport abgesehen) die Klassenbeste, dabei bemüht, den anderen zu helfen (teilweise bot sie einen Telephonservice für die Hausaufgaben an), konnte aber keinen richtigen Kontakt zu den Gleichaltrigen aufbauen. Sie fühlte sich häufig allein und einsam. Sie flüchtete sich in die Bücher und die verschiedenen Wissensgebiete, was diesen Abstand natürlich nicht eben verringerte. Francesca überfiel das Gefühl existentieller Einsamkeit auch später immer wieder schubweise. Sie war mitunter regelrecht verzweifelt. Ich versuchte ihr zu helfen, soweit es ging. Aber letztlich litt sie bis zu ihrem Lebensende darunter. Ihre allseits bewunderte und genossene kommunikative Art war auch dieser tiefsitzenden, inneren Einsamkeit geschuldet.

Als junger Teenager setzte ihr Interesse für Politik ein; sie trat in die Jugendorganisation der Kommunistischen Partei ein. Daß sie nach einem Jahr die Partei wieder verließ, lag weniger an der Politik, sie konnte vielmehr wenig mit den Gleichaltrigen anfangen. Dann wurde sie Mitglied der Linksdemokraten (»Partito Democratico della Sinistra«, die Nachfolgepartei der Kommunisten), aber eher aus Solidarität ihrem väterlichen Freund Sergio gegenüber; aktiv war sie nicht. Der Marxismus und seine Theorien, zumindest in der flexiblen italienischen Fassung, waren ihr früh vertraut. Der deutsche Leser möge wissen, daß Kommunismus in Italien nicht das Furchterregende wie in Deutschland zur gleichen Zeit hatte; im Gegenteil: Kultur und Intellektualität, kritisches Denken und avantgardistische Kunst waren hier zu Hause. Luigi Nono oder Pier Paolo Pasolini waren wie selbstverständlich Kommunisten. So auch Francesca in jenen Jahren. Während der Schulzeit setzten ein umfangreiches gesellschaftliches und politisches Engagement sowie eine rege Schreibtätigkeit ein, über die noch zu berichten ist.

Direkt an das Abitur, das Francesca mit der höchstmöglichen Punktzahl absolvierte, schloß ihr Universitätsstudium an. Francesca wählte die Philosophie als zentrales Fach, weil diese in der Tat die Universaldisziplin der Geisteswissenschaften ist, von der aus alle anderen Gebiete der Geschichte, der Kultur und der menschlichen Existenz erreicht werden. Darin war sie klassisch. Die 18jährige schrieb in ihr Tagebuch mit der bezeichnenden Ortsangabe »irgendwo«: »An der Philosophie liebe ich ihr kontinuierliches In-die-Krise-Setzen (auch von den solidesten Alltäglichkeiten ausgehend) und ihre kraftvolle imaginative Vision. Daß ich mich in allen meinen heiklen Interessen der Philosophie widme, ist eines unter den höchsten Idealen.« Für die Philosophie brauchte sie die alten und die modernen Sprachen, die sie bereits fleißig gelernt hatte; sie konnte das Fach ergänzen mit Geschichte, Kunstgeschichte und Orientalistik mit zwei Schwerpunkten, die in den Nahen Osten weisen: Ägyptologie und Judaistik; sie konnte die Philosophie verbinden mit dem, was ihr zweiter Fokus werden sollte: die Religion. So studierte sie vier Jahre und hielt die Regelstudienzeit ein. Für ihren Abschluß (»Tesi di Laurea«) spezialisierte sie sich auf Jüdische Philosophie.

In diesen jungen Jahren setzte sie ihre Interessen und Fertigkeiten ein, um nebenbei Geld zu verdienen. Während der gymnasialen Oberstufe arbeitete sie für Rezensionen, Veranstaltungen und Beratungen mit der Galleria d’Arte Moderna e Contemporanea »Il Logogramma« und der Kulturzeitschrift »Quadri e Sculture« zusammen, im Studium an der Biblioteca di Filosofia »Villa Mirafiori«, unterrichtete von 1996 bis 1999 Italienisch an der Accademia Tedesca »Villa Massimo«, wurde nach ihrem Abschluß kurzzeitig Philosophiedozentin am Centro Universitario »Universitalia« und arbeitete als Lektorin und Übersetzerin bei dem jüdischen Verlag »Giuntina« in Florenz. Außerdem unterrichtete sie privat einige Deutsche in der Stadt.

Von 1997 bis 2001 studierte sie Evangelische Theologie an der Facoltà Teologica Valdese in Rom, mit dem Schwerpunkt auf Theologie und Exegese des Alten Testaments, und schloß mit dem Diplom ab. Dieses Studium verdankte sie einer Sondergenehmigung für nicht-christliche Studenten. Dies war nötig, weil Francesca während ihres Universitätsstudiums sich zum Judentum bekannte. An der Gregoriana, der päpstlichen Universität, wäre sie nur als Gasthörerin zugelassen worden.

Als Francesca im Januar 1999 nach Deutschland ging, lebte sie sich relativ schnell ein, natürlich auch dank der Tatsache, daß sie einen Mann hatte, der eine ganze Infrastruktur mitbrachte. Sie knüpfte nicht nur rasch Kontakt mit der Universitätswelt, sondern auch mit der jüdischen Gemeinde – sie ging damals regelmäßig in die Synagoge –, baute systematisch Freundschaften auf, so zu einigen Italienischschülern, zur Dermatologin, zu ihrem Rechtsanwalt und natürlich zu etlichen italienischen Kommilitonen; sie spendete, wie zuvor in Rom, Blut beim Roten Kreuz. Sie etablierte sich peu à peu und wurde – man kann es so sagen – eine richtige Deutsche. Am 6. Februar 2002 wurde sie schließlich eingebürgert.

Hier, in Deutschland, macht sie eine elementare Lebenserfahrung: Sie braucht keine Angst mehr zu haben. Angst, die alltägliche, ist durchaus ein Markenzeichen in Italien. Man kann dort nie wissen, ob nicht im nächsten Augenblick etwas Irrationales, Gesetzloses, Chaotisches, Abgefeimtes passiert. Man ist sich nie sicher. In Deutschland hingegen, auch wenn die Deutschen gerne jammern und stöhnen, kann man im Regelfall davon ausgehen, daß es mit rechten Dingen zugeht. Ein Beispiel: Gingen wir ins Kino, war Francesca viel zu früh fertig und drängte mich zum Aufbrechen. Ich sagte ihr, der Verkehr, die Straßenbahn, der Kartenverkauf, die Sitzverteilung, all das würde hier funktionieren. Das sei in Italien anders, deswegen müsse man sich auf die Eventualitäten einstellen, wobei natürlich viel Zeit verschwendet wird. Francesca weiß es zu schätzen, daß auf die deutschen Verhältnisse, zumindest im Vergleich zu ihrem Heimatland, Verlaß ist. Sie kann sich auf ihre Arbeit konzentrieren und ansonsten das Leben genießen.

Ihr Promotionsstudium in Freiburg – mit dem Vorlauf sind es drei Jahre – war extrem arbeitsintensiv. Man muß bedenken, daß Francesca sich zuallererst in der deutsche Sprache zurechtfinden mußte; immerhin war diese neue Sprache das Medium ihrer schriftlichen Arbeit an der Universität. Ihre Dissertation schrieb sie auf Italienisch und übersetzte sie dann eigenständig ins Deutsche, wonach ich als Lektor eingriff. In dieser Zeit mußte sie aber auch noch »ordentlich« studieren, denn offiziell befand sie sich im Hauptstudium eines altehrwürdigen, heute meist abgeschafften Studiengangs der Direktpromotion ohne Abschluß. Dafür besuchte sie philosophische Seminare und solche der Katholischen Theologie, für die sie neun Hausarbeiten schrieb. Parallel dazu absolvierte sie ihr Studium der Evangelischen Theologie in Rom. Zwischendurch perfektionierte sie ihr Englisch mit dem Zertifikat »very good« des höchsten Levels des »Cambridge Institute« und gab, um ihre Finanzen aufzubessern, fleißig privaten Italienischunterricht. Damit aber nicht genug: In diesen Jahren übersetzte sie zwei Bücher von Martin Buber ins Italienische für den Florentiner Verlag Giuntina, eine Art Hobby und Ferienbeschäftigung.

Francescas finanzielle Situation verbesserte sich von Jahr zu Jahr. Vom Wintersemester 1999/2000 bis Wintersemester 2001/02 erhielt sie ein Promotionsstipendium der Konrad-Adenauer-Stiftung. Die erste Zeit davor in Deutschland bestritt sie mit Ersparnissen, Sprachunterricht und einem kleinen Unijob. Das Sommersemester 2002 wurde auf ähnliche Weise überbrückt. Auch hier hatte Francesca Ersparnisse, weil sie auch während des Promotionsstipendiums weiterhin Italienischunterricht gab. Außerdem war sie ab diesem Semester Lehrbeauftragte an der Universität Freiburg, eine Tätigkeit, die sie mit Blockseminaren auch dann ausübte, als sie in Israel wohnte. Für das Wintersemester 2002/03 erhielt sie ein großzügiges, zweijähriges Auslandsstipendium der Minerva-Stiftung. Im akademischen Jahr 2003/04 hatte sie eine kleine Dozentur in der Schweiz, einem Land, das bekanntlich seine Lehrkräfte ausnehmend gut bezahlt, und einen Lehrauftrag an der Universität Frankfurt (am Main). Im Wintersemester 2004/05 wurde es wieder enger. Dafür hatte sie ab dem Sommersemester 2005 bis zu ihrer Ernennung zur Professorin in Potsdam Festanstellungen als Lehrstuhlvertreterin in Heidelberg und Frankfurt, außerdem eine Gastprofessur in Graz. Auch wenn Francesca zuweilen panische Angst befiel, sie könne, so wörtlich, verhungern, hatte sie immer ausreichend Geld, um das Leben zu führen, das sie führen wollte. Luxus war ihr ohnehin völlig gleichgültig.

Ab September 2002 – wenige Wochen, nachdem bei ihr die chronische Krankheit des juvenilen Diabetes (Typ 1) diagnostiziert worden war – lebte sie in Jerusalem, um an der dortigen Bibliothek über ihr Habilitationsthema zu forschen. Es war nicht ihr erster Aufenthalt im Heiligen Land, die Dauerresidenz war freilich eine Phase größter Intensität. Es war die Zeit des täglichen Terrors in Israel. Auch Francesca, die auf die öffentlichen Verkehrsmittel angewiesen war, mußte auf Busfahrten mit dem Schlimmsten rechnen. Die Anspannung im Land war unerträglich. Francesca flüchtete sich in die Arbeit, las von morgens bis abends, lernte Ivrit und nahm gründlich Arabischunterricht. Auch hier suchte sie zielstrebig Freundschaften, nicht zuletzt zu deutschen Juden, die diese neue Heimat gewählt hatten. Als ich 2004 Francesca besuchte, war ich erstaunt, wie sehr sie in gewissen Kreisen integriert war. Sie war ein Kommunikationstalent. Sie flog nach Hause, wenn sie Termine hatte. Ab dem akademischen Jahr 2003/04 nahmen ihre Lehrtätigkeiten in Europa derart zu, daß sie ihre Zeit in Jerusalem öfters und länger unterbrechen mußte. Sie wuchs in den akademischen Betrieb hinein und war bald eine gefragte Dozentin.

Im Frühjahr 2002 war Francesca zum ersten Mal in den Vereinigten Staaten. Es sollte nicht das letzte Mal sein. Immer wieder forschte sie dort, besuchte Kongresse, hielt Vorträge und stellte sich für Stellen vor. Sie genoß die großzügigen Selbstverständlichkeiten des akademischen Lebens in den USA, die üppig ausgestatteten Bibliotheken, die Ungezwungenheiten des sozialen Austauschs unter den »scholars«. Vor allem das Hebrew Union College mit der Klau Library in Cincinnati war seit 2005 der Ort, an dem sie für mehrere Wochen am Stück arbeitete. Dort war sie in die amerikanische jüdische Community integriert und pflegte, auch von Deutschland aus über Mails und Skype, intensive Freundschaften. Späterhin, als sich ihre Position in Deutschland festigte, klärte sich ihr Verhältnis zu den Vereinigten Staaten. Dort arbeiten und forschen, das sicher, aber für immer leben, dorthin zu ziehen, das kam nicht in Frage. »Die Arbeitsbedingungen«, sagte sie, »sind phantastisch, aber wenn du den Campus verläßt, beginnt die kulturelle Leere.« Sie war und blieb eine Europäerin, und das sowohl kulturell wie politisch. Mit Deutschland wollte sie kein Land tauschen.

2007 nahm Francesca sich eine Zweitwohnung in Frankfurt, wo sie eine Professur vertrat. Die Universität hatte ihr ein Gästeappartement zur Verfügung gestellt. So konnte sie sich besser auf die Arbeit konzentrieren und mußte nicht, wie bisher, wöchentlich pendeln und im Hotel nächtigen. Das hatte zudem den Vorteil, daß sie auch in dieser Stadt, in der das jüdische Leben viel reger und geschichtsträchtiger ist als im kleinen Freiburg, ein Netz von Kontakten aufbauen konnte.

Ab Herbst 2007 bezog sie, nachdem der Ruf an die Universität Potsdam erfolgt war, eine Wohnung in Berlin, natürlich in der Hauptstadt und nicht in der benachbarten, kleineren Stadt. Sie, die Römerin, die immer erklärte, »man« könne in keiner Stadt leben, die weniger als vier Millionen Einwohner hat, war endlich in der Metropole angekommen. Frankfurt war bis dahin die Stadt, in die wir fast gezogen wären. 2004 hatte die Universität ihr eine Vertretungsprofessur mit Gästewohnung angeboten, die Stelle mußte dann aber anderweitig vergeben werden. So blieben wir zunächst in Freiburg, von wo aus jedoch Francesca immer wegstrebte; dabei war Frankfurt ihre erste Wahl. Später räumte sie ein, daß Berlin natürlich die bessere sei. Frankfurt war definitiv zu klein und längst von einer linksintellektuellen Hochburg zu einer kalten Kapitalismusstadt mutiert. Ihre lange Odyssee fand ins neue Zuhause, von Rom über Freiburg nach Berlin, mit den Zwischenstationen Jerusalem, Frankfurt und Cincinnati. In Kairo erklärte sie mir 2001, daß ihre Reise viel verschlungener war: von der ägyptischen Gefangenschaft über Kanaan, die sephardische Diaspora mit Spanien und dem Elsaß nach Rom und von dort nach Deutschland. Wer sonst kann auf eine fünftausend Jahre lange Reise zurückblicken als das jüdische Volk?

Man fragt sich, ob Francesca arbeitswütig war, ob sie überhaupt das Leben genießen konnte, ob sie so etwas wie Hobbys kannte. Immerhin: In den zwölf Jahren in Deutschland schrieb sie zwei Bücher, übersetzte zwei, veröffentlichte etwa 30 Aufsätze, hielt über 50 Vorträge und bestritt gut 60 Lehrveranstaltungen zu stets unterschiedlichen Themen. Nach Francescas Tod fragte mich einer ihrer Kollegen, wie denn Francescas unglaublicher Ehrgeiz bei gleichzeitiger Höchstgeschwindigkeit zu erklären sei. Ich konnte eine mehrschichtige Antwort geben. Zunächst besaß Francesca eine unstillbare Neugierde und Freude am Entdecken, einen Wissensdurst, der nicht zu stillen war. Sodann wußte sie im Inneren (oder ging davon aus), daß sie nicht lange leben sollte. Schließlich, und das dürfte der tiefere Grund sein, war diese Art von geistiger Existenz eine Lobpreisung Gottes. Der letzte Grund für Francescas enzyklopädisches Verhalten war ein religiöser, und zwar ein zutiefst jüdischer.

Ich fragte sie einmal: »Hast Du wirklich den ganzen Shakespeare gelesen?« Sie antwortete: »Natürlich, das ist doch eine Mitzwa.« Mithin eine Pflicht, eine gute Tat im jüdischen Denken. Gott habe uns Menschen auferlegt, daß wir uns mit der Schöpfung ausgiebig beschäftigten, und dazu gehört alle Kunst, alle Weltkultur, alle Musik, und so auch die Weltliteratur mit ihrem Shakespeare. Ein umfassendes Bildungsideal, aber grundiert von der emphatischen Idee einer universalen Gelehrsamkeit. Und diese ist prinzipiell unendlich, also unerreichbar. Francesca schrieb mit zwanzig in eines ihrer Notizbücher, wie sehr sie darunter litt, so wenig zu wissen, so unreif zu sein, gerade weil sie so viele Bücher gelesen habe, wisse sie von ihren Defiziten und Lücken. Schon damals verkörperte sie die sokratische Weisheit, daß mit dem Wissen das Nichtwissen zunehme. Auch noch in Freiburg glaubte sie in Augenblicken der Niedergeschlagenheit, die »schlimmste Lehrerin der Welt« zu sein, was nun wirklich reiner Unsinn war.

Francesca hielt nichts von Halbheiten oder Schummellösungen. Bereits im ersten Studienjahr in Rom ging sie aufs Ganze. Seminare zur Theoretischen Philosophie mußten alle Studenten besuchen, sie aber schrieb eine Hausarbeit über Hegels Wissenschaft der Logik – sicherlich das ungenießbarste seiner Werke – und darin über das Kapitel des Grundes. Sie verkörperte das genaue Gegenteil einer gewissen populären Pädagogik, die glaubt, junge Menschen langsam an die Dinge heranführen zu müssen, um sie bloß nicht zu überfordern. Francesca, die dafür nur Spott übrig hatte, bevorzugte das Gegenmodell: ins kalte Wasser springen, sich dem Größten aussetzen, sich von den letzten Maßstäben herausfordern lassen.

Gewiß, ihre Intelligenz half dabei – oder umgekehrt, diese bedurfte der entsprechenden geistigen Nahrung. Francesca besaß ein phänomenales Gedächtnis, vor allem für Sprache und Geschichte. Sie konzentrierte sich beim Lesen so sehr, daß selbst ich, ihr Lebensgefährte, staunte: Betrat ich das Zimmer, in dem sie las, bemerkte sie das nicht und erschrak aufs Heftigste, wenn sie meiner, vor ihr stehend, gewahr wurde. Sie hatte eine extrem schnelle Auffassungsgabe. Man mußte nicht lange erklären. Wenn Francesca einmal etwas nicht verstand, dann weil sie es nicht wollte, weil sie ihren Kopf freizuhalten suchte. Deswegen hatten wir auch kaum längere Diskussionen, der Dissens, wenn er denn bestand, war in wenigen Schritten erkannt und benannt. Und sie besaß ein sicheres, zumindest für ihr eigenes Denken sicheres Urteilsvermögen, das ich nicht anders denn als Ausdruck einer äußerst starken Intuition erklären kann.

Francesca, das würde man von außen blickend sagen, war eine Workaholikerin. Eine Frau, die immer arbeiten mußte und dabei von einem Perfektionismus angetrieben wurde, der zuweilen dazu führte, daß dieser sie beherrschte. Dazu kam Francescas Ungeduld. Alles mußte rasch und möglichst sofort geschehen. Häufig mußte ich sie ermahnen, niemand könne erwarten, daß sie, die Frühaufsteherin, die nach acht Uhr abends zu größeren geistigen Anstrengungen kaum in der Lage war, am Samstag- oder Sonntagabend nach einem Besuch des Theaters oder eines Konzertes noch E-Mails beantworte. Aber so war sie nun einmal. Hatte sie erst einmal einen Blick in ihre Mailbox geworfen, konnte sie gar nicht anders, als die Briefe zu bearbeiten, sie hätte keinen Schlaf gefunden, obwohl sie todmüde war.

Workaholismus ist auch der Name für ein Krankheitsbild, eine Symptomatik, die bis zum Tode führen kann, weil Menschen zu Dauerhyperaktiven werden, zu kleinen Hamstern, die sich im Laufrad drehen, bis sie umfallen. In diesem Sinne war Francesca definitiv keine Workaholikerin. Sie konnte sehr wohl einen zweckfreien Fernsehabend verbringen, mit Freunden in Cafés und Restaurants Stunden geselligen Zusammenseins genießen oder zehn Tage am Strand des Lago Maggiore (und noch mehr im Whirlpool) faulenzen. Offen gesagt, eine Workaholikerin an meiner Seite hätte ich nicht ertragen. Nein, was Francesca tat, machte ihr Spaß. Sie sagte mit großem Ernst und aller sachlichen Richtigkeit, daß wir, die Professoren, das unbeschreibliche Glück hätten, für unsere »sinnlosen Hobbys« auch noch gut bezahlt zu werden. Francesca war somit durchaus der Ferien fähig. Allerdings mußte das Gehirn stetig gefüttert werden, wenn nicht mit Arbeit, dann mit Romanen oder Sightseeing, Museen, Ausstellungen, Veranstaltungen. Dolce far niente, »das süße Nichtstun«, war ihr fremd. Schließlich, und das macht Francesca in der Rückschau sehr menschlich, wurde sie auch von Depressionen, von Melancholie, ja Defätismus befallen. Dann litt sie, und sie litt auch darunter, nichts zu haben, worauf sie sich konzentrieren konnte. Dann fehlte ihr die Arbeit.

Trotz ihrer beeindruckenden Karriere war Francesca das genaue Gegenteil einer Karrieristin, zumindest, wenn man darunter eine Person versteht, die jede Minute durchplant und jeden menschlichen Kontakt unter einem strategischen Gesichtspunkt betrachtet. Francesca war viel zu individualistisch, als daß sie sich einem, auch unter Frauen, immer verbreiteteren Typus von Managerverhalten angepaßt hätte. Es wäre ihr wie ein Verrat am Leben vorgekommen. Sie war hier wie eine Schriftstellerin, die ihre Einsamkeit braucht, um zu Sinnen und zur Besinnung zu kommen. Francesca hatte stets Zeit für zwanglose Treffen mit Freunden, Nachbarn, Kollegen, Gemeindemitgliedern. »Laß uns einen Cappuccino trinken«, war fast so etwas wie ihr Lebensmotto.

Gewiß, sie reagierte gereizt, wenn man ihr Zeit stahl, sie haßte sinnlos vergeudete – ihr Gehirn hatte dann nichts zu tun oder, schlimmer noch, wurde von unnötiger Verwaltungsarbeit und Bürokratie fremdbestimmt. Da konnte sie wild und fuchtig werden, regelrecht ungerecht, unerträglich – besser, man ging ihr aus dem Wege. Doch sie arbeitete schnell, faßte rasch Entschlüsse und ging konsequent vor. Sie zauderte nicht und hatte eine präzise Auffassungsgabe. Das sparte ihr Zeit, und diese hatte sie dann auch. Für die Weihnachtsferien 2010/11 kündigte sie ein großes Arbeitspensum an, das keinen Aufschub duldete. In der Tat machte sie sich gleich ans Werk, vollführte das aber so schnell, daß sie dann mehrere Tage einfach nur frei hatte.

Bevor ihr Ehemann allzu sehr ins Schwärmen kommt, sei eine vergleichsweise neutrale Stimme wiedergegeben, die Francesca nur einmal, für wenige Tage am Stück, erlebte. Tamara Albertini, Professorin für Philosophie an der Universität Honolulu, lud sie nach Hawaii ein, um dort für eine Woche zu weilen und Vorträge zu halten. Im Sommer 2008 flog Francesca von Cincinnati auf die Pazifikinsel. Trotz des gleichen Namens sind die beiden Damen nicht verwandt. Francesca hatte eines Tages im Internet Tamara entdeckt und über E-Mail Kontakt aufgenommen, wie sie das mit Hunderten von Kollegen oder anderweitig interessanten Menschen zu tun pflegte. Francesca war begeistert von dieser Vulkaninsel, die sie mit einem Leihwagen durchquerte. In einem Kondolenzbrief erzählt Tamara: »Francesca hat einen kolossalen Eindruck auf meine Kollegen und unsere Studenten gemacht. Sie war sehr professionell, zeigte aber anders als deutsche Akademiker keine Arroganz. Ihre römische Seele schien immer durch. Sie konnte sehr technisch sein und zugleich große Flexibilität zeigen. Sie besaß intellektuelle Demut und wußte sich doch zu verteidigen, wenn sie unfair angegriffen wurde. Ich konnte das hautnah erfahren, nachdem sie ein orthodoxer Jude nach einem Vortrag des Verrats am Judentum beschuldigt hatte. Francesca antwortete souverän, daß man das Judentum nicht auf Kriterien der Bronzezeit reduzieren könne.«

Deutschland oder Jerusalem

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