Читать книгу Warten macht glücklich! - Coen Simon - Страница 7
Оглавление1 | SCHAU DICH NICHT UMDer Wille zu leben |
ES IST MEIN GEBURTSTAG. Anfang Juni. Nachts gab es noch Bodenfrost. Unser erstes Kind hätte eigentlich an diesem Tag geboren werden sollen, doch es war nicht gekommen. Obwohl wir schon eine ganze Weile mit Warten verbracht hatten, verwandelte sich dieses Warten von nun an in eine andere der vielen Arten des Wartens.
Das erste Warten war mir erspart geblieben. Nachdem meine Frau zu Hause über den Schwangerschaftsstreifen gepinkelt hatte, musste sie warten, ob sich darauf das erste Lebenszeichen unseres erwünschten Kindes abzeichnen würde. Weil sie mir die frohe Botschaft jedoch nicht am Telefon verkünden wollte, musste sie abermals warten, bis ich nachts enorm verspätet von einem Termin aus Den Haag zurückkam. Von da an warteten wir gemeinsam. Doch dieses Warten war keineswegs unangenehm, denn es tauchte unseren Alltag in ein besonders Licht, so wie manche sonnigen Tage den Genuss eines Glases Milch zu reiner Poesie werden lassen. Alles nahm die Farbe des Wartens an: der Umzug, ein Einkauf, der Himmel, die Sonne, der Regen, die neuen Nachbarn, der Geschmack der Zigarette, das neue Laub an den Bäumen, der Balzflug einer Ringeltaube.
Doch als sich unsere Tochter an meinem Geburtstag noch immer nicht einstellen wollte, und auch nicht am darauffolgenden Pfingstwochenende schlich sich leichte Ungeduld in unser Warten ein. Selbstverständlich handelte es sich dabei nicht um jene empörte Ungeduld, die einen überfällt, wenn zur Abfahrtszeit vom Zug noch nicht das geringste Zeichen zu sehen ist. Wir hielten die Verzögerung eher für ein erstes Vorzeichen der späteren Neigung unseres ungeborenen Kindes, es mit verabredeten Zeiten nicht so genau zu nehmen. Aber unser Warten war nicht länger harmonisch. Wer die Geduld nicht verlieren will, sollte am besten keinen um sich haben, der ebenfalls ungeduldig ist. Nun, da das Kind offensichtlich selber bestimmten wollte, wann es geboren werden wollte – womit die Grenzen aller geburtshelferischen Berechnungskunst erreicht waren – schien unser Leben in den Pausemodus zu wechseln. Es konnte passieren, was wollte, man konnte tun, was man wollte: Die Geschichte nahm unbeirrt ihren Lauf. Obwohl die Vögel morgens genauso laut zwitscherten wie bisher, klang ihr Gesang jetzt nicht länger erwartungsvoll, sondern eher gewöhnlich.
Während dieser Pausenzeit kratzte ich an einem der ersten warmen Abende Moos aus den Pflasterfugen im Hof. Als es dämmerte ging ich ins Haus und setzte mich zu meiner wartenden Frau aufs Sofa.
„Wieder sauber“, sagte ich. Etwas geistesabwesend deutete sie mit dem Finger auf meinen Mund: „Du hast da noch was zwischen den Zähnen.“ Ich stocherte mit dem Finger in meinen Zähnen und starrte einen Augenblick später verdutzt auf ein Stück Salat vom Abendessen. Wir mussten lachen. Doch das Lachen blieb uns im Halse stecken, denn die Fruchtblase platzte.
Plötzlich hatten wir es eilig. Da wir aber eine so lange Zeit mit Warten verbracht hatten, konnten wir so schnell nicht damit aufhören. Alles war vorbereitet, wir mussten nur diesen duldsamen Pausemodus überwinden. Die abstrakte Idee des Schwangerseins hatte uns wie ein Luftballon hoch über die Welt erhoben und uns eine Übersichtlichkeit beschert, die wir unten auf der Erde nie gehabt hatten. Mechanisch machte ich mich an die Umsetzung unserer Vorbereitungen. Ich legte eine Plastikfolie aufs Sofa und hängte mir eine Stoppuhr um den Hals, um die Zeiten zwischen den Wehen zu messen. Ganz allmählich sank die abstrakte Idee aus ihrer Höhe herab und die profanen Tätigkeiten übernahmen das Zepter.
Das Dorf schlief, als wir endlich bereit waren für ein neues Warten.
Auch wenn Warten immer unlösbar verbunden ist mit dem, worauf man wartet, kann ich nicht behaupten, gewusst zu haben, worauf ich wartete, bevor ich Vater wurde. Ich frage mich, ob diese Ahnungslosigkeit nicht für alle Sehnsüchte gilt. Meistens tun wir so, als knüpfe Sehnsucht ein Band zwischen dem Sehnenden und dem Ersehnten, ein Band, das mal straffer und mal lockerer gespannt ist und manchmal sogar reißt – das ist dann die ungestillte Sehnsucht. Doch wie sehr müssen wir die Metapher des Bandes strapazieren, um damit das ganze Wesen der Sehnsucht einfangen zu können? Irgendwas stimmt mit der Chronologie nicht. Wir tun so, als befänden wir uns anfangs in einem Zustand der Interesse- und Bedürfnislosigkeit, sähen uns konfrontiert mit einer Welt voller Gegenstände und Menschen, die uns zunächst nichts angehen und die wir objektiv beurteilen zu können glauben. Und eines schönen Tages beschließen wir dann, uns nach diesen Gegenständen und Menschen zu sehnen?
Schwer vorstellbar. Ohne dass uns nach etwas verlangt, können wir nichts zu schätzen wissen. Wir leben in einer Welt des Verlangenmüssens.
Egal, wie logisch es auch erscheinen mag: Der Gegenstand ist nicht der Auslöser unseres Verlangens. Hätte der Mensch nichts Begehrenswertes um sich, würde er so lange warten, bis es etwas gäbe, worauf gewartet zu haben es sich lohnte. Der Mensch besteht vor allem aus Begehren. Deshalb wohl projiziert er diese Sehnsucht auf das Objekt der Begierde und hält es danach irrtümlicherweise für die Ursache der Sehnsucht selbst.
Was aber ist wirklich die Ursache unserer Begierde? Woher kommt dieses „Wollen“? Arthur Schopenhauer (1788–1860) zufolge, dem „Philosoph des Willens“, ist diese Frage nicht zu beantworten. Die Ursache der Existenz des Willens entzieht sich unserer Kenntnis. Aber wie der Wille beschaffen ist, wie wir ihn empfinden, das braucht, so sagt Schopenhauer, nicht im metaphysischen Dunkel zu bleiben: „Ich sage daher, daß die Lösung des Räthsels der Welt aus dem Verständniß der Welt selbst hervorgehn muß; daß also die Aufgabe der Metaphysik nicht ist, die Erfahrung, in der die Welt dasteht, zu überfliegen, sondern sie von Grund aus zu verstehn […].“ Schopenhauer widmete sein ganzes Leben der Analyse dieser Erfahrung. Schopenhauer war dreißig, als die erste Fassung von Die Welt als Wille und Vorstellung erschien, und er arbeitete daran bis kurz vor seinem Tod.
Der Philosoph beschreibt den Willen als eine unerschöpfliche Kraft, die alles Leben durchdringt, in Gang hält und sowohl hier wie jenseits der wahrnehmbaren Wirklichkeit nicht zu erkennen ist, genau wie das berühmte „Ding an sich“ seines Vorgängers Immanuel Kant (1724–1804). Kant behauptet, dass das, was wir wahrnehmen, nur aus Vorstellungen bestehe, die auf dem Sein beruhen, wie es „an sich“ sein muss. Ich bin ein großer Bewunderer von Kant, dennoch kann ich mir von diesem Ding an sich nur schwerlich eine Vorstellung machen.
Da Raum und Zeit bekanntermaßen keine Eigenschaften der Dinge selbst seien, müssen wir, sagt Kant, annehmen, dass außerhalb unserer Vorstellung von der Welt noch eine Wirklichkeit an sich bestehe, die unbeeinflusst sei von den Kategorien Zeit und Raum. Klar wie Kloßbrühe, doch reichlich theoretisch. Eine „Wirklichkeit“, von der wir nichts wissen können, erweckt kaum unsere Neugier. Und obwohl Schopenhauers unerkennbarer Wille den gleichen Status besitzt wie Kants Welt an sich, spüren wir die Auswirkungen des Willens ständig: Wir wollen nämlich immer etwas, auch wenn wir nichts wollen. Und dieses Wollen offenbart sich als individueller, freier Wille. Allerdings, sagt Schopenhauer, ist der menschliche Wille lediglich eine begrenzte Manifestation des einen großen Willens.
Aber auch dann bleibt ein Wille jenseits der Erfahrbarkeit eine nur mühsam vorstellbare Angelegenheit. Es ist schon schwierig genug, sich klar zu machen, dass man nicht über seinen eigenen Willen verfügt, das heißt, man es nicht selbst ist, der in erster Instanz will. Vor allem in einer Zeit, in der vom Individuum erwartet wird, dass es weiß, was es will, und seine Sehnsüchte und Wünsche gegeneinander abwägt. Allerdings: Warum sollten wir Rücksicht nehmen auf etwas, was unsere eigene Wahrnehmung übersteigt? Kann das, was sich jenseits unseres Wissens abspielt, überhaupt unsere erkennbare Existenz beeinflussen?
Als siebenjähriger Junge hatte ich keine Ahnung, dass es außer unserer Welt noch eine Welt geben könnte, die sich uns auf unvorstellbare Weise entzieht. Dennoch bildete wohl genau diese ungreifbare Existenz den Auslöser für eine Erfahrung, die mich bis in meine Grundfesten erschütterte.
Es begann ganz harmlos. Unsere Familie war nach Haren gefahren, um Großvaters Geburtstag zu feiern. Wie immer langweilte ich mich, ohne dass es mir was ausmachte. Der Riesling und das Käsegebäck müssen schon aufgetischt worden sein, denn anschwellendes, gelegentlich in lautes Gelächter übergehendes Gemurmel, übertönt von der lauten Stimme meiner Tante, die sich später mit allen verstritt, flutete durch die Wohnzimmertür in die Halle, wo ich gerade auf dem weißen, langflorigen Teppich stand, der sich über die Treppe hinauf bis in den ersten Stock zog. Das Ticken der antiken Standuhr, in der, wie meine Großmutter immer sagte, das jüngste Zicklein vom Wolf und den sieben Geißlein Platz gehabt hätte, verlieh der hier herrschenden Stille eine gewisse Würde.
Wer sich langweilt, dessen Aufmerksamkeit will erregt werden. Gedankenlos ließ ich meinen Blick über die Gegenstände in der Halle schweifen, auf der Suche nach etwas, was mich von meiner Untätigkeit erlösen könnte: über den Spazierstock im Schirmständer, die Gardine vor dem hohen, schmalen Fenster an der Tür, den Schlüssel im Schloss des Garderobenschranks, die Fotos an der Wand neben der Wohnzimmertür. Auf einem der Fotos war die ganze Familie zu sehen, die sich gerade im Wohnzimmer befand. Alle standen im Garten und schauten mich freundlich schweigend an. Es war Sommer und ich hockte in kurzer Hose, Kniestrümpfen und Sandalen neben meiner Mutter auf der Erde. Jochem, unser Boxer, war der einzige, der nicht Richtung Kamera schaute. Die Krawatte meines Vaters lag quer über dem Revers seines Jacketts. Sie war aufgeflattert, als er vom Stativ zu uns herüber gerannt war. Tante Dien und er hatten den gleichen schalkhaften Ausdruck im Gesicht, den man oft bei ihnen beobachten konnte. Ob das der Grund war oder die Stimmen hinter der Wohnzimmertür, weiß ich nicht, jedenfalls fühlte ich mich auf einmal von den Blicken aus der Vergangenheit beobachtet. Ich wusste, dass das unmöglich war, doch zur Sicherheit trat ich einen Schritt zur Seite. Es half nichts, alle starrten mich an, sobald ich den Blick auf sie richtete. Immer weiter rückte ich vom Bild weg, bis ich mit der Schulter gegen die Wand stieß. Erst als ich mich mit dem Rücken an der Standuhr auf den Boden gleiten ließ, war ich die durchdringenden Blicke los. Ich blieb solange sitzen, bis ich mir sicher sein konnte, dass das Foto wieder stillstand und nur die Momentaufnahme einer abgeschlossenen Vergangenheit zeigte. Doch kaum wagte ich es wieder hinzuschauen, starrten mich alle an, sie hatten sich noch immer gegen mich verschworen. Sogar Onkel Jouke ganz rechts auf dem Foto, der es immer gut mit allen meinte, beteiligte sich am Komplott gegen den kleinen Neffen, der sie aus der Zukunft heraus anglotzte.
Ich war alt genug, um zu wissen, dass das Ganze nur auf einer Sinnestäuschung beruhte. Trotzdem konnte ich mich von der Fotografie nicht losreißen. Ich beschloss nachzugeben – vielleicht um herauszufinden, wie stark meine Wahnvorstellung tatsächlich war. Da geschah etwas Unerwartetes: Das böswillige Spiel, das meine abgelichteten Familienmitglieder mit mir zu spielen schienen, war schlagartig zu Ende. Stattdessen offenbarte sich mir die Endgültigkeit, die in der Fotografie verborgen lag, und ich sah nur noch Unschuld, dieselbe Unschuld, die der Anblick eines Toten hervorruft. Nicht nur der festgehaltene Augenblick war für alle Zeiten vergangen, sondern auch wir, wie wir in jenem Augenblick gewesen waren, mitsamt aller Gedanken und Absichten, die wir hegten, während wir posierten und auf das Klicken des Selbstauslösers warteten: für immer verloren. Statt einen Augenblick zu verewigen, brachte das Foto zum Ausdruck, dass das alles verschwunden war. Wieder drang Gelächter aus dem Wohnzimmer, und mir wurde klar, dass auch dieses Gelächter irgendwann für immer verloren sein würde. Je näher ich dem anwesenden Leben kommen wollte, indem ich meine Erfahrung als Sinnestäuschung entlarven wollte, desto mehr schien Anwesenheit etwas zu sein, was so schnell verschwindet wie ein Geräusch verstummt.
In diesem Moment öffnete sich die Wohnzimmertür. Plötzlicher Lärm und Weindunst verdrängten die Stille in der Halle. „Hier ist Coen“, rief meine Tante über die Schulter zurück in Richtung meines Cousins, der auf dem Foto neben mir gesessen hatte.
Als wir am Abend in unserem Volvo zurück nach Hause fuhren, legte ich den Kopf an das kalte Autofenster. Während die dunkle A 28 unter uns hindurchsauste, ging mir ständig ein Satz durch den Kopf, den ich nicht verstand, dessen Wahrheit ich aber instinktiv erfasste: Ich bin eher nicht, als dass ich bin.
Die Unmöglichkeit, nicht mehr zu einem vergangenen Augenblick zurückkehren zu können, akzeptieren wir problemlos als Sehnsucht nach dem Früher, doch was mich an jenem Sonntag in meiner Kindheit so verwirrte, war, dass ich die Unmöglichkeit spürte, auch in der Gegenwart vollkommen anwesend zu sein. Selbst der kürzeste gegenwärtige Augenblick ist in ein Kommen und ein Gehen unterteilt. Um zu existieren, muss etwas sozusagen von Dauer sein, aber etwas kann nur dann von Dauer sein, wenn ein Teil davon bereits vergangen ist. Dadurch verhält es sich genauso wie mit einer einzelnen Musiknote in einem Musikstück. Das Stück erklingt nur mithilfe von Noten, die gerade verklungen sind, und von Noten, die den Kompositionsprinzipien zufolge noch erklingen müssen. Hierin liegt der Trost der Musik: Die Musik ist weit besser als unser Gedächtnis imstande, das Vergehende (die gespielten Noten) festzuhalten. Ohne Musik würden wir ständig schweben zwischen dem Vergessen und dem Noch-nicht-Wissen.
Und dieser eine kleine Moment von Gegenwärtigkeit, auf dem wir täglich balancieren, verschafft uns ein Übermaß an unerreichbarer Realität und ungenutzten Möglichkeiten: ein Übermaß, das sich nie offen zeigt, in diesem einen Bruchteil der Anwesenheit aber dennoch mitschwingt. Vielleicht wollte Neil Young 1979 mit seinem Song „There’s more to the picture than meets the eye“ genau das ausdrücken. Hinter unserer Vorstellung der Welt verbirgt sich viel mehr als das, was wir wahrnehmen. Das jenseits der Erfahrbarkeit sich Befindliche mag zwar unerreichbar bleiben, dennoch beeinflusst es unaufhörlich das, was wir von der Welt zu Gesicht bekommen.
Als gleichzeitig mit der Ankunft meiner Tochter meine Vaterschaft in die Welt trat, schien alles neu für mich zu sein. Abgesehen davon, dass mein Leben plötzlich vom ungestümen Willen eines anderen Wesens bestimmt wurde – ich fragte mich, wie andere das machten, wie meine Eltern das hingekriegt hatten und warum ich noch nie jemanden vorher darüber hatte reden hören –, war vor allem sie neu: unsere Tochter.
Noch heute sehe ich ihren Blick vor mir, als die Hebamme sie im Schwung der letzten Presswehe meiner Frau auf den Bauch legte. In ihrem Blick lag mehr Gelassenheit als Überraschung. Sie war natürlich nur für uns ein neuer Mensch, nicht für sich selbst. Ein vollständiger Mensch, mit einem eigenen Blick und einem eigenen Willen.
Und da war sie dann, genau so, wie sie sein musste und kein Haar anders. Obwohl die Biologie dieser simplen Wahrheit widerspricht, denn hätten meine Frau und ich uns zu einem anderen Zeitpunkt geliebt, es wäre ein anderes Kind dabei herausgekommen.
Doch auch wenn sie scheinbar so war, wie sie sein musste und nicht anders, würde nur ein Idiot von seinem neugeborenen Kind behaupten: „Ja, es ist genau so, wie ich es mir vorgestellt habe, haargenau so.“
Unsere Tochter war ohne Einschränkungen und in der Fülle ihrer Existenz das Objekt unserer neu entdeckten elterlichen Sehnsucht, dabei hatten wir das zunächst gar nicht gewollt, denn so etwas kann man gar nicht wollen. Vor ihrer Ankunft konnten wir uns von ihr keine Vorstellung machen. Wie soll man auch etwas wollen, was man nicht kennt? Kurz, dieses bestimmte Kind war es nicht, das wir uns in den neun Monaten des Wartens gewünscht hatten, aber als unsere Tochter einmal da war, wollten wir sie und keine andere. Wir taten so, als ob wir gewusst hätten, dass wir die ganze Zeit nur auf sie gewartet hatten.
Und umgekehrt: Wer ersehnt schon die Welt, bevor er einen Fuß auf sie setzt – trotzdem wollen wir sie von Anfang an und ohne Unterlass. Der Wille und die Welt sind wie die Sonne und ihre Himmelskörper: Sie werden erst sichtbar, wenn sie versehentlich in die Bahn des anderen geraten. Die Welt verdankt ihre Anwesenheit unserem Willen, und unser Wille wird sichtbar durch die Welt.
So war es auch, als Orpheus Gesang Eurydikes Ohr erreichte und er sie erstmals tanzen sah. Er kannte Eurydike, bevor er wusste, wie sie hieß. Er schien schon immer nur für sie gesungen zu haben, als ob er sie überall gesucht und endlich gefunden hatte. Tanzen und Gesang gehören untrennbar zusammen, wäre Eurydikes Schönheit je offenbar geworden ohne Orpheus Musik? „Apollon selbst, der melodische Gott, schenkte ihm ein Saitenspiel, und wenn Orpheus dasselbe rührte und dazu seinen herrlichen Gesang, den seine Mutter ihn gelehrt hatte, ertönen ließ, so kamen die Vögel in der Luft, die Fische im Wasser, die Tiere des Waldes, ja die Bäume und Felsen herbei, um den wundervollen Klängen zu lauschen. Seine Gattin war die holdselige Najade Eurydike, und sie liebten sich beide auf das zärtlichste.“ Wäre die Schönheit von Orpheus’ Musik je erhört worden ohne Eurydikes Regsamkeit und die der Welt? Eurydike und Orpheus sind ein Sinnbild des symbiotischen Verhältnisses zwischen Welt und Wille.
Doch da liegt der Hase im Pfeffer. In dem Moment, in dem ihre harmonische Sehnsucht sich zu erfüllen scheint, wird Eurydike von einer giftigen Schlange gebissen und stirbt. Das Objekt von Orpheus’ Begierde verschwindet im Totenreich. Er ist fassungslos. „Dulden wollt‘ ich als Mann, und strengte mich; aber es siegte/Amor.“ Er will sie wiederhaben und beschließt, sie aus der düsteren Welt des Hades zu befreien: Er wagt es, „hinab zur Styx durch des Tänarus Pforte zu steigen.“ Und „durch luftige Scharen bestatteter Totengebilde/Naht er Persephonen nun, und des anmutlosen Bezirkes/Könige drunten in Nacht; und sanft zum Getöne der Saiten/Singet er […].“ Mit Erfolg: „Blutlos horchten die Seelen und weineten. Tantalus haschte/Nicht die entschlüpfende Flut; und es stutzte das Rad des Ixion;/Geier zerhackten die Leber nicht mehr; die belischen Jungfrau’n/Rasteten neben der Urn’; und Sisyphus saß auf dem Marmor.“
Es dürfte keine Überraschung sein, dass ausgerechnet Musik dem Warten Einhalt gebietet. Takt und Rhythmus der Musik spielen mit der launischen und herrischen Zeit, die unablässig die Distanz zwischen Orpheus und Eurydike, zwischen dem Begehren und dem begehrten Objekt misst. In der Musik vergessen wir das Warten, sie lässt unsere Sehnsüchte erhabener wirken. Das eingebildete Band zwischen mir und dem Gegenstand meines Begehrens ist gespannt wie eine Saite. Das Begehren selbst wird nun von der Musik erbracht und erwartet nicht länger eine unmittelbare Stillung.
Mit seinem Spiel erweicht Orpheus die Götter, Hades verspricht, Eurydike gehen zu lassen. Orpheus darf sie mit sich in die Oberwelt führen, doch, wie jeder weiß, nur unter einer Bedingung, „Daß er die Augen zurück nicht wendete, bis er entflohen […].“ Kaum jedoch ist Orpheus in der Oberwelt angekommen, wo die Zeit wieder für ihn zu ticken beginnt, da dreht er sich um. „Jetzo besorgt, sie bleibe zurück, und begierig des Anschauns,/Wandt’ er die Augen voll Lieb’; und sogleich war jene versunken./Streckend die Arm’, und ringend, gefaßt zu sein und zu fassen,/Haschte der Unglückselige nichts, als weichende Lüfte.“ Orpheus versucht, sie abermals zurückzuholen, rennt zum Eingang zur Unterwelt – und findet ihn nicht.
Die ersten Wochen unserer neuen Familie waren angenehm monoton. Der späte Nachtfrost wurde abgelöst von einer frühen Hitzewelle. Wie eine Schicht Schnee eine Straße vollkommen in ununterscheidbares Weiß tauchen kann, vermag es Hitze, ganze Tage zu einer Einheit zusammenzuschmelzen: Dieser Eindruck wurde noch verstärkt durch die Regelmäßigkeit, die ein neugeborenes Kind dem Leben auferlegt. Die kurzen Nächte waren nur wenig kühler als die heißen Tage, und zwischen drinnen und draußen war kaum ein Unterschied zu spüren. Den Morgen verbrachten wir im Garten im Schatten der Eberesche und bei Sonnenuntergang spazierten wir durch windstille Straßen mit Blick auf ockerfarbene, langgestreckte Getreidefelder. Die Ärmchen über dem Kopf lag unsere Tochter auf dem Rücken und schien unseren Gesprächen zu lauschen. Die Zeit war wie angehalten, nur diesmal warteten wir auf nichts.
Aus diesem Schlummer wurde ich an einem der ersten verregneten Morgen gerissen. Ich hatte gerade meine Tochter in den Schlaf gesungen, und sie schlummerte unter der Regenabdeckung des Kinderwagens. Der Wetterwechsel war nicht überraschend gekommen, denn wer auf dem Land wohnt weiß, dass wenn mehrere Tage und Nächte hintereinander die Erntemaschinen brummen, die Bauern das Getreide vor einem baldigen Regen einfahren wollen. Doch angekündigt oder nicht, mit einem Wetterwechsel scheint sich oft das ganze Leben zu ändern. Wo sich bis vor kurzem Getreidefelder bis zum Horizont erstreckten, war jetzt nur noch feuchter Lehm zu sehen, grau wie der Himmel.
Vom Dorf her kam mir unser Nachbar entgegen. Er war Rentner und führte seinen schwarzen Labrador aus. Da ich mich inzwischen an unser neues Leben gewöhnt hatte – es konnte aber auch am Wetterwechsel liegen –, fiel mir auf, dass ich seit der Geburt unserer Tochter zum ersten Mal wieder so etwas wie Unruhe verspürte. Mich quälte die Frage, was wohl aus ihr werden würde. Was war sie eigentlich für eine Person? Noch konnte sie nicht viel mehr als bei ihrer Geburt, ja, sie hatte noch nicht einmal das erste Mal gelächelt, was viele unserer Freunde, die das Baby besichtigen kamen, für eines der wichtigsten Ereignisse dieser Zeit hielten. Dass sie einfach nur da war, reichte mir plötzlich nicht mehr: Die Zeit meldete sich wieder zu Wort. Der Nieselregen ging in leichten Schauer über.
Als der Nachbar uns fast erreicht hatte, ging ich aus Höflichkeit langsamer, blieb aber, um meine Tochter nicht zu wecken, nicht stehen. Er beglückwünschte mich zur Geburt unserer Tochter. Um ihm einen Blick auf das neue Leben zu ermöglichen, hob ich den Regenschutz etwas, doch in diesem Moment regnete es stärker und ich ließ diesen, eine Entschuldigung murmelnd, rasch wieder sinken. Der Nachbar pfiff nach seinem Hund und machte kehrt, um mich auf dem Heimweg Richtung Dorf zu begleiten. „Das erste Jahr geht rasend schnell vorbei“, sagte er, worauf er, vielleicht weil der Gegenstand unseres Gesprächs notgedrungen unsichtbar bleiben musste, sich in Erinnerungen an die Geburt seines eigenen ersten Kindes zu verlieren begann: „So viel wie im ersten Jahr passiert danach nie mehr. Ich rate Ihnen, nehmen Sie ganz bewusst Anteil daran.“ Und wie ich Anteil daran nehme, fluchte ich innerlich. Seine Worte vergrößerten meine Unruhe über die ungewisse Zukunft meiner Tochter noch. Je mehr er von seinen Kindern erzählte, desto weiter entfernte sie sich von der Gegenwart. Mit gegen die Witterung hochgezogenen Schultern starrte ich auf die Plastikabdeckung des Kinderwagens: Sie war übersät mit winzigen Wasserinseln. Tropfen rannen herab.
Ich achtete weder auf das Dorf noch auf meine Tochter, nur auf die Worte des Nachbarn, die mir das Gefühl gaben, dass das Leben meiner Tochter lediglich Einbildung sei. Dadurch kam mir wiederum mein eigenes Leben vollkommen unwirklich vor. So wie ich jetzt den Kinderwagen vor mir herschob, schien ich ein Statist in einem schlechten Theaterstück zu sein, in einer Szene, bei der die Landstraße zum Dorf den sinnlosen Weg des Menschen symbolisierte: Tag ein und Tag aus, Jahr ein und Jahr aus, Generation für Generation. Und während dieser Zeit warten alle auf das Glück.
Christoph Willibald Glucks berühmte Oper Orfeo ed Euridice aus dem Jahr 1762 ist eine modernere Version des antiken Orpheus-Mythos. Bereits 1609 hatte Monteverdi eine Version komponiert, in der Eurydikes Unerreichbarkeit weniger dramatisch erscheint: Orpheus tröstet sich mit dem Sternbild, in das sich seine Geliebte verwandelt hat. Glucks Orpheus will aber mehr als nur die geistige Liebe, er will die irdische, will Eurydike in Wirklichkeit, er will ihren Körper spüren oder sterben. Der Gott der Liebe ist gerührt von dieser Opferbereitschaft und vereinigt Orpheus und Eurydike. Doch ist dieses Ende wirklich so tröstlich? Warum klingt Glucks Version so viel trauriger und in gewissem Sinne auch wahrhaftiger als Monteverdis muntere Version?
In seinem Essay „The Sex of Orpheus“ weist der slowenische Philosoph Slavoj Žižek darauf hin, dass Gluck mit seiner Version ein Beispiel für die „failure of sublimation“ darstellt. Der moderne Mensch ohne Gott vermag es nicht mehr, sein Begehren mithilfe einer Idee zu sublimieren, die an die Stelle des ersehnten Objekts rückt.
Der Vorteil der Idee eines überirdischen, vollkommenen Wesens liegt darin, dass wir zur Befriedigung unserer tiefsten Wünsche nicht auf die anderen zurückgreifen müssen, auf die unvollkommenen Wesen des Hier und Jetzt. Darin liegt die Tragik des modernen Menschen: Er will zwar die absolute Kontrolle über die Befriedigung seiner Sehnsüchte, ist sich jedoch nicht klar darüber, dass er diese Autonomie nur durch die Abhängigkeit von anderen erlangt.
Der moderne Mensch ist notgedrungen ein soziales Wesen. Wenn er seine tiefsten Wünsche Wirklichkeit werden lassen will, ist er auf die Wohltätigkeit anderer angewiesen. Dazu muss er wie Glucks Orpheus bereit sein, sich selbst aufzugeben. Ob er das nun will oder nicht.
Als Gluck, der Komponist der tragischen Sehnsucht in einer gottlosen Welt, in Wien starb, ging Johanna Schopenhauer gerade mit dem Kind schwanger, das als Erwachsener diese moderne Sehnsucht in Philosophie zu fassen versuchte. Es war der gleiche Philosoph, der behauptete, dass der Mensch den unaufhörlichen Willen nur mithilfe der Musik zum Schweigen bringen kann.
„Wie alle jungen Mütter“, zitiert Rüdiger Safranski in seiner Biographie über Arthur Schopenhauer (1987) Johanna, „spielte auch ich mit meiner neuen Puppe.“ Aber, so fährt Safranski fort, mit „ihrem Kind als Spielzeug muß Johanna fortan ankämpfen gegen das Gefühl der Langeweile und der Verödung, das sich ihrer zu bemächtigen beginnt“. Aus dem schwierigen Verhältnis, das die Mutter und Sohn später entwickelten, muss man schließen, dass in der Familie Schopenhauer willensstarke Individuen um die Vorherrschaft kämpften. Nach dem frühen Tod des Vaters blieb Arthur auch als junger Mann noch stark vom Willen seiner Mutter abhängig. Diese mischte sich zwar ständig in sein Leben ein, zeigte aber kaum mütterliche Gefühle.
Safranski glaubt, dass dieser Mangel an mütterlicher Zuneigung für Arthurs Denken bestimmend war. „Wer die primäre, die mütterliche Liebe nicht empfangen hat, dem wird sehr oft die Liebe zum Primären, zur eigenen Lebendigkeit fehlen. Wem es an grundlegender Lebensbejahung mangelt, nicht aber an stolzem Selbstbewußtsein, der ist, wie Arthur, dafür disponiert, auf alles Lebendige jenen verfremdenden Blick zu werfen, aus dem die Philosophie kommt: die Verwunderung darüber, daß es überhaupt Leben gibt. Nur wer sich nicht in fragloser, weil von Sympathie getragener Einheit mit allem Lebendigen fühlt, dem kann fremd werden, was doch zu ihm gehört: der Leib, das Atmen, der Wille.“
Tragischerweise ist Schopenhauer vor allem als Pessimist bekannt und nicht als Philosoph, der den Körper und die Musik zu wesentlichen Elementen seines Denkens machte. Mit Kant und der von Schopenhauer abgrundtief verabscheuten Philosophie Hegels erlangte die Vernunft im Denken den Vorrang über das Gefühl. Doch ist das rationale Denken blind und gefühllos für eine Wirklichkeit, der man sich ohne Körper nur nähern, niemals aber mit ihr in Kontakt treten kann. Die Vernunft ist zwar im Besitz manch hübscher Zauberformeln, doch ihr fehlt der Mund, mit dem sie sie aussprechen kann.
Der Leib ist das einzige „Ding unter den Dingen“, das wir unmittelbar erfahren können. Er ist uns niemals nur Gegenstand oder Automat, von dem sich unsere Vorstellungen als nackte Tatsachen ableiten. Er ist das einzige Ding, von dem ich die „Beweggründe“ kenne. Dieses „Ding“, der Leib, erfährt und erschafft als solcher Vorstellungen, wird aber gleichzeitig auch selbst als Körper, als Vorstellung erfahren. Von der Welt außerhalb meines Körpers mache ich mir eine Vorstellung, die Welt innerhalb meines Körpers dagegen nehme ich als „Wille“ wahr.
Auch wenn wir unseren Körper unmittelbar erfahren können, so spielt im Verhältnis zwischen ihm und uns noch ein anderes, notwendiges, befremdliches Element eine Rolle: Unser Körper gehört nicht nur uns allein, sondern ist auch Teil der Natur. Diese Natur lässt uns atmen und bluten, und sie ist dafür verantwortlich, dass der eigene Wille nicht nur dem Individuum angehört, sondern gleichzeitig Teil eines größeren, außerindividuellen Willens ist. Und so vereint unser Körper die erkennbare Welt und die unerkennbare Welt des Willens in sich. Der menschliche Wille ist ein mangelhafter Wille, ein Splitter des ungeteilten, blinden Weltwillens. In unserem eigenen Willen spüren wir, dass unser Wille nicht unser Wille ist.
Weder die Wissenschaft noch das Denken, sondern die Kunst, und vor allem die Musik, sind nach Schopenhauer imstande, uns für einen Moment von der Unruhe des mangelhaften Wollens zu befreien. Safranski ist der Ansicht, dass Schopenhauer schon in ganz frühen Jahren auf diesen Gedanken stieß, und zwar durch eine Anekdote, die ihm seine Mutter während ihrer Spaziergänge durch Danzig entlang der Speicherinsel erzählte. Im betriebsamen Zentrum der Stadt, umflossen von der Mottlau, „lagerte der ganze schiffbare Handelsreichtum der Stadt: Getreide, Felle, Textilien, Gewürze. […] Bei einbrechender Dunkelheit wurden die Tore der Speicherinsel geschlossen. Wer jetzt noch auf die Insel sich wagte, wurde von Bluthunden, die man während der Nacht aus ihren Zwingern ließ, zerrissen.“ Die Mutter erzählte ihm, wie sich einmal ein berühmter Cellist mit dem blutrünstigen Willen der Tiere messen wollte: „Kaum hatte dieser das Tor der Speicheranlagen passiert, als auch schon die Hundemeute auf ihn zustürzte. Er preßte sich an die Mauer und strich mit dem Bogen über sein Instrument. Die Hunde verharrten, und als er dann, mutiger geworden, seine Sarabanden, Polonaisen, Menuette intonierte, da ließen sich die Bluthunde friedlich um ihn nieder und lauschten.“
Es ist natürlich nur eine Anekdote, aber mit ihrer Hilfe erkannte Schopenhauer, dass die Musik besser als die Vernunft imstande ist, den ungestümen Willen im Zaum zu halten, der in jedem körperhaften Wesen wütet.
„Alle möglichen Bestrebungen, Erregungen und Aeußerungen des Willens“, so schreibt Schopenhauer in Die Welt als Wille und Vorstellung, „alle jene Vorgänge im Innern des Menschen, welche die Vernunft in den weiten negativen Begriff Gefühl wirft, sind durch die unendlich vielen möglichen Melodien auszudrücken, aber immer in der Allgemeinheit bloßer Form, ohne den Stoff, immer nur nach dem Ansich, nicht nach der Erscheinung, gleichsam die innerste Seele derselben, ohne Körper“.
Der Musik kann dies gelingen, weil sie, kurz gesagt, nur Stimmungen hervorbringt und nichts anderes darstellen will – was bei einem Werk der bildenden Künste jedoch immer der Fall ist. Musik „könnte gewissermaaßen, auch wenn die Welt gar nicht wäre, doch bestehn: […] Die Musik ist nämlich eine so unmittelbare Objektivation und Abbild des ganzen Willens, wie die Welt selbst es ist […].“
Musik stellt keine Idee dar und verweist auch nicht auf einen Zustand in der Wirklichkeit, sie ist solch ein Zustand in der Wirklichkeit selber. Darin liegt ihre Kraft. Die Tonkunst kann deshalb Bluthunde zum friedlichen Zuhören bringen, weil sie von allen Künsten die einzige ist, die es vermag, eins zu werden mit den Stimmungen, die sie erregt. Sie stellt Traurigkeit, Schmerz oder Freude nicht dar, sondern ruft sie hervor. „Dies ist der Ursprung des Gesanges mit Worten und endlich der Oper, – deren Text eben deshalb diese untergeordnete Stellung nie verlassen sollte, um sich zur Hauptsache und die Musik zum bloßen Mittel seines Ausdrucks zu machen, als welches ein großer Mißgriff und eine arge Verkehrtheit ist.“ Denn wenn „also die Musik zu sehr sich den Worten anzuschließen und nach den Begebenheiten zu modeln sucht, so ist sie bemüht, eine Sprache zu reden, welche nicht die ihrige ist“.
Nach Ansicht Schopenhauers besteht das Wesen des Menschen darin, „daß sein Wille strebt, befriedigt wird und von Neuem strebt, und so immerfort, ja, sein Glück und Wohlseyn nur Dieses ist, daß jener Uebergang vom Wunsch zur Befriedigung und von dieser zum neuen Wunsch rasch vorwärts geht, da das Ausbleiben der Befriedigung Leiden, das des neuen Wunsches leeres Sehnen, languor, Langeweile ist; […].“ Diese Dynamik spiegelt sich in der Melodie eines Musikstücks wieder, die in ähnlicher Weise immer wieder vom Grundton abweicht und abschweift, um schließlich Befriedigung im Erreichen des Grundton zu erlangen. „Wie nun schneller Uebergang vom Wunsch zur Befriedigung und von dieser zum neuen Wunsch, Glück und Wohlseyn ist, so sind rasche Melodien, ohne große Abirrungen, fröhlich; langsame, auf schmerzliche Dissonanzen gerathende und erst durch viele Takte sich wieder zum Grundton zurückwindende sind, als analog der verzögerten, erschwerten Befriedigung, traurig.“
Für Schopenhauer sind Musik und Wille ihresgleichen: „Man könnte demnach die Welt eben so wohl verkörperte Musik, als verkörperten Willen nennen“. Die Musik, so schreibt er, stellt „zu allem Physischen der Welt das Metaphysische, zu aller Erscheinung das Ding an sich“ dar.
Der Mensch kann nicht aus seiner eigenen Wirklichkeit heraus, es ist ihm nicht möglich, sich selbst von „der metaphysischen Seite“ des Lebens her zu betrachten. Höchstens empfindet er in seinem eigenen Streben und dem Gegenstreben des anderen die Kraft des Willens, der von dort zu kommen scheint.
In der Musik jedoch, so betont Schopenhauer, gerät der ungreifbare metaphysische Wille doch für einen Moment in Griffweite. Wir können sie nämlich selbst machen. Und dies, so Schopenhauer Leibniz zitierend, verwandelt die Musik in eine unbewusste Übung in der Metaphysik, ohne zu wissen, dass man dabei philosophiert: „Musica est exercitium metaphysices occultum nescientis se philosophari animi.“ Musik, vor allem wenn sie auf unvergleichliche Art dargebracht wird, scheint nur für sich selbst zu existieren. Klassik oder Pop, das macht keinen Unterschied. Wenn ich Glenn Gould Bach spielen oder Barbara Chansons singen höre, vergesse ich die beiden Interpreten, die durch ihr Spiel oder den Gesang die Musik hervorbringen. Sie scheinen mit ihrer Musik ein wirklich existierendes, verborgenes Sein heraufzubeschwören. Eine einzige falsche Note im musikalischen Spiel ist fataler als ein Fehler oder ein Missgriff in jeglichem anderen Spiel, denn sie kann dieses metaphysische „Sein“ zerstören.
„Der Uebergang aus einer Tonart in eine ganz andere, da er den Zusammenhang mit dem Vorhergegangenen ganz aufhebt, gleicht dem Tode, sofern in ihm das Individuum endet; aber der Wille, der in diesem erschien, nach wie vor lebt, in andern Individuen erscheinend, deren Bewußtsein jedoch mit dem des erstern keinen Zusammenhang hat.“
Am Tag, als meine Großmutter beerdigt wurde, stand ich mit meiner Tochter in der stillen Eingangshalle des Hauses in Haren. Den Großvater hatte sie nicht mehr kennengelernt, und Oma, die dreiundneunzig wurde, war in den Augen des vierjährigen Mädchens noch lebend die Verkörperung des Todes gewesen. Sie wusste, dass man sterben musste, wenn man alt war, und „alte Oma“, wie sie sie nannte, war schon sehr alt.
Neben der Standuhr hing jetzt noch ein Familienporträt, das zehn Sommer später aufgenommen worden war als das Familienfoto links von der Wohnzimmertür, welches mich als Kind so irritiert hatte. Auch jetzt wieder waren Stimmen hinter der Tür zu hören. Das Foto war ein Geschenk zum Hochzeitstag meiner Großeltern gewesen. Sie waren nicht auf dem Foto. „Schau“, sagte ich zu meiner Tochter und zeigte auf die Familie im Garten meines Elternhauses, „das war Eppo, der lustige Hund, von dem ich dir erzählt habe.“ Der Hund schaute uns verschlafen an. „Und das da?“ fragte ich sie. „Weißt du, wer das ist?“
„Weiß nicht, wer denn?“ fragte sie und lachte mich an.
„Das bin ich. Das ist Papa.“
Ihr Lachen verschwand. Irritiert betrachtete sie den Teenager auf dem Foto. So hatte sie mich noch nie gesehen. Ich hängte die Mäntel an die Garderobe, während sie weiter auf die Fotografie starrte: „Sie schauen mich an.“
Ich drehte mich um und lachte. „Ja, das sieht so aus, nicht wahr? Das dachte ich früher…“
„Nein, das stimmt!“, unterbrach sie mich empört. „Sie gucken wirklich. Schau doch!“
Mein Nachbar behielt Recht. Die Unruhe jenes verregneten Spaziergangs habe ich niemals wieder empfunden. Die Veränderungen gingen, wie er prophezeit hatte, in einem rasenden Tempo vonstatten, und ich begriff, warum er mir geraten hatte, bewusst daran Anteil zu nehmen.
Alle jungen Eltern versetzen sich in ihre Kinder, vermutlich vor allem, um Gefahren abschätzen zu können. Man weiß, dass man dabei die Welt mit den Augen der Kinder betrachtet, sogar wenn sie nicht in der Nähe sind. Doch wie sehr wir auch in ihre Rollen schlüpfen, sie und wir bleiben Fremde, bleiben unabhängige, individuelle Willen.
Je schneller sich alles verändert, desto größer wird diese Distanz. Voller Wehmut fürchtet man, dass einem die Zeit zwischen den Fingern zerrinnt. Die eigenen Erinnerungen an das, was man vor noch nicht so langer Zeit mit seinen Kindern erlebt hat, erscheinen einem merkwürdig fremd, als hätten sie in einem anderen Leben stattgefunden. Junge Eltern wundern sich immer wieder über das Missverhältnis zwischen den raschen Veränderungen und dem langsamen Vergehen der Zeit. „Es ist kaum zu glauben“, höre ich mich selber verwundert ausrufen, „das war noch in diesem Sommer. Unglaublich!“
Diese Irritation führt nicht nur dazu, dass man sich nach der Vergangenheit sehnt, sondern sein Kind am liebsten immer um sich hätte. Doch ein Kind versetzt sich nicht so in die Eltern, wie sich die Eltern in das Kind versetzen. Ganz und gar nicht. Wir sind Teil einer Welt, die bereits existierte, als sie noch gar nicht geboren waren. Aus diesem Grund scheinen sie unserem Schicksal gegenüber ebenso gleichgültig zu sein, wie es die schweigende Vergangenheit uns gegenüber ist. Die Kette der Ereignisse verschwindet „zurück im Dunkel“ wie die schemenhafte Gestalt Eurydikes.
Mir war klar, dass ich meine Tochter nicht von der Leblosigkeit des Fotos überzeugen konnte. Ich betrachtete sie, während sie es weiterhin anstarrte. Sie trug eine Bluse, die sie auch anhatte, als sie in diesem Sommer das Fahrradfahren lernte. Damals hatte ich sie aufgefordert, noch einmal um den Betonpfosten herumzufahren, damit meine Frau und ich beratschlagen konnten, ob es Zeit sei, die Stützräder abzunehmen. Nachdem ich mir die Joggingschuhe angezogen hatte, rannte ich neben ihr über die Kanalbrücke, während ich sie mit der Hand im Nacken stützte. Auf der anderen Seite des Kanals bat sie mich, sie loszulassen. Und da fuhr sie! Ich konnte sehen, wie sie lächelte. Dann wollte sie sich nach mir umdrehen, doch dabei geriet ihr Fahrrad ins Schlingern. „Schau dich nicht um!“, rief ich keuchend. „Ich bin hinter dir.“