Читать книгу Eisschwimmen - Niki Lauda, Conny Bischofberger - Страница 8
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ОглавлениеAls Isabella aufwachte, sah sie nur weiß. Weiße Vorhänge, weiße Möbel, weißes Licht. Wo bin ich, dachte sie, schloss noch einmal die Augen und zog sich die Decke über ihre eiskalten Schultern. Sie hatte geträumt, dass eine schwarze Raupe alle Pins, Mails, Fotos und Apps aufgefressen hatte. Reservierungen, Boardingpässe, Coronatests: verschlungen. Isabella stand schreiend daneben und flehte die Raupe an, wenigstens die Telefonnummern wieder auszuspucken. Die Raupe schmatzte und grinste. Dann verwandelte sie sich in einen violetten Schmetterling und flog davon.
Das Gefühl, vollkommen verloren zu sein, saß Isabella noch in den Knochen, als sie sich ins Bad schleppte. Jeder Muskel tat ihr weh. Aus dem Spiegel blickten sie zwei ernste Augen an, ihre Haut sah wie zerknittertes Pergamentpapier aus, blass und mit feinen Linien überzogen. Sie klatschte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Die Hyaluron-Creme, die sie in die Falten klopfte, hatte die Wirkung einer Träne im Ozean.
In der Küche fand sie zwar Kaffee, aber keine Milch und keinen Zucker. Sie schlüpfte in ihre weißen Jeans und die rosa Bluse vom Vorabend, duschen konnte sie auch später noch.
Was mach ich bloß hier, dachte Isabella, als sie aus dem Haus trat. Vor ihren Augen breitete sich die schwedische Insel wie ein Arrangement aus weißen Puppenhäusern aus. In den Vorgärten thronten Relikte aus der Wikingerzeit. Rostige Anker, zu Gartenpavillons umfunktionierte Schiffskabinen. Manchmal glaubte sie, an den Fenstern Umrisse von Bewohnern zu erkennen. Stille. War sie der einzige Mensch auf Vrångö an diesem Montagmorgen? Nur Vogelgezwitscher hörte sie und ein monotones Summen, das Isabella nicht zuordnen konnte. Dann erblickte sie die kleinen, grauen Roboter. Überall krochen sie über die stoppelkurz geschorenen Rasen, kletterten an Steinen vorbei hinter Büsche, fraßen sich munter weiter, summten unaufhörlich dabei.
Isabella lief Richtung Hafen. Auf den Wiesen hatte der Wind die Brombeer- und Hagebuttenstauden niedergepeitscht. Riesige Felsen, die in der Sonne glitzerten, umsäumten das Dorf zum Meer hin, in den Feuchtwiesen blühte der Dost. Bei der Schiffsanlegestelle hörte sie endlich Stimmen. An einem Tisch auf der Terrasse des einzigen Cafés bissen fünf Männer von ihren Käsebroten ab und tranken Cola. »Closed!«, riefen sie, als Isabella sich näherte. Sie musste schon von weitem als Touristin erkennbar sein. »I need milk for my coffee«, rief sie zurück. Der Mattaffär öffne in einer Stunde, wurde ihr gedeutet, der Supermarkt liege am anderen Ende der Insel. Isabella bereute jetzt, hierhergekommen zu sein.
In diesem Moment klingelte ihr Handy. Eine junge Kollegin aus Wien entschuldigte sich für die Störung, aber es sei dringend. »Ich bin grad auf einer Schäreninsel vor Göteborg«, erklärte Isabella, aber das schien die Anruferin nicht zu stören. Auch ihren Hinweis, dass sie erst in zwei Wochen wieder in der Redaktion sein werde, ignorierte sie geflissentlich. »Der Chef vom Dienst lässt fragen, ob du vielleicht Birgit Lauda interviewen könntest?« Die Ehefrau des verstorbenen Formel-1-Weltmeisters und Airline-Gründers war bei den Salzburger Festspielen erstmals wieder mit einem Mann an ihrer Seite erschienen, Isabella hatte es im Flieger nach Göteborg gelesen. »Neue Liebe!«, titelten die österreichischen Zeitungen, und die Society-Reporter lieferten sich ein Wettrennen, wer von ihnen dem frischen Paar als Erstes ein Interview oder zumindest einen Stehsatz entlocken würde. Offenbar erfolglos. Isabella Mahler hatte Niki Laudas Biografie geschrieben, sie sollte die Sache jetzt in die Hand nehmen.
Da stand sie nun auf den Schären, ihr Haar vom Wind zerzaust, auf der Suche nach Milch für ihren ersten Kaffee, und fühlte sich hin- und hergerissen. Der Gedanke, von Schweden aus noch ein Interview zu liefern, einen Coup, mit dem sie in Österreich alle überraschen würde, gefiel ihr. Sie spürte, wie schwer es ihr fiel, loszulassen. Sie verstehe die Lage, erklärte sie nach einer kurzen Nachdenkpause mit fester Stimme. »Ich habe mir aber vorgenommen, eine Pause einzulegen. Und ich bin sicher, dass du es genauso schaffen wirst!«, fügte sie hinzu und sandte der Kollegin den Kontakt der Witwe. Insgeheim befürchtete Isabella, dass wahrscheinlich die deutsche Bild-Zeitung das Rennen machen würde.
Dann nahm sie die Südroute zurück ins Dorf. Vorbei an felsigen Stränden mit Austernkraut und Lavendel, der ins Meer wuchs und das Wasser lila färbte, an Sandbuchten mit Meerroggen, wilden Orchideen und grasenden schwarzen Schafen. Isabella sammelte ein paar Schneckenschalen und Muscheln und Steine, sie würden sie zu Hause am Küchentisch noch lange an diesen Ort erinnern. Als Kind hatte sie Steine aus dem eiskalten Bach neben ihrem Haus »gerettet« und sie nachts im Bett gewärmt. Sie kam an einem Friedhof vorbei und hatte plötzlich Lust, sich auf die mit Moos bewachsene Mauer zu legen. Über ihr wogen sich die Äste der Birken im Wind. Wenn sie den Kopf zur Seite drehte, konnte sie die Tafeln mit den Namen und Berufen der Begrabenen lesen. Olof und Oscar Julin, Litsförmannen. Olle Carlsson und Erik Bolin, Pilotmästare. Sie musste an Igor denken, einen Journalisten, bei dessen Waldbegräbnis sie vor ihrer Abreise gewesen war. »Wollen wir mal einen Kaffee trinken?« Der Kollege hatte sie nicht nur einmal um ein bisschen Zeit gebeten. Isabella hatte immer freundlich genickt. »Machen wir demnächst!« Dann war er gestorben. Ihr war plötzlich elend zumute.
Sie wanderte weiter durch schattige Laubwälder, in denen sie Nachtigallen singen und Turmfalken schreien hörte. Vrångö war ein Natur- und Vogelschutzgebiet, es gab hier Möwen, Sperber, Waldohreulen und Feldlerchen. Keine Autos. Die Insel war mehrfach ausgezeichnet für vorbildliche Umweltschutzmaßnahmen von der Climate Awareness Initiative. Dass sie sich an einen solchen Ort zurückzog, wenn auch nur für drei Tage, würde die Klimaforscherin vielleicht versöhnlich stimmen, überlegte Isabella. Das Thema beschäftigte sie. Die Ausbeutung des Planeten, die Verschmutzung der Meere und der Luft, die Rodung der Regenwälder, all das drang immer mehr in ihr Bewusstsein. Isabella empfand es auch als ihre Verantwortung, umzudenken. Es gab keinen zweiten Planeten. Es ging um den Lebensraum ihrer Kinder und Enkelkinder. In diesem Laubwald in Südschweden dachte Isabella darüber nach, was sie in Zukunft konkret tun könnte, und was sofort. Sie beschloss, während ihrer Reise nur noch öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen.
Nach 2,5 Kilometern erreichte sie den Supermarkt, der in Wahrheit ein winziges Geschäft war und auch als Gärtnerei und Postamt fungierte. Sie kaufte Färsk Mjölk, Snabb-Bitsocker und zwei Croissants und lief über den Mittviksvägen zurück zu ihrem Apartment.
Dort stand der schwarze Koffer noch unausgepackt neben dem Sofa, ein Ärmel ihres gelben Kleides hing heraus, wie immer hatte sie am Ende alles schnell zusammengewürfelt und nur darauf geachtet, dass die wenigen Kleidungsstücke farblich zueinander passen und bequem sein würden. Dazu ihre rosa-gelben Asics-Sneakers und ein paar Flip-Flops. Je weniger sie mitschleppte, desto leichter fühlte sie sich auch innerlich. Isabella erinnerte sich an Reisen mit dem Vater ihrer Söhne. Manchmal waren sie mit einem leeren schwarzen Schrankkoffer, den ihr Partner makabrerweise »Sarg« nannte, nach New York geflogen, mit dem Plan, alles unterwegs einzukaufen. Unterwäsche, Kleidung, Zahnputzzeug, Notizblöcke, Bücher, und manchmal auch einen weiteren »Sarg«. Die elf Jahre mit dem elf Jahre älteren Medienmanager waren die anstrengendsten, aber auch aufregendsten ihres Lebens gewesen. Als das erste Kind kam, wurde es kompliziert. Beim zweiten Kind trennte sie sich von ihm. Das war jetzt auch schon 25 Jahre her.
Während das heiße Wasser durch die Kaffeemaschine lief, schlüpfte Isabella aus ihren Jeans und ihrer Bluse und stellte sich nackt vor den Spiegel. Mit kritisch-wohlwollendem Blick betrachtete sie sich. Mein Gott, sie war 58. Ihr Busen sah aus, als würden ihn versteckte Gewichte nach unten ziehen, den linken tiefer als den rechten. Die Oberarme und Schenkel waren wohlgeformt, bildeten aber bei gewissen Bewegungen Dellen. Hinten war auch nicht mehr alles so knackig. Kein Wunder, sie hatte zwölf Kilo abgenommen im vergangenen Jahr. Insgesamt mochte sie ihre Rundungen und Falten, den kleinen Bauch und das Dekolletee, nur den Truthahnhals empfand sie als störend. So bezeichneten Schönheitsmagazine die Falten des Doppelkinns, wenn man die Zunge herausstreckte, um sie wegzumassieren. Ihre braunen, sanften Augen und der schön geformte Mund lenkten davon ab, fand sie, so wie die dichten, mit goldblonden Strähnen aufgehellten Haare. Im Flugzeug hatte Isabella in einem Magazin geblättert und einen Artikel über »Style-Regeln für Frauen ab 50« gefunden. Frechheit, was da behauptet wurde, noch dazu von einer Frau. Angebliche No-Gos seien: Bikinis, Ripped Jeans, flache Schuhe, nackte Knie, neueste Trends. Für Isabella war das ein Grund, sich demnächst einen neuen trendigen Bikini zu kaufen.
Sie stieg in die Dusche und fühlte den heißen Strahl des Wassers auf ihrer Haut. Nach langer Zeit war sie wieder ganz bei sich, angekommen in ihrer inneren Welt. Wie ein unheilvolles Gewitter zogen die letzten Wochen an ihr vor über. Sie hatte viel zu viel gearbeitet. Sie hatte zugelassen, dass äußere Einflüsse ihr Handeln und Denken bestimmten. Sie hatte Menschen Macht über sie eingeräumt. Sie hatte sich dem Alkohol hingegeben. Signale ihres Körpers ignoriert und ihre innere Weisheit nicht mehr befragt. Isabella konnte hören, wie das Rieseln in ihrem Kopf und das Rieseln des Wassers eins wurden. Es war okay, dass ihre Glieder schmerzten, dass sie müde und erschöpft war.
Sie sah ihr Leben jetzt wie ein Maßband vor sich liegen. Siebzig Prozent waren verstrichen. Dem knappen Drittel, das noch blieb, wollte sie alle ihre Energien schenken. Als Isabella sich trocken massierte und in den Bademantel schlüpfte, korrigierte sie das Bild, das sie gerade gezeichnet hatte. Sie stellte sich vor, dass ihr noch unendlich viel Zeit bliebe, und spürte eine unbändige Lust zu leben.