Читать книгу Tod zum Dessert - Conny Schwarz - Страница 4
Die kleine Eva
ОглавлениеHolzkohlen qualmten auf dem Schwenkgrill vor sich hin und die Kinder tobten ausgelassen im Sonnenschein. Die Bewohner der kleinen Eigenheimsiedlung hatten sich bei Bier und Wein um eine lange Tafel versammelt und plauderten angeregt. Seit zehn Jahren lebten sie nun schon harmonisch Haus an Haus, und das musste gefeiert werden.
„Wer hätte das gedacht, dass Anton und Sabine doch noch ihre Liebe zum Gärtnern entdecken würden!“
„Das war aber auch eine öde Steinwüste vor ihrem Haus.“
„Und nun sind wir alle neidisch auf ihren blühenden Vorgarten!“
Kleine Anekdoten machten die Runde, das permanente Heranwachsen der Kinder wurde kommentiert und der Ärger mit den Handwerkern ausgiebig beklagt.
Zwei Stunden später, als die Steaks und die Salate aufgefuttert und die Kinder längst im Bett lagen oder vor dem Fernseher saßen, lobte man im Chor den nun ausklingenden Abend dafür, dass er so nett und mild gewesen war, und bewunderte noch gemeinsam einen rosaroten Sonnenuntergang. Allein Inge packte plötzlich das Fernweh. Sie wolle unbedingt mal wieder nach Afrika reisen, bekannte sie seufzend.
„Wir kommen mit!“, versprach Volker.
„Na klar, und zwar alle!“
„Wir lassen dich nicht allein!“
Nach und nach sprachen sich alle Nachbarn dafür aus, Inge nach Afrika begleiten zu wollen. Bald aber war man sich einig, dass Afrika doch zu weit weg war und Frankreich oder Spanien für den Anfang auch reichen würden. Dort könne man prima gemeinsam campen.
Martina, noch etwas nüchterner als die andern, überlegte gerade, ob ihr diese Idee wirklich gefiel, als die blonde Eva in die Runde zurückkehrte. In der Hand schwenkte sie fröhlich eine Flasche Schnaps. Obwohl sie am wenigsten von allen getrunken hatte, überfiel Martina plötzlich Müdigkeit. Oder eine böse Vorahnung. Jedenfalls wünschte sie sich einfach nur ins Bett.
„Voilà, Grasovka!“, sagte Eva und schwang die Flasche wie eine Trophäe. „Büffelgraswodka aus Polen, absolut lecker. Wer hat noch nicht?“
Kokett blickte Eva die Männer am Tisch an und zwinkerte ausgerechnet dem gutaussehenden, aber etwas schüchternen Jörg so provokant zu, dass der arme Kerl am liebsten unter den Tisch gekrochen wäre. Läuft da etwa was?, fragte sich Martina verwundert, während alle andern in der Runde Eva sehnsüchtig ihre leeren Gläser entgegenhielten und einen Schluck probieren wollten. Oder auch zwei.
Nur Martina lehnte ab. Schon aus Prinzip. Vor zwei Wochen erst war Eva, die Tochter von Inge und Werner, nach etlichen Fernreisen und gescheiterten Beziehungen in ihr spießiges Elternhaus zurückgekehrt. Und brachte seither Unruhe ins Leben der Siedlung.
Ungeniert flirtete sie mit den Männern, ließ sich von ihnen durch die Gegend kutschieren oder dies und jenes aus der Stadt mitbringen. Deren Frauen waren selbstverständlich alle tolerant oder taten einfach so, als würden sie nichts bemerken. Es war doch bloß die „kleine Eva“, die freche Göre aus der Nummer 5. Einige Frauen aber nahmen sie durchaus als Konkurrentin ernst. Sie biederten sich bei ihr an, indem sie ihr Komplimente oder Geschenke machten. Als würde dadurch etwas von Evas Sexappeal auf sie abfärben, dachte Martina angewidert. Oder hofften sie etwa darauf, dass Eva so etwas wie Dankbarkeit kennen und ausgerechnet den eigenen Mann verschonen würde?
Ernüchtert beobachtete Martina ihre angeheiterten Nachbarn, aus denen im Laufe der Jahre gute Freunde geworden waren. Und während sie inständig hoffte, dass dies für immer so bleiben würde, heizte Eva mit immer neuen Ideen die Stimmung am Tisch an. Bald wurden uralte Schlager gesungen und sinnfreie Witze erzählt, über die sich alle halbtot lachten. Alle, bis auf Martina, die inzwischen bereute, den Wodka abgelehnt zu haben. Nun aber war es zu spät. Die Flasche war leer.
Im selben Moment, als Martina dies mit Bedauern feststellte, begann die Stimmung zu kippen. Es fing an mit dem Pflaumenbaum der Meyers, dessen Äste so weit in den Garten der Nitsches ragten, dass sie die Gemüsebeete dort verschatteten. Und am andern Ende des Tischs warf Rolf seinem Nachbarn Volker vor, dass er geborgtes Werkzeug nie ohne Aufforderung zurückbrachte. Nahezu alle Männer am Tisch stimmten dem lautstark zu und zogen nun einhellig über Volker her, einer nannte ihn gar „Schmarotzer“.
Martina zog ihre Strickjacke enger um ihren Körper, denn sie fror. In einem Elternhaus voller Zank und Streit aufgewachsen, war die Harmonie des Zusammenlebens in dieser Siedlung Balsam für ihre zerschrammte Seele gewesen. Immer war man hier freundlich zueinander und hilfsbereit sowieso. Zehn Jahre lang. Doch unter dem Einfluss von Eva und ihrem Wodka drohte alles zu zerbrechen.
Martina erhob sich.
„Leute, es ist schon spät und die Reden werden wirr. Lasst uns nach Hause gehen!“
Niemand aber schenkte ihr Beachtung. Im Gegenteil. Als Antwort auf ihre Aufforderung öffnete Eva noch eine Flasche Rotwein, füllte übermütig die Gläser, möglichst bis zum Rand, und brachte alle mit einem exotischen Trinkspruch zum Anstoßen, den sie am andern Ende der Welt aufgeschnappt haben mochte: „Le Chaim! Auf das Leben!“
„Genau! Das Leben ist nun mal so. Man muss die Probleme ansprechen, Volker. Tut mir leid“, lallte Rolf.
„Ja, endlich mal Klartext reden“, sagte Volkers Frau Britta.
Eine Pause entstand, die nicht enden wollte. Immerhin, dachte Martina beruhigt. So viele Probleme scheint es also gar nicht zu geben.
„Also wenn wir schon mal dabei sind“, meldete sich wieder Britta zu Wort. „Annette, ich muss dir was sagen. Dein Rote-Beete-Salat mit Käse, den du hier seit zehn Jahren zum Grillen auftischst… Der schmeckt einfach ekelhaft. Irgendwie modrig.“
Alle brachen in Jubel aus und bestätigten einander ausgelassen, wie widerlich dieser Salat schmeckte. Annette sah von einem zum andern Nachbarn und verstand ihre kleine Welt nicht mehr. Trotz der Dunkelheit erkannte Martina, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten.
„Und wieso wird die Schüssel dann immer alle, jedes Jahr?“, fragte sie leise.
„Weil wir halt alle so nett sind!“, nuschelte Volker und fing an zu lachen.
„Genau“, bestätigte Inge.
Das hemmungslose Gelächter, das die Runde erfasst hatte, klang längst nicht mehr heiter, sondern grausam wie das einer Horde Halbwüchsiger, die einem in ihrer Mitte aus Quatsch die Hose runtergezogen hatten und sich an dessen Elend ergötzten.
„Wie wär’s denn mal mit ’nem andern Salat? Mal was Neues ausprobieren?“, fragte Eva keck und zwinkerte Jörg verschwörerisch zu.
Der aber stand plötzlich auf, nahm seine Frau Annette an die Hand und zog sie energisch von der Bank hoch. Ohne ein Wort des Abschieds verschwanden die beiden in der Nacht.
„Gute Nacht“, riefen die Nachbarn ihnen nach.
„Mensch Jörg! Bleib doch noch!“, rief Eva so enttäuscht, als hätte jemand dem kleinen, verwöhnten Mädchen, das sie eben noch war, das Spielzeug geklaut.
Die Runde verstummte, alle schwiegen betreten. Einer nach dem andern erhob sich und ohne viele Worte wurde das Nötigste zusammengeräumt und weggeschafft. Grillsaucen, die in den Kühlschrank mussten, und vor allem Essensreste, die Ratten und andere Schädlinge anlocken würden.
Das Grillfest war zu Ende.
Am nächsten Morgen, noch bevor die Reste der Feier endgültig beseitigt waren, stand die Polizei vor Martinas Tür. Die Beamten waren ihrem telefonischen Hinweis gefolgt und hatten im nahegelegenen Flüsschen tatsächlich eine Tote gefunden. Den Anblick des blonden Haares, das wie Stroh auf der Wasseroberfläche schwamm, würde Martina in diesem Leben nicht mehr vergessen.
Mit knappen Gesten bat sie die Polizisten ins Haus.
„Ich fand sie heute früh beim Joggen. Das arme Kind! Muss wohl ertrunken sein.“
„Hatte die junge Frau irgendwelche Feinde, hier in der Siedlung vielleicht?“
„Wieso denn das?“, fragte Martina verwundert.
Insgeheim aber machte sie sich schwerste Vorwürfe, hatte sie das Drama doch kommen sehen. Es war so gegen Mitternacht, als sie von ihrem Schlafzimmerfenster aus beobachtet hatte, wie zwei dunkle Gestalten zurück an die fast leere Tafel schlichen, an der Eva nunmehr allein hockte und ins flackernde Windlicht starrte.
„Nun basteln Sie hier mal keine Verschwörungstheorie“, sagte Martina zu dem Polizisten. „Es ist doch tragisch genug. Die arme Eva hatte einfach zu viel getrunken. Die Obduktion wird das schon zeigen.“
Martina lächelte gelassen. Trotz des Zoffs am gestrigen Abend war sie sicher, dass alle in dieser Siedlung zusammenhalten und jeder sein Alibi bekommen würde.
Auch Annette und Jörg.