Читать книгу Meine allerbeste Feindin - Conny Schwarz - Страница 4

August

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1 Trotz der Hitze schlendre ich wie jeden Dienstag mit meinen Jungs über den Wochenmarkt unseres Viertels. Erschöpfte Verkäufer schwitzen unter den Planen ihrer Buden vor sich hin und wir schleichen schlapp an ihnen vorbei durch die pralle Sonne. Nur selten streift uns der Schatten eines Baumes wie eine angenehme, aber flüchtige Erinnerung.

Boris sitzt im Sportwagen, den ich mit meiner Rechten vor mir herschiebe, während sich Igor, an meiner Linken hängend, hinterherzerren lässt. Mit routiniertem Blick hangle ich mich an den Ständen entlang und taxiere das Obst und Gemüse. Die Gurken sind knackig und nicht einmal teuer, bei dieser Hitze aber bin ich einfach zu träge, einer einzigen Gurke wegen das Portemonnaie aus der Tasche zu kramen. Genervt schleppe ich mich weiter und blicke nach vorn.

Und plötzlich habe ich eine Erscheinung.

Vor dem letzten Stand, an dem fair gehandelter Kaffee aus Südamerika angeboten wird, entdecke ich ein vertrautes Gesicht. Große grüne Augen blicken stumpf unter braunem Zottelhaar hervor, die etwas eingefallenen Wangen sind blass, die Nasespitze aber weist keck nach oben.

Genau wie bei Billy.

Ein freudiger Schreck durchzuckt mein Herz wie ein elektrischer Schlag, so dass es zu rasen beginnt. Zugleich flutet heißes Glücksgefühl meinen bereits überhitzten Körper. Verwirrt starre ich auf diese Frau, gepeinigt von der ernüchternden Gewissheit, dass ich meinen Augen auf keinen Fall trauen darf.

Denn erstens lebt Billy in Kanada.

Zweitens ist es mir fast peinlich, meine Freundin mit dieser Frau verwechselt zu haben, die aussieht wie eine billige Kopie von ihr.

Drittens beruhigt mich daher, dass die müden Augen dieser Person, während sie ihren Kaffee aus dem braunen Pappbecher schlürft, einfach durch mich hindurchgucken, ohne dass auch nur ein Funken Wiedererkennen in ihnen aufblitzt.

Punkt drei aber muss ich leider wieder von der Liste streichen. Denn wie sollte mich Billy wiedererkennen?! Die Annett von damals existiert längst nicht mehr. Allein, dass ich ein Kleid trage, noch dazu ein farbenfrohes mit verspieltem Muster, würde Billy nicht glauben können. Dazu eine richtige Frisur mit freundlichen blonden Akzenten, bei deren Anblick sie sicher verzweifelt ihre braunen Zotteln schütteln würde. Und meine eleganten Stilettos würden die alte Freundin regelrecht schockieren.

Ja, ich bin eine Andere geworden und daher nicht leicht wiederzuerkennen. Nicht einmal für die allerbeste Freundin!

Deshalb überlege ich, ob ich diese Frau, die Billy so verdammt ähnlichsieht, nicht selbst ansprechen soll. Und sei es bloß, um die Gewissheit zu haben, dass sie es nicht ist. Während ich so aufgewühlt wie unschlüssig im Weg herumstehe, lutscht Boris zufrieden an seiner Waffeltüte, deren Inhalt, eine Kugel Schokoeis, er bereits ziemlich gleichmäßig auf Gesicht und Kinderwagen verteilt hat, und Igor bemüht sich gerade, mir ebenso eindringlich wie ausführlich zu erklären, wann und wieso wir welchen Spielplatz aufsuchen müssen.

Plötzlich wirft die mir so unheimlich vertraute Fremde ihren Pappbecher in den Müll und macht einen Schritt nach vorn. Im Nu wird sie von der Menge verschluckt, die sich trotz der Hitze unermüdlich zwischen den Ständen entlangwälzt. Abrupt reiße ich den Kinderwagen herum, so dass Boris seine Waffel aus der Hand fällt und er zu plärren beginnt, egal, ich zerre auch den protestierenden Igor hinter mir her und schieße mit der Kinderkarre in jede Lücke, die sich anbietet, um voranzukommen.

Ich muss unbedingt wissen, ob diese Frau Billy ist.

Mit den Kindern im Schlepptau werde ich sie jedoch nie einholen, stelle ich resigniert fest. Also bleibe ich stehen und schreie, so laut ich kann, „Billy!“ über den Markt, was so verzweifelt klingt, dass die Leute um mich herum stehenbleiben, um mir, mit besorgten Gesichtern, Platz zu machen. Sicher denken sie, mir wäre eins meiner Kinder abhandengekommen.

Billys bleiches Gesicht aber bleibt verschwunden. Also war es vermutlich doch bloß eine Täuschung. Eine irre Ähnlichkeit. Oder gar eine Halluzination.

Alles andere wäre auch absurd.

Meine alte Freundin Billy lebt schließlich in Kanada, und zwar seit mehr als zehn Jahren. So lange schon!, staune ich. Nach ihrer Auswanderung riss der Kontakt zu ihr ab, so schnell und leicht, als wäre unsere Freundschaft bloß eine bunte Papierschlange gewesen. Aber Billy musste sich halt in Kanada durchschlagen, was offenbar nicht so leicht war. Und ich lernte Bernd kennen, bekam die Kinder und lebte von nun an, obwohl ich meine Heimatstadt gar nicht verließ, ebenfalls in einer komplett anderen Welt. Bis wir uns schließlich, vor etwa drei Jahren, übers Internet wiederfanden. Seitdem sind wir auf Facebook miteinander befreundet, immerhin das, wo wir doch in unserm früheren Leben allerbeste Freundinnen waren. Unzertrennlich wie Hanni und Nanni, Thelma und Louise oder eben: Billy und Nette.

Ohne auch nur einen einzigen Apfel gekauft zu haben, verlasse ich den Wochenmarkt und strande mit den Kindern in einem beschaulichen Straßencafé in einer Nebenstraße. Wie in Trance bestelle ich mir einen Cappuccino und für die Jungs Apfelsaft und denke dabei zärtlich an Billy, meine Billy, am liebsten würde ich diesen Namen singen, so emotional klingt er für mich. Wie eine Ballade von Whitney Housten.

„Zeiten waren das!“, schwärme ich wie eine alte Oma, die erschöpft unter ihrer Daunendecke hervorlugt, dabei bin ich eine Mittdreißigerin, die mit beiden Beinen im Leben steht. Doch die Erinnerung an Billy reißt mich mit Gewalt aus der Gegenwart fort und spült mich zurück in die späte Kindheit. Ich bin kaum zehn Jahre älter als meine Jungs, die neben mir sitzen und sich nun die alten Geschichten von Billy anhören müssen. Sonst rede ich nie besonders viel von mir selbst, nun aber kann ich gar nicht damit aufhören. Erst ein versehentlicher Blick auf die Uhr bremst mich aus: Halb sieben schon! Rasch zahle ich und wir machen uns auf den Heimweg. Unterwegs verkünde ich, dass es heute Abend ausnahmsweise Pizza aus der Tiefkühltruhe gibt, ist doch kein Problem! Die Jungs sehen das genauso.

Gutgelaunt treffen wir drei gegen sieben zu Hause ein. Bernd sitzt bereits am Küchentisch, vor ihm das iPad mit den neuesten Nachrichten von n-tv. Fragend sieht er zu mir auf. Bevor ich irgendwas erkläre, fällt mir auf, dass er schon wieder dieses braungestreifte Hemd trägt, in dem er aussieht wie ein schmutziger Frischling, obwohl ich ihm heute Morgen das weiße Blanc-du-Nil-Hemd rausgelegt hatte. Wieso tut er das?

„Wo wart ihr denn so lange?“, will Bernd wissen.

Im Nu rutsche ich bis zum Scheitel zurück in den Alltag. Während ich behaupte, einfach nur die Zeit vergessen zu haben, schiebe ich bereits die Tiefkühlpizzen in den Ofen und decke zackig den Tisch. Danach leere ich die fertige Waschmaschine aus und gehe mit einem Korb voller duftender Wäsche hinaus in die milde Abendluft. Die Vögel zwitschern mir aus der Seele. Doch nicht mehr lange, dann wird die Dunkelheit sie verstummen lassen.

Obwohl der Himmel noch leidlich hell ist, schalte ich automatisch die vergitterte Außenleuchte an, um die Wäsche so ordentlich wie möglich unter dem kleinen Wellblechdach aufzuhängen. Während ich eine Klammer neben der anderen platziere und dabei sogar auf die passenden Farben achte, fällt mir plötzlich auf, wie sehr mein Leben aus Routine besteht.

Für meine Freundin Billy hingegen war das Leben immer ein Abenteuer. Was sich allerdings romantischer anhört, als es tatsächlich ist. Denn was hat sie nun davon, die Ärmste? Nichts als einen knochenharten Kellnerjob in einem abgelegenen kanadischen Kaff in den Bergen. Weder Kinder noch einen Freund, schon gar kein Wohneigentum. Nicht einmal urbanes Leben um sich herum.

Meine Bilanz hingegen sieht anders aus: Ich habe zwei reizende Kinder, einen liebenswerten Ehemann und ein charmantes, fast abbezahltes altes Häuschen mitten in der Stadt. Und nicht in irgendeiner, sondern in Berlin. Und außerdem habe ich, was ebenfalls nicht zu unterschätzen ist, jede Menge gute Laune. Viel Routine auch, das gebe ich zu – aber was für welche!

Zurück im Haus räume ich noch ein wenig die Küche auf und wische die Spüle blank. Obwohl sich mein Alltag aus unzähligen solcher eintönigen Handgriffe zusammensetzt, gefällt mir mein Leben prima. So gut, dass ich Bernd, als er an mir vorbei in den Flur huschen möchte, spontan einfange, um ihn zu umarmen.

„Gibt es etwas zu reparieren?“, fragt er mich belustigt.

Ich schüttle den Kopf und drücke ihn ganz fest an mich.

„Alles heil!“, antworte ich und blicke zu seinen grauen Augen auf. Das tue ich gern, aber es geht schließlich auch nicht anders, denn Bernd ist ziemlich groß. Vielleicht etwas zu stattlich. Der Gute könnte ruhig ein wenig Sport treiben, wie andere Männer seines Alters. An seinem nächsten Geburtstag bekommt er von mir ein Abo fürs Fitnesscenter geschenkt, beschließe ich eiskalt, während ich ein harmloses Lächeln zu ihm hinaufschicke.

Das Klingeln des Telefons erschreckt mich so, dass ich abrupt vom Körper meines Mannes abfalle, als wären wir bei etwas Ungehörigem ertappt worden. Nach dem seltsamen Erlebnis vom Markt habe ich sofort einen Verdacht, den ich jedoch im selben Moment verwerfe. Trotzdem eile ich mit klopfendem Herzen ins Wohnzimmer ans Telefon, drücke auf den grünen Knopf und melde mich mit einem routinierten „Lehmann?“

Die Mutter von Max ist am Apparat. Igor hat seine Star-Wars-Karten bei ihnen liegenlassen, wollte sie bloß Bescheid sagen, falls er die vermisst. „Nicht, dass die Welt untergeht“, sagt Max‘ Mutter lachend und ich stimme mit ein.

Als der Käse goldbraun zerlaufen ist, hole ich die Pizzen aus dem Herd, zerschneide sie vorsichtig, damit die Funghi- und Spinaci-Beläge hübsch oben bleiben, und schichte die Stücken so ordentlich wie liebevoll auf eine ovale silberne Platte, von der sich nun alle am Tisch nach Herzenslust bedienen können.

Zufrieden schaue ich meiner Familie beim Essen zu, in Gedanken aber bin ich längst auf Facebook. Gleich nach dem Abendessen werde ich nachsehen, ob meine Freundin etwas über ihre Heimkehr gepostet hat.

Billy hier in Berlin. Das wär‘ ja was!

2 Dienstag, Mittwoch, Donnerstag. Die Tage ähneln einander oft so exakt, dass man sie mit schimmernden Perlen auf einer teuren Kette vergleichen könnte. Perfekt identisch, schön und wertvoll. Auf Dauer aber vielleicht doch ein wenig langweilig. Im Moment bin ich also am Basteln, suche nach neuen Perlen, die ich in diese Kette einfügen könnte. Ob sie aus farbigem Plastik, dunklem Holz oder gar aus Edelstein sein werden – keine Ahnung.

Jedenfalls will diese Ariane mir eine Chance geben. Ariane Mosch ist die Chefin einer neuen Sprachschule hier im Kiez, eines sogenannten Start-up-Unternehmens. Vor zehn Minuten rief sie an, um mir mitzuteilen, dass sie es sich „gut vorstellen“ könne, mich probeweise als Sekretärin einzustellen. Gelassen nahm ich ihre Worte auf, um danach einen wilden Cha Cha durchs Wohnzimmer zu tanzen und nun, da ich unbedingt jemandem etwas Gutes tun muss, sämtliche Grünpflanzen im Haus mit einer extra Portion Dünger zu beglücken.

Als ich gerade die Phönixpalme im Wohnzimmer gieße, klingelt das Telefon erneut. Vor Schreck schwappt mir ein Spritzer zu viel in den Blumentopf, so dass ich im Regal eine riesige Sauerei anrichte. Wasser rinnt und tropft nach unten, Bücher und Ordner werden feucht – Katastrophe! Hektisch wische und tupfe ich mit einem Lappen auf dem Regal herum und befürchte dabei, dass diese Ariane sich vertan hat und ihr Angebot zurücknehmen will. Hat sie mich vielleicht mit einer anderen Bewerberin verwechselt? Das Telefonklingeln dauert an und macht mich nervös.

Einen Moment überlege ich, ob es nicht schlauer wäre, gar nicht erst an den Apparat zu gehen. Rasch aber sehe ich ein, dass dieser blöde Verdacht, einmal in der Welt, meine Freude auf den neuen Job nachhaltig trüben würde. Also schmeiße ich den Lappen auf den Boden und gehe tapfer, wenn auch unwillig, ans Telefon und melde mich komplett unaufgeregt, superprofessionell und sachlich. Falls es nämlich diese Ariane mit ihrer Absage ist, soll es ihr noch leidtun, mich nicht genommen zu haben.

Holy shit, ist das crazy!

Die Stimme aus dem Telefon schießt mir komplett das Hirn weg. Sie klingt noch krächzender, aber genauso fröhlich. Wie damals. Vor vielen Jahren. Vor genau sechzehn, wie ich noch am Dienstagabend im Bett ausgerechnet habe.

„Mensch Billy, sechzehn Jahre ist das jetzt her!“

Crazy, crazy“, ruft Billy wieder und erzählt mir aufgeregt, wie sie vergeblich vor dem Haus in der Gürtelstraße gestanden hatte, in der ich damals mit meiner Mutter wohnte, und wie sie dann, eher aus Verzweiflung als mit der Hoffnung auf Erfolg, einfach die alte Telefonnummer ausprobierte, die früher zu jener Wohnung gehörte, in der nun eine Familie Bauer lebt. Und diese Nummer, von ihr mindestens tausendmal gewählt, um mit mir über blöde Lehrer oder die letzte Fete zu quatschen, hatte ich beim Umzug hier ins Haus mitgenommen.

Als wäre es von Belang, frage ich Billy, warum sie ihre Rückkehr denn nicht auf Facebook gepostet hat, wo ich an jenem Abend vor drei Tagen, nach jener unheimlichen Begegnung auf dem Markt, extra nachgeschaut hatte, um zu erfahren, ob sie nun tatsächlich in der in der Stadt ist oder nicht.

Billy aber lacht nur. Ihre Abreise aus Kanada wäre total spontan erfolgt, erklärt sie und tut dabei so verwundert, als hätte sie irgendeine Naturgewalt ins Flugzeug gejagt und hierher verfrachtet. Außerdem seien in dem Hostel, in dem sie übernachtet, die wenigen Plätze an den Computern dauernd besetzt. Und überhaupt bräuchten nicht alle Leute zu wissen, wo sie sich gerade aufhalte.

Wie zwei Teenager plappern Billy und ich um die Wette, oft sogar gleichzeitig, so aufgeregt sind wir. Von Billys Kellnerjob kommen wir über sieben Ecken auf René, den Klassenclown, zu sprechen, hüpfen wieder zurück nach Kanada, in die Berge und die herrliche Natur dort oben, dann muss ich von den Geburten meiner Kinder erzählen, wir reden über Männer und Ambitionen – Billy will sich als Fotografin versuchen – und sogar über Schokopudding. Erst als wir bei Oma Herthas Streuselkuchen angelangt sind, wird Billy einsilbig. Und mir brummt der Schädel. Nach nur einer halben Stunde am Telefon fühlt sich mein Hirn so durchgequirlt an, als wäre es in den Mixer gefallen. So dass ich mich verabschieden und auflegen muss.

„Wir sehen uns!“, wiederhole ich meine letzten Worte noch einmal, dann wanke ich benommen durch den Flur, der mir mit seinen hellen Kiefernholzmöbeln plötzlich übertrieben optimistisch vorkommt und lande in meiner viel zu sauber gewienerten Küche. Meine Knie zittern, so dass ich mich hinsetzen muss. Um zu staunen.

Am Abend sitze ich noch immer so verwundert da, obwohl ich zwischendurch die Jungs abgeholt, eingekauft und sogar gekocht haben muss, steht doch auf dem Tisch eine große Schüssel mit dampfenden Ossi-Nudeln, also Makkaroni plus Tomatensoße mit Jagdwurstschnipseln.

Endlich nehme ich auch Bernd wahr, der tiefe Teller auf den Tisch stellt und dabei von seinem Tag berichtet. Wieder geht es um seinen blöden Chef Peter, der ihn triezt und dem er nichts recht machen kann. Und so weiter. Immer dasselbe. Jeden Tag.

Heute aber werde ich ungeduldig. Bernd könnte doch auch mal fragen, was ich so erlebt habe! Meistens dasselbe, klar, aber eben nicht immer. Mit jedem weiteren Wort über den fiesen Chef steigt mein Blutdruck um geschätzte zwei Punkte an. Ein weiterer Satz über Peter, und mir droht ein Schlaganfall.

Spontan greife ich nach der Gabel, die Bernd mir eben hingelegt hat, und lasse sie, wie aus Versehen, scheppernd auf den leeren Teller fallen. Irritiert sieht Bernd zu mir herab und verstummt.

„Billy ist da“, sage ich laut. Doch die Fröhlichkeit, mit der ich meine Stimme schmücken möchte, klingt aufgesetzt. Vermutlich bin ich noch immer wütend über dieses ewige Gelaber über den Chef. Bernd guckt mich einigermaßen ratlos an, reibt sich verlegen sein Kinn und fragt vorsichtig: „Welcher Billy?“

Entgeistert starre ich meinen Mann an. Wie einen Fremden, der sich seelenruhig in der Nase bohrt. Natürlich kennt er meine Freundin Billy nicht persönlich, wohl aber weiß er von ihr aus meinen Erzählungen, die mindestens so zahlreich und ausufernd waren wie die über seinen Chef, nur bekömmlicher dosiert, nämlich verteilt über Jahre. Sofern Bernd also über ein Gedächtnis verfügt und mir auch nur einmal zugehört hat, müsste er sich erinnern.

„Sybille Waschinski, meine beste Freundin.“

„Ach die“, fällt Bernd nun angeblich wieder ein. „Wo ist sie denn?“

Genervt verdrehe ich die Augen. Das ist doch jetzt völlig egal. Hauptsache zurück in der Heimat, hier in Berlin, in Reichweite also! Zerknirscht gebe ich es auf, mit Bernd einen dramatischen Moment inszenieren zu wollen. Dieser Mann hat eben kein Feeling dafür. Nicht umsonst ist er Versicherungsvertreter und nicht Theaterregisseur wie beispielsweise der Vater von Igors Klassenkameradin Karla, der mich bestimmt verstanden und bühnenreif mitgespielt hätte.

„Nein!“, hätte er gerufen auf meine Ankündigung, dass wieder Billy im Lande sei.

„Doch!“, hätte ich daraufhin gejubelt.

So ungefähr hatte ich mir das vorgestellt. Aber egal.

„Billy ist da!“, verkünde ich wenig später während des Essens meinen Jungs, die genüsslich schmatzend die roten Nudeln in sich hineinsaugen. Und siehe da, die beiden lassen mich nicht im Stich.

„Ist das die Billy mit der Coladusche? Die ihre Mäuse in die Schule mitgenommen hat, um die Lehrerin zu erschrecken?“, nuschelt Igor aufgeregt mit vollem Mund und ich nicke lachend. Und sogar Boris, der meine Billy-Geschichten noch gar nicht kapiert haben kann, strahlt über beide Pausbäckchen. Meine Jungs tun so, als würden sie Billy schon ewig kennen. Gerührt blicke ich von einem zum andern, während ich es selbst noch gar nicht fassen kann.

„Billy ist da“, sage ich daher noch einmal laut und deutlich zu mir selbst, während ich die rot verschmadderten Teller in den Geschirrspüler räume.

Und morgen um elf bin ich mit ihr verabredet.

Nach all den sechzehn Jahren.

3 Vor mir steht eine Frau im besten Alter und lächelt mich an. Sie ist blond bis in die Haarspitzen und passt in Kleidergröße 38. Ab September wird sie wieder arbeiten. Befristet auf ein halbes Jahr zunächst, aber immerhin. Ihr Busen schwillt an vor lauter Stolz und das macht sie zudem noch very sexy.

Als ich jedoch übermütig einen Schritt nähertrete, verändert sich die Frau in der Spiegeltür. Ihr Gesicht wirkt nicht mehr frisch, sondern aufgedunsen und schlaff zugleich. Zarte Krähenfüße zieren die vor Müdigkeit geröteten Augen. Ein dunkles Borstenhaar sprießt über der Oberlippe, gleich daneben glänzt ein zartrosa Pickel. Sofort verdorrt das frische Lächeln zu einer traurigen Grimasse.

Schnell mache ich wieder einen Schritt zurück und lächle mir aus der Ferne tapfer zu. Was habe ich denn erwartet? Hinter mir liegt nicht nur die aufreibende Morgenroutine aus Wecken, Anziehen, Frühstück, Kita- und Schulweg, sondern außerdem eine schlaflose Nacht mit Juckreiz am ganzen Körper, als hätte ich in einem Heuschober geschlafen. Und vor mir wartet, überlegen grinsend, die fieseste aller Fragen: Was ziehe ich bloß an?

Dabei ist mein gut sortierter Kleiderschrank mein ganzer Stolz. Und meine Hoffnung. Hektisch schiebe ich die Kleider von rechts nach links und beäuge sie kritisch. Meine Klamotten sind längst nicht mehr schwarz und billig, sondern von lebensfroher Farbenpracht, sortiert nach dem Regenbogen. Und alle Größe 38, erwähnte ich das schon?

Während ich die Kleider in meinem Schrank durchblättere wie ein Urlaubsalbum, bemerke ich, dass, genau wie bei Fotos, in jedem einzelnen mindestens eine schöne Erinnerung steckt. Das Mintgrüne erinnert an den dritten Hochzeitstag, den wir auf einem alten Jazzdampfer auf der Spree feierten. Das Capriblaue trug ich während des letzten Sardinienurlaubs fast jeden schönen Abend. Und in dem Lachsfarbenen mit den braunen Ethnoschnörkeln überstand ich dieses chaotische Sommerfest, mit dem meine Mutter ihr neues Zuhause am Rande von Herzberg, Südbrandenburg, einweihte. Mit Westerneintopf aus der Dose, zu wenigen Sitzgelegenheiten und natürlich, trotz des angekündigten Platzregens, ohne Partyzelt, so dass sich die Gäste in Küche, Wohnstube und sogar im Schlafzimmer des kleinen Hauses drängeln mussten …

Ein flüchtiger Blick auf die Uhr schreckt mich auf: Es ist schon nach zehn! Und ich stehe noch immer wie paralysiert vor meinem prall gefüllten Schrank. Nervös machen sich meine Hände erneut auf die Suche. Die meisten Kleider aber sind zu exquisit, auf keinen Fall möchte ich Billy durch mein Äußeres einschüchtern. Andere wiederum sind nicht modern genug. Das türkisfarbene Kleid hat leider einen kleinen, wenn auch kaum sichtbaren Fleck am Ärmel, das rote spannt ein wenig um die Hüften. Trotzdem kommt für einen so feierlichen Tag wie den heutigen auf keinen Fall eine Jeans in Frage.

Wie aufgeregt ich bin! Schlimmer als vor dem Bewerbungsgespräch bei Start-up-Ariane. Der Mund trocken wie Zwieback, die Hände flattrig wie ängstliche Vögelchen und mein Magen tobt, als hätte er einen Wutanfall. Alles völlig logisch, versuche rede ich mir einzureden. Denn abgesehen vom Urlaub an der Ostsee und dem Vorstellungsgespräch bei Ariane ist doch seit Monaten in meinem Leben nichts Spannenderes passiert als höchstens mal eine Elternversammlung oder ein Grillabend mit Nachbarn. Den dramatischen Höhepunkt bildete das Einsetzen der neuen Fenster im Frühjahr.

Und nun steht mir etwas derart Aufregendes bevor: Ein Wiedersehen nach sechzehn Jahren, noch dazu mit der besten Freundin. Ein geradezu historischer Moment also, der rundum stimmen sollte. Bei dem jedoch, angefangen bei der Kleiderwahl, so gut wie alles schiefgehen kann.

Schließlich wäre es doch eine Illusion zu glauben, dass Billy und ich noch dieselben sind. Nach so langer Zeit. Charakterlich zum Beispiel bin ich ziemlich gereift, sozusagen erwachsen geworden. So was passiert einem zwangsläufig, wenn man Kinder hat.

Doch leider bin ich nicht nur seelisch gereift, sondern auch körperlich. Seit wir uns das letzte Mal gesehen haben, haben Billy und ich beträchtliche sechzehn Jahre zugelegt. Und da das Aussehen der anderen exakt das eigene Alter wiederspiegelt, könnte dieses Aufeinandertreffen äußerst peinlich werden. Statt uns schrecklich zu freuen bei dieser ersten Begegnung nach so langer Zeit, könnte es passieren, dass wir uns furchtbar erschrecken. Vielleicht so sehr, dass wir unser Entsetzen über das Aussehen der anderen gar nicht schnell genug verbergen können.

Ein schickes Kleid aber könnte helfen, in dieser ersten, alles entscheidenden Sekunde von den Spuren der Zeit abzulenken. Also durchwühle ich weiter mechanisch meinen Schrank, obwohl ich weiß, dass ich mir mit der Wahl meiner Garderobe unverhältnismäßig viel mehr Mühe gebe, als es Billy ihrerseits tun wird, die in dieser Hinsicht ziemlich unbedarft ist und nicht mal einen Bruchteil der Zeit dafür verschwenden wird. Nicht, dass sie gar keinen Stil hätte. Doch in Bezug auf ihre Kleidung verhielt sie sich früher eben wie sonst auch in ihrem Leben: Extrem unbekümmert, wenn man das mal positiv formulieren möchte.

Resigniert knalle ich die Schranktüren zu, werfe mich aufs Bett und schließe die Augen. Plötzlich sehe ich zwei aufgedonnerte Teenager mit viel zu dicken Kajalstrichen um die Augen und viel zu auffälligen Ohrringen, die mit einem viel zu großen Kassettenrecorder über den Alex schlendern und dabei viel zu laut David Bowie hören, viel zu viele Zigaretten rauchen und sich viel zu oft von viel zu blöden Typen anquatschen lassen.

Gerührt wische ich mir eine kleine Träne aus dem Augenwinkel.

4 Holy shit, siehst du toll aus!“

Anerkennende Blicke aus basilikumfarbenen Augen wandern an mir auf und ab und wickeln mich in einen geschmeidigen Kokon aus Bewunderung, der den Aufruhr in meinem Innersten endlich erstickt.

„Wie diese Schauspielerin! Fuck, what’s her name? Scarlet Johannson!“

Scarlett Johannson. Hat sich der Stress vor dem Kleiderschrank also gelohnt. In meiner Verzweiflung habe ich in letzter Sekunde nach dem enganliegenden, knallroten Benettonkleid wie nach einem Rettungsanker gegriffen. Und dieses Manöver scheint also geglückt.

Nun aber ist es an mir, Billys Kompliment adäquat zu beantworten. Doch nach so einer charmanten Begrüßung bin ich geradezu zum Lügen verdammt. Denn Billy sieht, ehrlich gesagt, nicht besonders frisch aus. Jedes einzelne Jahr, das wir uns nicht gesehen haben, hat Spuren in ihr Gesicht gegerbt, die zu verwischen sie sich offenbar überhaupt keine Mühe macht.

Vor mir steht tatsächlich diese tragische Frau vom Wochenmarkt: Ältlich, blass und zerrupft. Abgewetzte Jeans und dunkelblaues, verwaschenes T-Shirt, beides mindestens Größe 44. Um den Hals ein speckiges Lederband mit einem kleinen Kieselstein, eingefasst in Draht. Vermutlich was Indianisches mit Hintersinn oder einfach Made in China. Regelrecht verschlissen sieht Billy aus. Bis auf ihre Augen, die so grün leuchten wie immer, richtige Bio-Augen. Genau das wird mein Stichwort.

„Du siehst aber auch klasse aus. So gesund! Das ist sicher die gute Luft in den kanadischen Bergen“, höre ich mich staunen und lächle dazu nett.

Rubbish“, schmettert Billy mein Kompliment ab und schickt ihr drollig gurgelndes Lachen hinterher, das sich anhört wie eine übermäßig sprudelnde Klospülung – ein angenehmerer Vergleich fällt mir auf die Schnelle leider nicht ein. Dieses Lachen, das ich komplett vergessen hatte, lässt mich schwindelig werden. Denn es klingt original wie damals, als wir Teenager waren, und will so gar nicht zu dieser überreifen Frau passen.

„Wie geht es dir?“

Wer von uns beiden diese blöde Frage wohl zuerst gestellt haben mag? Plötzlich steht sie jedenfalls zwischen uns, und da wir sie weder beiseiteschieben noch so nebenbei in einem Satz beantworten können, breitet sich ein peinliches Schweigen um uns aus, als stünden wir beide plötzlich nackt voreinander und musterten gnadenlos kritisch die sämtlichen Problemzonen unseres Gegenübers, Bauch, Busen, Beine, und so weiter.

„Wie wär’s mit Kaffee?“, frage ich aufgekratzt, um diesen unheimlichen Bann zu brechen.

Billy hakt sich fröhlich bei mir ein und ich führe sie zielsicher in ein kleines Café. Mit jedem Schritt, den wir gemeinsam vorwärtsgehen, scheint die Zeit rückwärts zu laufen. Im Nu schmelzen Monate und Jahre dahin, und als wir uns schließlich an einem kleinen Holztisch gegenübersitzen, Billy und ich, grinsen wir uns an wie verliebte Äffchen.

Oder eben wie beste Freundinnen.

Weißt du noch dies, weißt du noch jenes?, fragen wir uns gegenseitig ab und staunen darüber, wie jung wir damals waren! Wie cool und albern zugleich! Die Welt lag uns zu Füßen und wir trampelten so vergnügt auf ihr herum, als gäbe es kein Morgen.

Was sich schließlich als ziemlicher Irrtum herausstellte. Kräftig ziehe ich die Schultern nach hinten, richte mich auf und fixiere den stattlichen Baum an der Straße, vermutlich eine Linde, als könne er ein verlässlicher Anker sein, der mich in der Gegenwart festhält, wenn all die Erinnerungen angeschwemmt kommen und mich zu überfluten drohen.

Billy scheinen ähnliche Gedanken zu peinigen. Sie guckt noch melancholischer, als ich mich fühle. Vermutlich trauert sie ebenfalls unserer Jugend nach. Plötzlich verschwimmt das Grün in Billys Augen und dicke Tränen tropfen auf ihr altes Shirt. Verwirrt über diesen plötzlichen Ausbruch von Schwermut, den ich so gar nicht von ihr kenne, streiche ich mit meiner Rechten unbeholfen über ihren speckigen Oberarm und werfe ihr dabei einen verständnisvollen Blick zu.

Gleichzeitig aber finde ich ihr Verhalten ein wenig exaltiert. So schlimm, dass man darüber verzweifeln müsste, ist unser jetziges Alter nun auch nicht. Enttäuschung macht sich bei mir breit über dieses Wiedersehen, das ich mir lustiger vorgestellt hatte. Da höre ich Billy leise sagen: „Meine Oma ist gestorben.“

Im Nu verfliegt die Enttäuschung. Und bei all meinem abgrundtief empfundenen Mitleid bin ich, ehrlich gesagt, zugleich erleichtert darüber, dass es einen triftigen Grund für Billys desolaten Gemütszustand gibt.

„Oma Hertha?!“

Billy nickt tapfer. Und ich sehe die kleine, runde Oma vor mir, die meine Freundin quasi aufgezogen hat, mit ihrer dunkelblauen Schürze und den zarten braunen Haarnetzen auf den weißen Locken, eine Großmutter wie aus einem liebevoll illustrierten Kinderbuch. Vor wenigen Tagen war sie, recht plötzlich, an einer nur mittelschweren Lungenentzündung verstorben. Und gestern war die Beerdigung. Unwillkürlich legen wir eine Schweigeminute für Oma Hertha ein.

„Wie geht’s eigentlich deiner Mutter?“, erkundigt sich Billy und ihr trauriges Lächeln bohrt sich wie ein Messer in meine Eingeweide, so dass mir kurz der Atem stockt.

„Gut“, antworte ich wahrheitsgemäß, aber knapp, und verschweige nicht, dass meine Mutter es manchmal im Rücken hat, zuweilen auch in den Knien. Angesichts von Billys toter Oma kann ich meine Mutter unmöglich allzu quicklebendig präsentieren. Außerdem jammert sie tatsächlich hin und wieder über Schmerzen oder dies und jenes. Mehr als früher jedenfalls.

Billy hört interessiert zu und nickt. Obwohl sie zuallererst wegen Oma Herthas Beerdigung nach Berlin zurückgekehrt ist, will sie nun, da sie schon mal hier ist, alle möglichen Leute wiedersehen. Sofort frage ich mich, ob dieser Vorsatz auch für ihre eigene Mutter gilt. Doch dann fällt mir ein, dass sich die beiden, als Tochter und Enkelin von Hertha, bereits auf deren Beerdigung über den Weg gelaufen sein müssten.

„Dass ich so spontan aus Kanada wegmusste, war aber auch – wie sagt man? It just suits me eben“, erklärt mir Billy und schmunzelt. „Denn da war noch die blöde Story mit diesem boy.“

Neugierig reiße ich meine Augenbrauen bis zum Anschlag hoch und erfahre, dass der boy, zunächst eine harmlose Affäre, immer aufdringlicher wurde, so dass Billy vor seinen Liebesbezeugungen flüchtete, als wären es Prankenhiebe eines Grizzlybären. Job hingeschmissen, Wohnung gekündigt, alles aufgegeben, um „erstmal“ einen längeren „Zwischenstopp“ in der alten Heimat einzulegen. Natürlich ohne jede Ahnung, wie die Reise danach weitergehen soll.

Verständnisvoll nicke ich meiner Freundin zu, dabei verstehe ich überhaupt nichts. Diese Frau steht mal wieder direkt vor dem absoluten Gar Nichts – und lacht! Fährt sich mit der Hand kokett durch die glanzlosen Zotteln und zuckt ratlos mit ihren Möbelpackerschultern. Genau wie früher in der Schule, als niemand ihr je böse sein konnte, egal was sie wieder verzapft hatte.

„Und nun?“, erkundige ich mich neugierig.

Now I’m here!“, ruft Billy, lässt ihr wieder Lachen gurgeln und breitet dabei die Hände aus, als würde sie sich selbst als Resultat einer gelungenen Zaubernummer präsentieren.

Da ist sie, Billy, das Original. Meine alte Freundin.

Gerührt beuge ich mich über den Tisch und in einem Anfall von Was-auch-immer umarme ich Billy. Sie riecht nach exotischen Nadelhölzern, nach Kanada eben. Der Geruch der großen weiten Welt. Einer Welt, auf der es so ungerecht zugeht! Die einen haben alles, was sie sich nur wünschen, andere hingegen: Nichts. Ich spüre, wie eine vereinzelte Träne, einem schillernden kleinen Mistkäfer gleich, über mein Makeup krabbelt.

„Und nun?“, frage ich erneut nach, nachdem meine Arme Billy wieder freigegeben haben, noch immer fassungslos, wie man so völlig ohne Plan leben kann. Und bekomme eine Antwort, wie ich sie von Billy nicht anders erwartet habe: „No idea.“

Nun, vielleicht hätte ich eine. Gerade kommt mir nämlich eine ziemlich verrückte Idee, die ich vorerst jedoch schön für mich behalte. Denn ganz geheuer ist sie mir selbst nicht.

Wieder lächeln wir einander zu, über die weißen Kaffeetassen hinweg, in denen inzwischen nur noch weißbraune Schaumreste am Boden kleben. Diese Leere erinnert mich an Billys prekäre Situation. Unwillkürlich krame ich mein Portemonnaie aus der Tasche, hole zwei Fünfziger heraus und reiche sie mit einem auffordernden Blick über den Tisch. Denn natürlich braucht Billy Geld. Alles andere würde mich wundern.

Meine Freundin aber ziert sich, die beiden Scheine anzunehmen, und zwar derart, als würde sie das Geld bei mir persönlich abarbeiten müssen, das Haus von oben bis unten putzen oder beide Autos waschen. Wie albern von ihr! Wenn sie Probleme damit hat, das Geld als Geschenk anzunehmen, kann sie es mir schließlich später zurückgeben. Ist doch kein Problem. Und das sage ich ihr auch. Eindringlich. Billy aber schüttelt noch immer stur ihren Dickschädel, während ich derweil ziemlich albern die beiden Geldscheine in der Luft halte und mein rechter Arm allmählich schlappmacht. Jetzt reicht’s mir aber. Ungeduldig mache Billy klar, dass sie das Geld nehmen muss. Schließlich sei ich ihre Freundin. Sie solle damit, verdammt nochmal, shoppen gehen oder sonstwas machen, sich einfach mal was gönnen!

Endlich erbarmt sich Billy und nimmt mir gnädigerweise nach einer gefühlten Ewigkeit mit viel Schmoll im Gesicht die hundert Euro ab. Sagt dazu aber gleich, dass sie „this pretty penny“ nicht beim Shoppen verplempern, sondern lieber mit mir in einer Cocktailbar vertrinken will. Ganz die Mutter!, denke ich spontan, ein wenig besorgt. Und obwohl diese Art der Verwendung nun wirklich nicht Sinn und Zweck meiner Großzügigkeit war, hat Billys Vorschlag durchaus einen Charme, dem ich mich nicht entziehen kann. Und gar nicht möchte.

Why not?“, frage ich unternehmungslustig und rufe sogleich Bernd an, um ihn darüber zu informieren, dass es heute später wird. „Vermutlich sehr spät!“, ergänze ich vergnügt, denn ein solcher Anruf ist für mich eine absolute Premiere. Endlich kommt so eine Ansage – Sorry, Darling, es wird heute später! – mal von mir. Nicht immer nur von ihm.

Bernd schweigt zunächst, als hätte er den Hörer verschluckt. Zumindest also findet er nichts Konkretes dagegen einzuwenden. Doch sogar durchs Telefon hindurch spüre ich deutlich, wie mein Mann damit hadert, dass er die Kinder abholen, ihnen Abendbrot machen und sie allein zu Bett bringen soll. Damit er ein gewisses Verständnis dafür aufbringt, dass ich meine Freundin heute nicht allein lassen möchte, erwähne ich den Tod von Billys Oma. Und ärgere mich zugleich, dass ich derart schwere Geschütze wie einen Todesfall auffahren muss, um meinem Mann spontan einen freien Abend abzutrotzen.

Dafür aber will ich diesen nun richtig genießen.

„Okay“, sage ich und gucke Billy verwegen an. „Lass uns Cocktails trinken, auf die guten alten Zeiten!“

Wir stoßen die Köpfe sanft gegeneinander, was für uns sowas war wie heutzutage die Ghettofaust. Dann stehen wir auf und gehen. Einfach so. Ohne was zu sagen. Und ohne zu bezahlen.

Genau wie früher.

5 Dieses intensive Kribbeln im Bauch, als wir mit flotten Schritten die Straße hinunterlaufen, fühlt sich fantastisch an. Mental sind wir etliche Jahre jünger als die etwa zwanzigjährige Kellnerin, die uns wütend hinterherrennt und bald einholt. Kichernd entschuldigen wir uns, bezahlen selbstverständlich umgehend die beiden Tassen Kaffee und begründen unsere vermeintliche Zerstreutheit wortreich damit, dass wir, zwei alte Freundinnen, uns fast hundert Jahre nicht gesehen hätten.

Die Kellnerin freut sich mit uns und heuchelt Verständnis.

„Auf geht’s“, sage ich und hake Billy unter. In der warmen Nachmittagssonne schlendern wir staunend, als wären wir selbst Touristen, kreuz und quer durch unsere Heimatstadt. Scherzen mit den Pennern vom Helmholtzplatz, schauen der U-Bahn nach, die über unsere Köpfe hinweg die Schönhauser Allee entlangsaust, schlendern an den hippen Geschäften der Kastanienallee entlang bis zum Rosenthaler Platz und weiter bis zum Hackeschen Markt.

An der Seite meiner Freundin sehe ich die Stadt mit ganz neuen Augen. Billy, die so viele Jahre nicht hier war, erfreut sich an jedem Detail wie ein kleines Kind an allem, was bunt oder süß ist. Bestaunt die luxussanierten Häuser ebenso wie jene grauen, die noch Narben aus dem letzten Weltkrieg vorweisen können. Ergötzt sich an den abgezäunten Beeten unter Bäumen. Und freut sich über Touristen, Bettler, Akkordeonspieler, Motzverkäufer, nervige Kinder, Hunde jeder Art, quasi über jedes Lebewesen, das unseren Weg kreuzt. Was muss es einsam gewesen sein in Kanada!

Zunächst amüsiere ich mich über Billys Eifer bei der Stadterkundung, doch wie immer ist ihre Begeisterung ansteckend, so dass ich mich bald ebenfalls ertappe, wie ich meinen Zeigefinger ausfahre und „Look at this!“ rufe, wenn ich einen witzigen Laden entdecke, einen besonders irren Typen oder eine rätselhafte Botschaft an einer Hauswand.

Im Monbijoupark gönnen wir uns eine Pause, lassen uns erschöpft ins Gras fallen, auf einem kleinen Hang an der Spree, mit Blick auf die Museumsinsel und die S-Bahn, die alle paar Minuten oben zwischen den Häusern auftaucht und weiter in Richtung Alex saust. Als nähmen wir eine Parade ab, lassen wir die Schiffe auf der Spree an uns vorbeiziehen und teilen deren Kapitäne zwischen uns auf. In der Hoffnung, echte Kerle zu treffen wie in ihrem geliebten Kanada, bevorzugt Billy die Seemänner der vereinzelten langen Lastkähne, während ich die Kapitäne der Stadtrundfahrtschiffe lieber mag, die witzig sind oder sich zumindest Mühe geben. Diese eingebildeten Typen auf den Yachten aber verschmähen wir, denn die leiden an Herpes.

Der Tag schmilzt dahin wie Sahneeis in der Sonne. Als die untergegangen ist, schlendern wir die sanft beleuchteten Straßen entlang Richtung Westen. Der Mauer entgegen. Jetzt oder nie, denken wir verschwörerisch. Doch als wir an die Bernauer Straße kommen, können wir keine Mauer mehr finden!

„Die Mauer ist weg!“, jubeln wir ehrlichen Herzens, fast so laut wie vor über zwanzig Jahren, fallen uns dabei in die Arme und hüpfen vor lauter Glück wie kleine Kinder auf der Stelle herum. Eine Gruppe asiatischer Touristen, die vor beleuchteten Infotafeln mit alten Schwarzweißaufnahmen steht, beobachtet uns verstört. Nur Einige lächeln verständnisvoll.

Ohne Worte verlieren zu müssen, fassen Billy und ich uns an den Händen und rennen bei Rot über die Bernauer Straße. Wir kommen heil drüben im Westen an und rufen laut „hurra“. Doch als die Ampel grün wird, geht’s gleich wieder zurück in den Osten. Dort finden wir endlich, keine hundert Meter weiter, eine schummrige Bar mit plüschigem Wohnzimmerambiente aus alten Sofas, zerschrammten Tischen und protzigen Leuchtern.

Holy shit!“ ruft Billy begeistert in den verrauchten Laden hinein.

Erschöpft versinken wir in einem bizarr gemusterten Sofa. Bei einer lieblos gemixten Pina Colada tauschen wir Erinnerungen an Oma Hertha aus wie kitschige Lackbilder und versichern uns gegenseitig, dass sie ein hartes, aber erfülltes Leben hatte. Als junge Kriegswitwe musste sie ihre beiden kleinen Kinder allein durchbringen, bis sie den lustigen Erwin heiratete, den künftigen Vater von Billys Mutter Karin, der sich bald als Alkoholiker entpuppte. Später kümmerte sich Oma Hertha um Sibylle, ihre einzige Enkelin, die sie zuweilen nach guter alter Art mit dem Kochlöffel zu bändigen versuchte.

„Ein wildes Kind!“, ruft Billy, indem sie die krächzende Stimme ihrer Oma imitierte, und lacht.

Beim nächsten Cocktail, einem Sex on the Beach, der wie Abwaschwasser aussieht und nicht wesentlich besser schmeckt, erzählt Billy endlich von Boy, der eigentlich Rick heißt und Koch ist, ein Kollege aus dem Restaurant, in dem sie kellnerte. „Dunkle Locken, sportlich, witzig und very sweet. Und jung!“

Anfangs war alles „easy“ und der Sex mit ihm great“, bis Rick absurde Ideen im Hinblick auf eine gemeinsame Zukunft entwickelte und Billy immer öfter Geschenke und Komplimente machte. Was andere Frauen gefreut hätte, war Billy so unheimlich, dass sie Angst vor diesem Jungen bekam und ihn für einen Stalker hielt. Jedenfalls bis zu ihrer Landung in Berlin. Aus der sicheren Entfernung von einigen Tausend Kilometern ist ihre Perspektive auf Rick nun ein wenig „verrutscht“, gibt Billy zu und gesteht, nunmehr nicht mehr sicher zu sein, ob dieser Rick nun ein Irrer sei – oder sie eine Idiotin.

„Aber however, it’s over“, bekräftigt Billy und saugt geräuschvoll wie ein Kleinkind mit dem Strohhalm ihr Glas leer. Dann haut sie mir kumpelhaft auf die Schulter und verschwindet aufs Klo.

Irritiert blicke ich meiner Freundin hinterher. Die Ärmste hat wirklich Pech. Und sonst nichts. Nothing. Bis auf eine zerknautschte Visitenkarte, die ihr ein Typ mit Glatze, der angeblich eine Musikproduktionsfirma leitet, vorhin zugesteckt hat, betört durch ihr fröhliches „Holy shit!“.

Einen Schnipsel Papier mit einer Faser Hoffnung drin, ist alles, was sie hat.

Arme Billy.

Es ist doch immer dasselbe, sinniere ich, am Strohhalm saugend, während ich mich in die weichen Sofapolster zurücklehne. Trifft man Leute von früher, sind die entweder gerade arbeitslos geworden, frisch getrennt oder leiden an dieser neuen Modekrankheit Burnout. Jedenfalls sind alle irgendwie frustriert. Fast scheint es, als hätte ich den Anschluss an einen neuen Trend verpasst, bei dem es nicht mehr darum geht zu wetteifern, wem es am besten geht, sondern darum, wen das Schicksal am härtesten herumkegelt.

„Ich hab’s auch nicht immer leicht“, bekenne ich deshalb ungefragt, nachdem Billy erfolgreich zwei neue volle Gläser durch das Dickicht von Stühlen und Sesseln an unser wackliges Tischchen jongliert und dort vorsichtig abgestellt hat. Die dürren grünen Stängel mit den mickrigen Blättern signalisieren, dass dieses Getränk offenbar ein Mojito sein soll.

„Viel Arbeit mit der family, stimmt’s?“, fragt Billy nach und lässt sich so heftig neben mich aufs Sofa plumpsen, dass ich unfreiwillig hochhopse wie ein Flummi. Ich erschrecke mich ordentlich, Billy aber lacht nur. Und zwar ein wenig schadenfroh, wie ich finde. Und das, während ich vor lauter Mitgefühl mit ihr fast zu platzen drohe! Na gut, denke ich erfreut. Werde ich mich eben nicht länger verschämt zurückhalten, sondern die guten Karten, die das Leben mir zugespielt hat, offen auf den Tisch packen. Fast alle sind Trümpfe.

„Viel Arbeit hab‘ ich, klar. Aber noch viel mehr Freude!“, beginne ich und sauge noch einen kräftigen Schluck Mojito in mich hinein, um die letzte Hemmschwelle hinunterzuspülen. Dann lasse ich alles raus: Wie prächtig sich die Jungs entwickeln! Wie drollig sie sind und gewitzt. Wie charmant unser altes Haus sein wird! Wenn erst die letzten Reparaturen und Renovierungsarbeiten abgeschlossen sind. Und was Bernd für ein toller Ehemann ist! Extrem verständnisvoll und vor allem zuverlässig.

„Auch im Bett“, füge ich stolz hinzu und schmücke meine Behauptung mit ein paar pikanten Details aus, da man heutzutage unbedingt ganz und gar offen wie beim Arzt über Sex reden muss, sonst würde jede Vertraute sofort stutzig werden und vermuten, dass da was nicht stimmt. Als ich nach der schwärmerischen Aufzählung einiger Stellungen und Techniken, auf die wir schon seit Jahren keine Lust mehr haben, mit meinem Sexlatein am Ende bin, Billy aber immer noch neugierig guckt, sage ich einfach nur „Shadows in Grey“ und grinse so anzüglich wie möglich, obwohl ich dieses skandalöse Buch gar nicht gelesen, geschweige denn die dort beschriebenen Praktiken mit Bernd ausprobiert habe.

„Ah, du meinst Shades of Grey!“

Ich nicke, vermutlich kennt Billy das Buch, umso besser. Für mich ist dieses Thema nun abgehakt und ich kann endlich von unserm kleinen Garten schwärmen, diesem grünen Idyll mit Gemüsebeeten und Obstbäumen, Bienen, Meisen und Eichhörnchen. Und dann natürlich, fast hätte ich sie vergessen, berichte ich meiner Freundin von unseren Familienurlauben an der Ostsee oder am Mittelmeer …

Nachdem ich mein Leben endlich so schön beschrieben habe, wie es nun einmal ist, lege ich eine kleine Pause ein, damit Billy alles verarbeiten kann. Während die immer gleichen Beats durch die schummrige Bar wummern, beobachte ich meine Freundin. Sie guckt ein wenig starr, wirkt fast etwas schockiert. Dann nickt sie leicht, sagt aber nichts. Weil ich gerade so in Fahrt bin, muss ich gleich noch eine Sache klarstellen, die mir sehr am Herzen liegt, und die, beschwipst, wie ich bin, nun ebenfalls unbedingt noch raus muss.

„Das Leben ist doch so easy“, erkläre ich meiner Freundin, die währenddessen immer tiefer in die Sofaecke rutscht. „Ich kann überhaupt nicht kapieren, wieso sich einige Menschen so dermaßen schwer damit tun!“

Natürlich nenne ich weder Beispiele noch Namen, sondern doziere nur so allgemein daher, rede mich dabei aber richtig in Rage. Bis ich bemerke, dass gewisse Bässe gar keine sind, sondern menschliche Grunzlaute, und zwar direkt neben mir.

Gerührt blicke ich auf meine schnarchende Freundin herab, die derart in sich zusammengesackt ist, dass sie wie ein schlampig geformter Kloß auf dem Sofa hängt. Und während ich in meinem selbstgemixten Gefühlcocktail aus Stolz und Mitleid bade, der besser ist als jeder Mojito oder Mai Tai, flimmert plötzlich diese irre Idee vom Nachmittag in meinem trunkenen Schädel wieder auf.

„Weißt du was? Wir haben bei uns unterm Dach ein kleines Gästezimmer“, erkläre ich meiner schnarchenden Freundin und male ihr das schöne Leben aus, das sie bei uns haben könnte, wenn sie dort einzöge. Wie wir im Garten grillen und dazu Bier oder Wein trinken. Wie wir Federball spielen oder Skat. Oder über Gott und die Welt schimpfen. Vielleicht auch mal gemeinsam die Wiese harken oder kochen. Und für die Jungs könnten wir eine lustige Halloweenparty ausrichten! Voller Vorfreude sehe ich Kunstblut, Ekeltiere, Vampirzähne und höhnisch lachende Kürbisse vor mir.

Erst ein Schluckauf bremst meine Fantasie und zwingt mich zum Innehalten und Wundern. Es überrascht mich, wie schockierend viele Dinge mir auf Anhieb einfallen, bei denen Billy herzlich willkommen wäre. Offenbar fehlt meinem Leben doch etwas. Ein bisschen Chili. Bernd kommt abends immer erst gegen sieben heim, oft müde und frustriert. Die alten Freunde, die immer träger werden, wohnen über die ganze Stadt verstreut. Und unsere Nachbarn erfreuen sich alle eines fortgeschrittenen Rentenalters. Da käme mir Billy gerade recht.

„Die Jungen werden dich lieben. Und Bernd …“

Plötzlich gähnt Billy herzhaft und ungeniert wie ein Baby, schlägt die Augen auf und sieht mich fragend an.

Really? Dein Ernst?“

Gute Frage!, denke ich erschrocken und sauge energisch an meinem Strohhalm, um zwischen Eisbröckchen und Pfefferminzblätter die letzten Tropfen verwässerten Rum aus dem fast leeren Glas zu schlürfen. Obwohl mir die Vorstellung, dass Billy bei uns einzieht, durchaus einen Kick gibt, ist es nicht unbedingt mein Ernst, diese Idee in die Tat umzusetzen. Was ich aber jetzt unmöglich zugeben kann. Auf keinen Fall darf dieser rundum gelungene Tag unseres Wiedersehens mit einem blöden Missverständnis enden, das Billy und mich womöglich entzweit. Und schon ertappe ich mich also beim Nicken.

Was nun? In meinem Kopf purzeln viele Fragen durcheinander, von denen ich keine einzige beantworten kann. Soll sich Billy über mein Angebot freuen? Oder es lieber bescheuert finden? Soll sie es annehmen? Oder es besser ablehnen?

Offenbar weiß Billy selbst nicht, was sie will, denn sie sagt einfach gar nichts, sondern starrt mich schlaftrunken mit ihren riesigen grünen Augen an, wie ein Reptil, bevor es zuschnappt. Dann hebt sie ihren Oberkörper langsam, aber stetig aus den Tiefen des Sofas empor und richtet sich auf.

Holy shit!“

Kreischend stürzt Billy sich auf mich und schwenkt mich hin und her wie ein Lieblingspüppchen, erdrückt mich dabei fast. Derart eingezwängt, muss ich Billys Geruch inhalieren, der inzwischen kaum noch an die Frische kanadischer Wälder erinnert, sondern an tödliche Berliner Partynächte. Dieser spezielle Duftmix aus Billy, Rauch und Alkohol ist mir jedoch so vertraut, dass ich mich in den weichen Armen meine Freundin zutiefst geborgen fühle. Genau wie früher. Als würden die letzten sechzehn Jahre, die zwischen uns standen, durch diese innige Umarmung endgültig zerquetscht.

„Welchen Cocktail haben wir eigentlich noch nicht probiert?“, fragt Billy munter, nachdem sie mich wieder freigegeben hat und ich endlich wieder atmen kann.

„B 52“, schlage ich vor und kriege sogar die englische Aussprache noch einigermaßen lässig hin, wie ich finde. Billy aber hat mich trotzdem nicht verstanden.

„Bi fiff-ti tuh!“, wiederhole ich, nunmehr stärker artikulierend, obwohl sich der schummrige, verrauchte Kneipenraum mit den plappernden Menschen bereits wie ein Karussell um mich herum dreht, und zwar so schnell, dass ich lieber aussteigen würde.

6 Keine Ahnung, ob mich das Gewitter in meinem Kopf oder die aufsteigende Übelkeit geweckt hat. Meine Augen, die ich kaum offen zu halten vermag, fixieren ein zerknautschtes, fahles Gelb, das mir einen Brechreiz verursacht, den ich gerade noch so bändigen kann. Tapfer stelle ich mich diesem Anblick, und nach einer gefühlten halben Stunde identifiziere ich den gelben Haufen neben mir endlich als Bernds verwurstelte Bettdecke. Also halte ich Ausschau nach seiner blassen Haut oder den straßenköterblonden Haaren. Vergeblich.

Nach einer Drehung um hundertachtzig Grad, für die ich mindestens drei Jahre brauche, werfe ich einen fragenden Blick zur anderen Seite, in Richtung Wecker. Und erschrecke bis ins Mark: Es ist schon neun! Die Kinder müssten längst in Schule und Kindergarten sein!

Energisch will ich aus dem Bett springen, das aber scheint sich an mir festzukrallen. Nur mit äußerster Kraftanstrengung kann ich mich allmählich von ihm lösen und auf Beinen wie aus Schwermetall nebenan ins Kinderzimmer stapfen. Das ebenfalls leer ist.

All meine verzweifelten, krächzenden Rufe nach Bernd und den Kindern verhallen im Nichts. Vorsichtig, mit der rechten Hand das Geländer fest umklammert, wanke ich die Treppe nach unten. Auch dort vernehme ich kein Lebenszeichen, weder aus dem Flur, noch aus dem Wohnzimmer oder der Küche dringen vertraute Geräusche. Überall herrscht gespenstische Stille. Immerhin entdecke ich auf dem Küchentisch, zwischen Cornflakes, Milchspritzern und leergefutterten Müslischalen, einen kleinen Zettel mit einer flüchtig hingekritzelten Botschaft: „Guten Morgen! Du warst nicht wachzukriegen. Habe die Kinder also selbst weggebracht. B“

Peinlich berührt schaufle ich mein zerzaustes Haar von hinten über den Kopf ins Gesicht, als wollte ich mich dahinter verstecken, und spüre nur noch eines: Durst. Ich schlurfe rüber zum Küchenschrank, hole ein großes Bierglas heraus und halte es so lange unter den Wasserhahn, bis es überläuft. Dann beuge ich mich über die Spüle und trinke gierig wie eine ausgedörrte Antilope aus einem Wasserloch. Derart verkatert war ich schon ewig nicht mehr. Bestimmt seit sechzehn Jahren nicht.

Nachdem ich in Zeitlupe geduscht und die Morgentoilette konfus hinter mich gebracht habe, wobei ich die Zahnpasta mit der Cremetube verwechselte, setze ich mich, den Q10-Geschmack noch auf der Zunge, mit einer Tasse Cappuccino draußen auf die Hollywoodschaukel und sauge, so gierig wie gestern die Cocktails durch den Strohhalm, die noch frische Morgenluft in meine Lungen hinein. Mit jedem Atemzug steigen neue Erinnerungen an den gestrigen, unbeschwerten Tag mit Billy auf. Und trotz meines reduzierten Allgemeinzustands beginnt mein Herz wie blöde zu tanzen. Offenbar hat es Billy all die Jahre wie verrückt vermisst.

Als mir jedoch diese innige Umarmung in der schummrigen Bar einfällt, stutze ich. Erneut wird mir übel. Allzu genau erinnere ich mich, wie verdammt gut mir diese Umarmung getan hat. Vielleicht sogar besser als jemals eine von Bernd. Sollte ich, seit vielen Jahren glücklich verheiratet und Mutter zweier Kinder, etwa lesbisch sein, ohne es zu wissen?

Ich drücke beide Füße fest gegen den Boden und stoppe meine inzwischen ziemlich wilde Schaukelei. Staub wirbelt auf, tanzt umher und legt sich wieder. Still und starr wie eine Buddhastatue sitze ich da und spüre, wie gut mir das tut. Mein Magen beruhigt sich. Langsam, aber spürbar.

Einzig meine Augen wandern rastlos durch den Garten, bis sich mein Blick in unserem imposanten Nussbaum verfängt, dessen breit gefächerte Äste ein schattenspendendes Dach bilden. Ab und zu knackt in der Krone das Holz, hin und wieder fällt ein Zweiglein herab. Vermutlich ist dort oben wieder dieses putzige Eichhörnchen zu Besuch, von dem man gar nicht glauben möchte, dass es derart wüten kann.

Ich schließe die Augen. So verstört ich im Moment auch sein mag, eine Sache wenigstens ist gewiss: Auf keinen Fall ist meine Freundin Billy, so sehr ich sie auch mag – womöglich sogar liebe?! – mit meinem derzeitigen Leben kompatibel. Da brauche ich mir gar nichts vorzumachen. Während ich im Laufe der Jahre erwachsen geworden bin, lebt diese Frau weiter so exzessiv wie ein pubertierender Teenager. Und das passt nicht mehr zu mir. Allzu oft werden wir uns daher nicht sehen können, leider. Doch diese seltenen Treffen mit Billy, schwöre ich mir feierlich, werde ich umso mehr genießen.

Wenn auch hoffentlich nie wieder so intensiv wie gestern.

Entschlossen stehe ich auf. Bereit, in den Tag zu starten. Etliches an Hausarbeit ist seit vorgestern liegen geblieben und muss also erledigt werden: Geschirr, Wäsche, Einkäufe.

Während ich in Richtung Haus gehe, höre ich es erneut oben im Nussbaum knacken. Offenbar tobt das dreiste Eichhörnchen noch immer dort herum. Ein drolliges Tierchen, aber meinen schönen Nussbaum lasse ich mir von ihm trotzdem nicht kaputt machen. Also bücke ich mich und suche einen kleinen Stein. Um ordentlich Schwung zu holen, reiße ich den Arm schmerzhaft weit nach hinten. Der haselnussgroße Stein saust in das Blätterdach. Wieder raschelt es im Baum, kleine Zweige bröseln herab. Keine Sekunde später aber kann ich voll Genugtuung beobachten, wie das Eichhörnchen den Stamm hinunterflitzt und im nahen Gebüsch verschwindet. Freundlich lächle ich ihm hinterher und winke ihm zum Abschied sogar zu.

Trotz lähmender Müdigkeit und diverser vegetativer Beschwerden schwebe ich wie auf einem Gleitschirm durch den Tag. Angenehm eingehüllt in eine dämpfende Wolke erledige ich die alltäglichen Handgriffe, die ich vermutlich sogar im Schlaf beherrschen würde. Ebenso routiniert kommen mir die ewig gleichen Fragen und Kommandos über die Lippen: „Wie war‘s denn in der Schule?“ oder „Hände waschen!“

Abends sitzen wir zu viert bei Pellkartoffeln mit Kräuterquark aus der Packung auf der Terrasse und plaudern über den Tag. Bernd und die Jungs jedenfalls, während ich mich irrsinnig auf mein Bett freue und dennoch versuche, die Augen interessiert offen zu halten.

Igor findet „die olle Fischer“, seine Musiklehrerin, „voll kacke“, was Bernd ihm glücklicherweise auszureden versucht, allerdings so umständlich und kompliziert, dass ich mich frage, wann er endlich Kant zitiert. Boris hat sich wohl wieder mit Hassan gestritten, diesmal aber ohne Einsatz von Fäusten, bloß mit Schimpfwörtern, also rein verbal, was an sich erst einmal lobenswert ist. Und Peter, Bernds Chef, der ja seit einiger Zeit regelmäßig mit uns am Abendbrottisch sitzt, hat schon wieder Bernds Post geöffnet, dieser „Idiot“.

Obwohl mich das Zuhören anstrengt, bin ich seltsamerweise die Einzige am Tisch, die die Haustürklingel hört. Oder habe ich Halluzinationen? Es ist fast sieben, da klingelt in unserer Straße keiner mehr beim anderen an der Tür, das ist in dieser Nachbarschaft ungeschriebenes Gesetz. Die Post ist längst durch und Besuch erwarten wir keinen. Da sich Aboverkäufer oder Zeugen Jehovas erfahrungsgemäß von Männern besser abwimmeln lassen, schicke ich den ungläubigen Bernd, der keine Klingel gehört haben will, nach vorn an die Hausfront.

Eine Minute später kehrt mein Mann total verwirrt und mit zwei großen Koffern im Schlepptau auf die Terrasse zurück. Ihm folgt eine elegante weibliche Erscheinung, die ich erst auf den zweiten Blick wiedererkenne. Ein rotbraunes Longshirt umspielt ihre üppigen weiblichen Rundungen und fällt perfekt über die schwarzen Jeans, die frisch gefärbten, nunmehr fast schwarzen Haare sind mit Gel nach hinten geklatscht, so dass die großen grünen Augen umso besser zur Geltung kommen. Der matte, dunkle Lippenstift ist von ebenso schlichter Eleganz wie die lange silberne Kette. Und überhaupt alles an ihr. Auf der Straße hätte ich einer Frau wie dieser diskret und voller Bewunderung hinterhergesehen – niemals aber in ihr meine chaotische Freundin Billy vermutet!

Holy shit“, entfährt es mir, danach bleibt mein Mund vor Staunen offenstehen und ich spüre, dass ich mindestens so knallrot werde wie mein Corsa. Denn plötzlich erinnere ich mich. Schlag auf Schlag, einer härter als der andere, fällt mir wieder alles ein: Das leere Gästezimmer. Mein übermütiges Angebot. Und Billys irre Freude über meine verrückte Idee, die mir frühmorgens um vier im Cocktailrausch tatsächlich wie eine schillernde Perspektive anmutete, nun jedoch, im fahlen Abendlicht und angesichts meines komplett ahnungslosen Mannes, total absurd vorkommt. Wie und wann soll ich das Bernd bloß beibringen? Und vor allem warum? Wirklich ernst war dieses Angebot an Billy nie gemeint. Eher ist es, im allerwahrsten Sinne, eine echte Schnapsidee.

„Setz dich doch, Billy. Willst du vielleicht was essen?“, überspiele ich meine geballte Ratlosigkeit, während Bernd bereits nach drinnen geeilt ist, um einen Stuhl für unseren Gast zu holen.

Meine Verwirrung bleibt nicht unbemerkt. Nachdem Billy die Jungs interessiert nach ihren Namen und nach denen ihrer Freunde gefragt hat, flüstert sie mir ins Ohr, dass es ihr echt leidtäte, hier so reingeplatzt zu sein wie ein Überfallkommando, aber ihr Akku vom Handy sei alle, sonst hätte sie vorher angerufen. Offensichtlich wüsste Bernd noch gar nichts, denn er würde sie so ansehen, als wäre sie irgendwie crazy.

„Wir hatten einfach noch keine Zeit, das zu besprechen“, sage ich leise zu Billy und verspreche, gleich nach dem Abendessen mit meinem Mann zu reden. Wenig später klebt eine Pampe aus Kartoffeln und Quark am Gaumen meines trockenen Mundes fest wie Zement. Obwohl mein Magen rebelliert, und zwar fast noch stärker als am Morgen, stopfe ich immer weitere Happen in mich hinein – in der aberwitzigen Hoffnung, dass dieses Abendessen niemals enden möge.

7 Müssen Bernd und ich, was äußerst selten vorkommt, Probleme diskutieren, ziehen wir uns dazu in unser Schlafzimmer zurück. Auf dem ordentlich gemachten Bett sitzen wir dann nebeneinander, meist verlegen wie Teenager vor dem ersten Sex. Ähnlich unbedarft sind wir beide nämlich, wenn es um Meinungsverschiedenheiten oder gar Konflikte geht, weil die in unserem harmonischen Zusammenleben, wie bereits erwähnt, ungefähr so häufig vorkommen wie gute Manieren bei Kleinkindern. Darum erinnere ich Bernd zunächst daran, und zwar durchaus stolz, wie lange wir schon nicht mehr so nebeneinander auf dem Bett gesessen haben.

„In diesem Jahr noch gar nicht, glaub ich!“

Bernd aber interessiert das nicht. Ungeduldig will er von mir wissen, „was das alles zu bedeuten hat“, und zwar mit Ausrufezeichen. Er spricht zu mir wie ein Loser aus einer dieser amerikanischen TV-Serien, die er angeblich so hasst. Darüber muss ich unwillkürlich grinsen. Bernd aber sieht mich eindringlich an, fast ein wenig frostig. Auch der Ton seiner Fragen ist schärfer als üblich.

„Wieso hat die denn ihre Koffer mitgebracht? Will die etwa hier einziehen oder was?“

„Oder was“, keife ich gereizt zurück und erkläre, dass Billy mitnichten hier einziehen, sondern lediglich ein paar Tage in unserem Gästezimmer übernachten will. Was hoffentlich kein großes Problem darstellen dürfte, Platz hätten wir doch wirklich genug.

„Mir ging es heute nicht besonders“, entschuldige ich mich für meine mangelnde Kommunikationsbereitschaft und die dadurch verursachte Überraschung. Gleichzeitig aber denke ich verzweifelt darüber nach, wie ich Bernd ein klares Nein entlocken kann. Ich habe nämlich den schrecklichen Verdacht, dass Billys Einzug unser Leben ziemlich durcheinanderwirbeln würde. Da ich selbst als beste Freundin jedoch unmöglich einen Rückzieher machen kann, ist ein Nein von Bernd meine letzte Chance. Am liebsten würde ich mich, mit einem bedauernden Lächeln auf den Lippen, hinter Bernds Ablehnung verstecken. Die ich irgendwie provozieren muss. Bloß wie? Mir fällt ein, wie sehr Bernd es hasst, überrumpelt zu werden. Also führe ich mich höchst ungeduldig auf.

„Also darf meine Freundin nun hier bleiben oder nicht?!“

Der aggressive Tonfall meiner Frage, der mich fast selbst einschüchtert, schreit nach einem energischen „Du spinnst wohl!“ von Bernds Seite, mindestens aber nach einem fetten Streit, der auf keinen Fall noch an diesem Abend beizulegen ist, so dass Billy heute Nacht unmöglich hierbleiben kann.

Bernd aber – bleibt stumm! Missmutig starrt er mich an und sagt kein Wort. Warum tobt er nicht wütend herum wie ein Rumpelstilzchen und empört sich, und zwar völlig zurecht, über meine dreiste Forderung?

„Was ist denn nun?!“, lege ich also nach und hoffe inständig darauf, dass mein eigentlich zuverlässig spießiger Ehemann meinen vermeintlichen Wunsch strikt ablehnt, möglichst mit einer so überzeugenden Begründung, dass ich für seine Argumente einfach das nötige Verständnis aufbringen muss.

Bernd aber enttäuscht. Leistet keinerlei Widerstand. Statt die Ellenbogen auszufahren, hat er diese schlapp auf seinen runden Knien abgelegt und die Hände friedlich ineinander verschränkt. Denkt er nun etwa ernsthaft über meinen schwachsinnigen Vorschlag nach? Bevor er noch zu einem positiven Ergebnis kommt, fange ich selbst an, meine eigene Idee madig zu machen und sie als „völlig überstürzt“ und „unausgegoren“ zu diffamieren. Und recht glaubwürdig, wie ich finde, versichere ich Bernd, wie überaus schockiert ich meinerseits sein würde, wenn eines Tages einer seiner Kumpels vor der Tür stünde und hier wohnen wollte.

„Ich denke, es ist nur für ein paar Tage?“, wirft Bernd mit ruhiger Stimme ein und guckt mich fragend von der Seite an.

Zuerst will ich nicken. Dann aber zucke ich mit den Schultern, was signalisieren soll: Wer weiß, vielleicht handelt es sich ja nicht nur um wenige Tage, sondern um Wochen, Monate oder gar Jahre? Da ich seine Frage nicht beantworte, hält Bernd sie nun wohl selbst für eine rein rhetorische und interpretiert mein Schulterzucken vermutlich bloß als allgemeine Verunsicherung.

„Dann ist das doch eigentlich kein Problem“, beschließt Bernd nun und erhebt sich vom Bett. Für ihn ist die Sache damit erledigt. Und ich kann nur noch eins denken: Shit. Holy shit, shit, shit. Bullshit. Holy bullshit!

Zugleich ist mir klar, dass ich Bernd nun vor lauter Dankbarkeit um den Hals fallen muss, weil er meiner Freundin so großmütig und vor allem spontan Asyl gewährt. Also tue ich das. Stehe ebenfalls auf und umarme meinen Mann heftig, täusche ihm überschäumende Freude vor wie gelegentlich den Orgasmus, und bin dabei immerhin über eine Sache wirklich froh: Dass Bernd während meiner innigen Umarmung mein entsetztes Gesicht nicht sehen kann.

Hurrikan Billy wartet also unten auf der Terrasse – und wir Idioten werden die Tür weit aufreißen und ihn hereinlassen in unser Leben, stelle ich ernüchtert fest und fantasiere mir zugleich lebensrettende Maßnahmen zusammen, die mich beruhigen sollen: Ich schwöre mir, Widerstand zu leisten, an allen Fronten. Stur werde ich im eigenen Rhythmus weiterleben wie bisher und mich dabei, was auch passieren mag, nicht aus dem Takt bringen lassen. Ich werde die Nerven bewahren. Auch Haltung, wenn möglich. Es wird eine echte challenge. Aber wir werden ihn schon überstehen, diesen Hurrikan.

Als ich mich nach langen, durchaus trostspendenden Sekunden wieder von Bernd löse, kann ich sogar lächeln.

„Das wird bestimmt eine schöne Zeit!“, sage ich in ziemlich überzeugendem Ton zu Bernd, tätschle mit den Händen aufmunternd auf seiner Brust herum und wünsche mir von ganzem Herzen, ich könnte meinen eigenen Worten glauben.

Meine allerbeste Feindin

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