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Sex on the Beach

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„Kann ich vorbeikommen?“

Ines erstarrte mit dem Hörer am Ohr und verdrehte gründlich ihre grauen Augen. Sie dachte an das Picknick, für das sie einkaufen müsste, an das Bad, das fertig geputzt werden wollte, und natürlich an Sina und Max, denen sie einen Besuch auf dem Spielplatz versprochen hatte. Verzweifelt überlegte Ines, auf welchen Tag sie ihre Freundin vertrösten könnte, da schnurrte Tanja verheißungsvoll ins Telefon: „Ich muss dir unbedingt was erzählen!“

„Klar kannste vorbeikommen“, seufzte Ines und war sauer. Auf Tanja zunächst mal, weil die wieder ihren sorgfältig geplanten Tag durcheinanderwirbelte. Mehr noch aber auf ihre eigene Spießigkeit, die sie voller Sorge registrierte. Tanja war immerhin ihre beste Freundin, und zwar eine, die sie noch nie gelangweilt hatte. Während Ines’ Leben ungefähr so abwechslungsreich war wie eine Fahrt auf der Autobahn, hauste Tanja in einem aufregenden Dschungel aus angesagten Clubs, Vernissagen und Premierenfeiern. Am spannendsten aber war ihr Liebesleben. Bis vor einem halben Jahr jedenfalls, als Tanja noch nicht mit Richie, diesem charmanten Chaoten, liiert war.

Fünf Minuten später klingelte es an der Wohnungstür. Ines kippte rasch das Putzwasser ins Klo und warf noch einen flüchtigen Blick in den Spiegel, der sie allerdings bloß frustrierte. Dann hüpfte sie erwartungsvoll der Tür entgegen.

Tanja trug ein ärmelloses Sommerkleid, hielt triumphierend eine Flasche Sekt empor und strahlte, als hätte sie irgendeinen Grand Prix gewonnen. Überschwänglich umarmte sie Ines, die froh war, noch schnell zum Deo gegriffen zu haben, damit sie wenigstens nicht so nach Arbeit roch, wenn sie schon aussah wie eine Putzfrau. Erwartungsvoll stand Ines vor Tanja wie ein kleines Kind vor dem Weihnachtsmann mit einem dicken Sack voller Überraschungen. Hatte ihre Freundin endlich eine Produktionsfirma für ihr Drehbuch gefunden? War sie wieder über irgendeinen roten Teppich stolziert? Oder hatte sie etwa eine Affäre? So sehr Ines auch grübelte, weitere Gründe zum Feiern fielen ihr nicht ein. Ihr Horizont war eben beschränkt. Sicher war es wieder etwas, das sie niemals vermutet hätte. Eilig brachte Ines zwei Sektgläser auf den Balkon, wo Tanja bereits fröhlich den Korken knallen ließ.

„Und?“, fragte Ines neugierig und hielt Tanja die Gläser entgegen.

„Kommst du nie drauf!“, sagte Tanja und lächelte geheimnisvoll, während sie den Sekt in die Gläser schäumen ließ.

„Sag schon“, forderte Ines ungeduldig, fast ein wenig verärgert darüber, dass Tanja ihre knappe Zeit mit dämlichen Ratespielchen verplemperte. Doch erst musste sie noch, wie üblich, das neue Kleid ihrer Freundin bewundern.

„Desigual“, verriet Tanja mit einem gönnerhaften Lächeln, mit dem man normalerweise Hunden ein Leckerli vor die Füße wirft, und drehte sich kokett hin und her, damit Ines die aufregenden Muster in kräftigen Farbtönen angemessen bestaunen konnte. Dann aber platzte die Neuigkeit so plötzlich aus Tanja heraus wie eine Kugel aus dem Revolver.

„Mit Richie ist es endlich vorbei. Prost.“

Tanja stieß ihr Glas etwas heftig gegen das von Ines und nahm einen kräftigen Schluck.

„Was?!“

Wie erschlagen von dieser Nachricht ließ sich Ines auf den Holzstuhl fallen. Es war weniger das Ende dieser chaotischen Liaison, das Ines überraschte, sondern vielmehr die ausgelassene Stimmung ihrer Freundin. Zwar konnte man es schon ein Naturgesetz nennen, dass Tanjas Beziehungen kaum stabiler waren als Seifenblasen. Doch die Seifenblase namens Richie hatte schon so unverhältnismäßig lange geschillert, dass bei ihrem Platzen mindestens ein mittlerer Nervenzusammenbruch fällig gewesen wäre.

„Wir passen einfach nicht zusammen“, sagte Tanja hingegen sachlich wie eine Verwaltungsangestellte, die gegen Feierabend eine Akte zuklappt, und zündete sich eine Zigarette an.

Natürlich harmonierten Tanja und Richie ungefähr so prima wie Sina und Max, wenn sie müde und außerdem hungrig waren. Doch das wusste Ines längst. Das eigentliche Wunder war, dass Tanja das endlich selbst kapiert hatte. Und zwar ohne dass Tränen flossen! Dabei ragte dieses halbe Jahr mit Richie aus Tanjas Liebeslandschaft heraus wie der Mount Everest. Eine längere und innigere Beziehung als diese hatte es für sie nie gegeben.

Forschend betrachtete Ines also ihre Freundin, suchte Stirn und Mundwinkel nach Spuren von Leid ab und die Augen nach einem verdächtigen Glanz. Da sie nichts entdecken konnte, rechnete sie jede Sekunde damit, dass die gute Laune wie eine Schlangenhaut von Tanja abfallen, sie als schluchzendes Elend vor ihr sitzen und sich ihre bordeauxrot lackierten Fingernägel zerbeißen würde. Tanja aber sah aus wie Tanja im Glück und fühlte sich angeblich auch so. „Total happy!“ und „absolut relaxt!“ Kein Klischee war ihr zu platt, kein Ausrufezeichen zu viel.

Ob Richie ähnlich glücklich war? Wahrscheinlich reagierte er auf die Trennung mit dem ihm eigenen Humor. Da er grundsätzlich nie etwas ernst nahm, lachte er vermutlich darüber. Richie war ein Clown, der ständig verrückte Sachen machte. Das hatte durchaus Charme und zog jeden durchschnittlich frustrierten Menschen in seinen Bann, so auch Ines, die sich immer gern über ihn amüsiert und sein Talent bewundert hatte, den graukarierten Alltag mit grellen Farbtupfern aufzupeppen. Dennoch hatte sie vermutet, dass diese liebenswerte Unbeschwertheit ihrer zwar lebenslustigen, aber zuweilen auch tiefsinnigen Freundin in absehbarer Zeit furchtbar auf die Nerven gehen musste, so als würde ständig eine Horde Kleinkinder möglichst dicht um sie herumtanzen. Und genauso war es gekommen. Tanja ertrug Richies Albernheiten nicht mehr. Der aber nahm seine Kaspereien so ernst, dass er sie nicht mal aus Liebe zu Tanja einschränken wollte.

„Er ging mir ja so auf die Nerven! Als er neulich im Supermarkt die Joghurtbecher umsortierte, hab ich sofort Muttergefühle bekommen und ihm eine Ohrfeige gegeben. Das muss man sich mal vorstellen!“, gestand Tanja lachend.

„Du hast ihn geschlagen?! Vor allen Leuten? Und er?“

„Hat gesagt, ich soll das lassen. Sonst haut er zurück. Angeblich war er mal Boxer. Erzählt er! Ob’s stimmt, weiß man ja bei ihm nie.“

„Bist du wahnsinnig?“

„Nö“, lachte Tanja, „nur unglaublich froh, dass es endlich vorbei ist!“

Richie schien sich komplett verändert zu haben. Die „coole Socke“ hatte sich in einen „degenerierten Brüllaffen“ verwandelt. Egoistisch, unsensibel, prollig.

„Na da kann man ja wirklich nur gratulieren, dass du diesen Affen endlich los bist. Prost!“

Nach dem Anstoßen blinzelte Ines in die Nachmittagssonne, kramte in Gedanken in ihrer Tiefkühltruhe und fand immerhin eine Tüte Pommes fürs Abendbrot. Zufrieden registrierte sie einen wohligen Schwips. Damit hatte sich der Spielplatz also auch erledigt. Die armen Gören würden nun weder gesundes Essen noch frische Luft bekommen. Egal! Für den nächsten Tag war schließlich ein Picknick am See geplant. Mit selbstgemachten Bouletten und Salaten würden sie auf einer Decke am Wasser sitzen und den ganzen Tag saubere Waldluft inhalieren.

„Und was machst du jetzt mit deiner neuen Freiheit?“, erkundigte sich Ines, die den Verdacht nicht loswurde, dass es bereits einen neuen Mann im Leben ihrer Freundin gab. Was zumindest deren ausgelassene Stimmung erklären würde.

„Ich werde mir endlich einen Traum erfüllen“, sagte Tanja theatralisch, „und nach Kapstadt gehen.“

„Kapstadt“, wiederholte Ines, um sicher zu gehen, dass sie Tanja richtig verstanden hatte.

„Genau, Kapstadt. Das war schon immer mein Traum.“

„Aha“, staunte Ines, die von diesem Traum zum ersten Mal hörte. Doch was soll’s, als Single hatte man vermutlich Tausende attraktive Träume parat, während sie selbst, als Familienmutti, längst nicht mehr träumte, sondern bloß noch organisierte: Hier ein Picknick, dort den Pauschalurlaub. Mit offenem Mund lauschte Ines, wie Tanja mit glänzenden Augen vom „Spirit of Capetown“ schwärmte, der einen so in seinen Bann zog, dass man diese Stadt nicht mehr verlassen konnte, ohne seelischen Schaden zu nehmen.

„Also komplett anders als bei Richie“, stellte Ines trocken fest und die Freundinnen lachten. Als der Sekt alle war, entdeckte Ines in ihren Vorräten zufällig eine Flasche südafrikanischen Rotwein, mit dem sich hervorragend auf diesen mysteriösen Spirit of Capetown anstoßen ließ. Das Klingen der Gläser verschmolz auf wundersame Weise mit den goldenen Strahlen der Abendsonne zu einem dieser Momente, wie es sie eigentlich nur in amerikanischen Kinofilmen gibt.

Eine Stunde später, als Volker nach Hause kam, hing Ines auf dem Sofa im Wohnzimmer und döste vor sich hin, während Tanja, die Beine kokett übereinander geschlagen, auf dem Balkon saß und telefonierte. Im Badezimmer planschten die Kinder herum und kreischten dabei wie Motorsägen.

„Was ist denn hier los?“

Volkers Frage schreckte Ines auf und ließ sie vom Sofa rutschen. Überrascht blickte sie sich um, murmelte verschlafen „Tanja“ und zeigte auf den Balkon.

„Aha“, erwiderte Volker, obwohl er Tanja längst durch die offene Balkontür entdeckt hatte. Und wenn nicht, hätte er es sowieso geahnt, brachten doch Tanjas Besuche zuverlässig Chaos ins Haus. Wie auch jetzt wieder: Seine Frau lag betrunken auf dem Sofa und die Kinder verursachten im Bad fröhlich einen Wasserschaden. Und so wunderte sich Volker auch nicht, als Ines ihm mit schwerer Zunge eröffnete, dass es zum Abendbrot alte Pommes geben würde und er, nach seinem wirklich harten Arbeitstag, noch in den Supermarkt gehen sollte, um was fürs Picknick einzukaufen.

„Ich bin zu nix gekommen“, lallte Ines. „Wegen Tanja. Mit Richie ist es nämlich aus.“

Volkers Augen verengten sich zu kleinen Schlitzen, so dass er wild aussah wie ein Mongole.

„He Doc, was geht?!“

Vergnügt kam Tanja vom Balkon ins Zimmer getänzelt und umarmte Volker stürmisch, der stumm und starr wie eine Steinsäule mitten im Raum stand. Dann verabschiedete sie sich eilig von ihrer Freundin, denn sie hatte sich, zur Feier des Tages, noch mit Hannes auf einen Sex on the Beach verabredet.

Sex on the Beach. Spirit of Capetown. Desigual.

Wie verführerische Melodien aus einem fernen Universum klangen diese Worte noch lange in Ines‘ Ohren nach und übertönten sogar noch Volker, der ihr mit borstiger Stimme vorhielt, dass Tanja wirklich nicht aussehe, als würde sie dringend auch nur einen Tropfen Trost benötigen.

„Hast du auch Gurken gekauft?“, fragte Ines und ließ ihren Blick übers Küchenregal mit den Vorräten schweifen, während sie mit beiden Händen ihre vor Schmerzen bebenden Schädelplatten zusammendrückte.

„Schon eingepackt!“, antwortete Volker. „Nur Teller fehlen noch.“

Schwerfällig wie eine alte Frau bückte sich Ines, kramte bunte Pappteller aus dem untersten Fach des Küchenschranks hervor und legte sie in die große grüne Plastikkiste, die bereits randvoll war mit Gemüse, Salaten und den Bouletten, die Volker am frühen Morgen gebraten hatte. Der Anblick des vielen Essens verursachte bei Ines einen leichten Würgereiz, den sie jedoch erfolgreich weglächelte. Das war sie Volker einfach schuldig, der sich am Vorabend ganz allein um das überschwemmte Bad, die Einkäufe fürs Picknick und um die Kinder hatte kümmern müssen. Entsprechend wütend war er gewesen. Frühmorgens im Bett aber hatten sie sich noch rasch versöhnt, aus rein pragmatischen Motiven, um dieses Picknick bloß nicht platzen zu lassen, auf das sich die ganze Familie schon die ganze Woche gefreut hatte.

Ein flüchtiger Blick auf die Strandtasche mit den Badesachen erinnerte Ines daran, dass sie die Sonnencreme noch nicht eingepackt hatte. Doch als sie gerade ins Bad eilen wollte, um sie zu holen, klingelte das Telefon.

Es war Sonja, die Ines aufgeregt fragte, ob sie nicht vielleicht wüsste, wo ihre Schwester stecken könnte. Um neun sei sie mit Tanja in deren Wohnung verabredet gewesen, doch sie würde weder die Tür öffnen, noch an ihr Handy gehen.

Als Ines den Hörer auflegte, war ihr noch mulmiger als vorher.

Ihre Freundin Tanja mochte ihrem Wesen nach zwar chaotisch sein, ihre Termine aber vergaß sie eigentlich nie. Außerdem fiel Ines der Grund für diese Verabredung wieder ein: Die schicken Designerstühle, die Tanja von ihrer Schwester bekommen sollte. Auf die hatte sie sich, offenbar noch nicht vom Spirit of Capetown besessen, vor ein paar Tagen noch riesig gefreut. Wieso also war sie nun nicht zu Hause?

„Momentchen noch!“, rief Ines ihrem Mann entgegen, der gerade die Proviantkiste hochstemmte. „Ich rufe nur noch schnell Hannes an!“

„Wieso denn das?“, fragte Volker verärgert. „Wir wollen doch jetzt los!“

Ungeduldig lauschte Ines dem Freizeichen, das nicht enden wollte. Vermutlich schlief Hannes noch.

Ines verstaute ihr Handy in der Handtasche. Und als sie schon zur Wohnungstür raus war, lief sie noch einmal zurück, um ihr altes Adressbuch zu holen, sicherheitshalber. Volker hockte derweil auf der Treppe im Hausflur und trommelte mit den Fingern einen Marsch gegen die Wohnungstür.

Als ob es auf eine Minute ankäme!, dachte Ines zornig, als sie die ungeduldige Miene ihres Mannes erblickte. Dann aber besann sie sich, boxte ihm kameradschaftlich gegen die Schulter und lächelte ihn an, wenn auch ein wenig mitleidig. Im nächsten Moment liefen sie gemeinsam die Treppe hinunter, ihren lärmenden Kindern hinterher.

Der smaragdgrüne kleine See lag versteckt zwischen hohen, knorrigen Bäumen. Ein Idyll, das Volker und Ines immer wieder magisch anzog. Jeder Vorschlag, mal einen anderen See zu erkunden, wurde jeweils vom andern abgelehnt. Wenn sich etwas bewährt hatte, wäre es doch dumm, ein Risiko einzugehen. Darin waren sich Ines und Volker völlig einig.

Obwohl es bereits auf Mittag zuging, war die Badestelle fast noch leer. Es gab so viele lauschige Plätzchen zur Auswahl, dass sich Ines und Volker kaum entscheiden konnten, wo sie ihre Decken ausbreiten sollten. Sina und Max waren längst unten am Wasser und buddelten im braunen Sand. Als Ines die beiden Kinder mit ihrer zarten Haut in der prallen Sonne hocken sah, durchfuhr sie ein Schreck, spitz und scharf wie ihr Küchenmesser.

„Es tut mir so leid“, jammerte sie und hielt Volkers Arm fest, als er sich gerade auf die Decke setzen wollte. „Ich hab die Sonnencreme vergessen!“

Volker starrte auf die fast nackten Kinder.

„An der Tanke gibt’s bestimmt welche zu kaufen“, flüsterte Ines und überlegte, ob sie sich zum hundertsten Mal dafür entschuldigen sollte, dass sie zwar einen Führerschein, aber keine Fahrpraxis besaß. Sie ließ es sein, als sie sah, dass sich Volker bereits seine Jeans hochzog und kontrollierte, ob sich der Autoschlüssel in der Hosentasche befand.

„Fehlt sonst noch was?“, fragte er wütend, bevor er zum Parkplatz trabte.

Ines sah ihrem Mann kopfschüttelnd hinterher. Die Tankstelle war nun wirklich nicht weit entfernt, sondern im nächsten Ort oder im übernächsten. Es gab also keinen Grund für Volker, ein solches Gesicht zu machen, als müsse er für die Sonnencreme zu Fuß zurück bis nach Hause laufen.

Eine halbe Stunde später nur war endlich alles so, wie es an einem sonnigen Samstag mitten im Juni sein sollte. Zufrieden gab Ines ihrer Tochter einen Klaps auf den Po und schickte sie runter ans Wasser zu ihrem Sohn, der bereits eingecremt war. Dann legte sie sich auf die Decke und räkelte sich in der Sonne, dicht neben Volker, der leise seufzte.

Die ganze lange Woche hatte er sich auf diesen Tag gefreut, darauf, ihn gemeinsam mit der Familie am See zu verbringen, in heimlicher Vorfreude auf den Abend, an dem er bei einem kühlen Bier Sportschau gucken würde. Das hatte er sich mehr als verdient nach dieser harten Woche, in der das Wartezimmer seiner Praxis jeden Tag so überfüllt war wie ein Flüchtlingsboot vor Lampedusa, auch ähnlich aufgeheizt vermutlich, durch diese glühende Sommerhitze, so dass die Stimmung chronisch gereizt war. Hinzu kam, dass seine neue Sprechstundenhilfe ihrer Berufsbezeichnung überhaupt nicht gerecht wurde, sondern sich als Katastrophe entpuppte, so unfähig und unfreundlich, wie sie war. Gerade wollte er Ines erzählen, wie sich die Neue mit Herrn Schuster angelegt hatte, einem langjährigen Patienten und noch dazu privat versichert, der ganz bestimmt nie wieder seine schmerzenden Plattfüße in seine Praxis setzen würde, als eine komische Frage zu ihm herüberwehte.

„Was meinst du, passen wir beide eigentlich zusammen?“

Überrascht wandte Volker den Kopf seiner Frau zu, die mit geschlossenen Augen entspannt neben ihm lag und sich blöde Fragen ausdachte. Und das just in dem Moment, als er, was wirklich selten vorkam, mal eine Anekdote aus seinem anstrengenden Berufsalltag zum Besten geben wollte. Ein klares Nein wäre die gerechte Antwort darauf gewesen. Volker aber schluckte diese vier Buchstaben, die ihm bereits auf der Zungenspitze lagen, tapfer wieder hinunter.

„Wie Mann und Frau eben zusammenpassen“, antwortete er stattdessen diplomatisch und mit einem anzüglichen Grinsen, das Ines deutlich aus seinen Worten heraushörte. Als er dann auch noch begann, unbeholfen, aber eindeutig an ihrem Bikini-Oberteil herumzufummeln, stieß Ines empört seine Hand weg.

Schmollend wandte sich Volker von seiner Frau ab. Um sich diesen Tag nicht komplett versauen zu lassen, dachte er lieber wieder an Sportschau und Bier, konkret an Bayern, Dortmund und ein kühles Jever.

Den Blick auf die gemeinsamen Kinder gerichtet, lagen Volker und Ines nun schweigend nebeneinander, jeder den eigenen Gedanken nachhängend. Während Volker es prima gelang, sich voller Vorfreude auf den bevorstehenden Fernsehabend zu konzentrieren, zogen Ines‘ Gedanken mit den kleinen weißen Wolken, die über den blauen Himmel segelten, hinaus in die weite Ferne. Das Blau wurde strahlender, der See größer, der Strand heller und weiter, und auf den Wellen des Meeres, in das sich der See inzwischen verwandelt hatte, tummelten sich sogar Delfine.

„Look at this!“, forderte sie den muskulösen Schwarzen auf, der neben ihr im Sand saß, vermutlich irgendwo am Strand von Kapstadt, und zeigte aufgeregt auf die springenden Delfine. Der Afrikaner aber weigerte sich stur, den Blick von ihr abzuwenden, und bevor seine Augen sie endgültig verschlangen, nahm sie noch einen Schluck von dem kühlen Cocktail, den sie zufällig in der Hand hielt. Von der Strandbar her wehte leise Musik herüber, „King of the Bongo“, ausgerechnet.

Das war der Klingelton ihres Handys.

Während Ines hochschreckte, um in ihrer Handtasche hektisch nach dem Telefon zu kramen, schrumpfte der herrliche blaue Ozean wieder zu einem grünen Tümpel zusammen. Hannes, der ihren erfolglosen Anruf auf seinem Telefon entdeckt hatte, wollte wissen, was los war. Ja, was eigentlich? Noch ganz benommen von ihrer erotischen Fantasie am Strand von Kapstadt, fiel Ines sofort der Name des Cocktails ein, auf den sich Tanja mit Hannes verabredet hatte: Sex on the Beach! Das war das Stichwort.

Ja, gab Hannes zu, sie waren zusammen trinken gewesen, in einer Kneipe und dann noch in einer Bar. Und danach, und das wusste Hannes so sicher wie die Tatsache, dass er allein der coolste Vogel in seinem Kiez war, hatte Tanja ihm versprechen müssen, zu sich nach Hause zu fahren. Unbedingt. Und nicht etwa zu Richie.

„Bescheuert gelacht hat sie darüber. Mehr weiß ich auch nicht.“

Nachdenklich versenkte Ines das Handy in der Tasche, legte sich wieder neben Volker und schloss die Augen.

„Angeblich ist er Boxer.“

Es war eine Spezialität von Ines, Sätze zu formulieren, die einen nur halb und damit gar nicht informierten.

„Wer denn bitte?“

„Na Richie.“

„Na und?“

Volker verstand noch immer nicht und es interessierte ihn auch nicht. Neben ihrem Talent, mit kryptischen Botschaften um sich zu werfen, hatte Ines außerdem die Begabung, sich intensiv in das Leben anderer Menschen einzumischen. Als Psychologin oder Sozialarbeiterin könnte sie mit dieser Schrulle wenigstens gutes Geld verdienen, so aber verdarb sie ihm bloß seine kostbare Freizeit mit den Problemen anderer Leute.

„Offenbar hat Tanja weder bei sich noch bei Hannes übernachtet. Das ist doch seltsam.“

„Und was hat das damit zu tun, dass Richie Boxer ist?“

„Na wegen der Stühle von ihrer Schwester…“

„Jetzt reicht’s!“

Wütend sprang Volker auf und rief so laut, dass sich reflexhaft sämtliche Köpfe am inzwischen gut gefüllten Strand nach ihm umdrehten: „Ich hab Hunger und hol’ jetzt was zu essen!“

Angewidert schüttelte Ines den Kopf. Das war wieder typisch Volker, sie völlig grundlos vor allen Leuten anzublaffen. Außerdem gab er sich nicht die geringste Mühe zu verstehen, warum sie sich Sorgen machte. Sorgen machen musste! Er hingegen tat gerade so, als hätte sie irgendein ein perverses Vergnügen daran.

Während sich Volker mit wutstampfenden Schritten entfernte, so dass er von Ferne wie ein Rumpelstilzchen aussah, kramte Ines ihr Handy wieder hervor. Sie versuchte es abermals bei Tanja. Dann bei Richie. Es war halb zwölf am Wochenende, die optimale Zeit also, um einen Typen wie Richie zu erreichen. Eigentlich. Doch niemand ging ans Telefon. Als Ines ihr Handy beiseitelegte, begann sie zu frösteln. Obwohl sie direkt in der warmen Sonne saß, überzogen sich ihre Arme und Beine komplett mit Gänsehaut, wenn sie an ihre leichtsinnige Freundin dachte.

Sie musste handeln. Das Adressbuch fiel ihr ein. Ines stülpte ihre Handtasche einfach um, so dass ihr das kleine Buch direkt in den Schoß fiel. Auch die gesuchte Nummer fand sie auf Anhieb. Dann aber zögerte sie. Vielleicht war Tanja ja gerade bei ihrer Mutter? Für wie bekloppt würde sie sie dann halten? Und falls Tanja nicht dort war, wäre das auch nicht viel besser, denn wie sollte sie die arme Frau nach dem Verbleib ihrer Tochter fragen, ohne sie zu beunruhigen? Ines brauchte nicht lange zu überlegen. Für Tanjas Mutter würde sie einfach eine dramatische Ehekrise erfinden – dafür brauchte sie im Moment wirklich nicht viel Fantasie – in der sie so dringend den Beistand ihrer Freundin benötigte, dass sie überall verzweifelt nach ihr suchte. Sogar bei ihrer Mutter.

Mit flinken Fingern hackte Ines die Nummer in ihr Handy. Und hatte Glück. Tanjas Mutter hob sofort ab, als hätte sie auf ihren Anruf gewartet. Und tatsächlich wartete sie sehnlichst auf einen Anruf, und zwar auf den von Tanja, die sich seit drei Wochen nicht mehr bei ihr gemeldet hatte.

Als Volker mit der Proviantkiste zurückkehrte und seine Frau wieder telefonieren sah, verdüsterte sich sein Gesicht wie ein Gewitterhimmel. Ines aber bemerkte ihren Mann gar nicht, so gebannt lauschte sie, wie Tanjas Mutter von dem schlimmen Streit mit ihrer Tochter berichtete. Natürlich wegen Richie. Die Mutter hatte am Arm ihrer Tochter blaue Flecken entdeckt und daraufhin Vermutungen angestellt, die Tanja nicht hatte hören wollen. Seitdem herrschte Funkstille zwischen den beiden.

Volker begann, die grüne Kiste auszuräumen. Er öffnete die Tupperdose mit den Buletten, schnupperte daran, schnitt etwas Gurke auf und rief die Kinder zum Essen. Als Ines das Telefonat beendet hatte, sah sie ihren Mann, der sich gerade genüsslich eine zusammengerollte Scheibe Cheddar in den Mund stopfte, mitleidig an.

„Es tut mir so leid, Volker.“

Volker aber hörte nicht hin, sondern kleckste sich voller Vorfreude Senf auf seinen blauen Teller.

„Wir müssen sofort zurück!“

Volker hielt erst Sina und dann Max die Dose mit den Bouletten vor die Nase, legte sich selbst zwei Stück auf den Teller und in eine dritte biss er kräftig hinein. Noch während er kaute, ermahnte er die Kinder, mit ihren sandigen Füßen dem Essen nur nicht zu nahe zu kommen.

„Volker!“, schrie Ines ihn an, sprang auf und schlug hysterisch mit den Armen um sich, als kämpfe sie gegen eine unsichtbare Bedrohung. „Ich hab solche Angst!“

Volker seufzte. Wegen all der Leute um sie herum, die schon wieder blöd herüberglotzten und sich insgeheim sicher köstlich über dieses Familientheater amüsierten, konnte er das Gezeter seiner Frau nicht länger ignorieren. Also erkundigte er sich, wovor sie denn bitte Angst hätte, um danach mit Appetit in ein hartgekochtes Ei zu beißen und sich darüber zu wundern, woher plötzlich diese innere Ruhe kam. War sein Nervensystem wegen der ständigen Überlastung endgültig zusammengebrochen, so dass ihn absolut nichts mehr aufregen konnte? Oder waren ihm die Launen seiner Frau allmählich egal, weil sie selbst ihm immer gleichgültiger wurde? Trotz der Hitze breitete sich eine erfrischende Kühle in seinem Innersten aus.

„Alles deutet darauf hin, dass Tanja bei Richie ist“, erklärte Ines aufgeregt. „Wir müssen sie da unbedingt rausholen!“

„Wieso denn das?“

Ines hielt die Luft an. Da war sie wieder, Volkers penetrante Gleichgültigkeit, die sie eines schönen Tages, vielleicht sogar heute schon, in den Wahnsinn treiben würde. Jedes IPad besaß doch mehr Empathie als dieser Typ, obwohl der Arzt war! Trotzdem riss sich Ines zusammen und konzentrierte sich darauf, ruhig und verständlich sämtliche Fakten zu einer logischen Gedankenkette zu verknüpfen, ganz so, wie Volker das dauernd von ihr forderte.

„Also pass auf. Tanja und Richie waren total verliebt. Nun ist plötzlich Schluss. Tanja aber tut so, als hätte sie kein Problem damit, sondern freut sich angeblich darüber. Trotzdem geht sie nachts, nachdem sie zu viel getrunken hat, zu Richie. Und am nächsten Morgen ist sie nirgends auffindbar. Sie geht nicht ans Handy und verpasst sogar einen wichtigen Termin mit ihrer Schwester. Und Fakt ist: Richie war mal Boxer, das hat sie mir selbst erzählt. Und ihre Mutter vermutet, dass er sie schlägt. Reicht das?“

Da Volker noch immer mit dem Phlegma einer Kuh vor sich hin kaute, beugte sich Ines zu ihm runter und zischte ihm leise, mit dem Sound einer Giftschlange, ins Ohr: „Meine beste Freundin ist vielleicht Hackfleisch, und ich soll hier seelenruhig in der Sonne sitzen und Buletten futtern?“

Die Mittagshitze verwandelte den alten Saab in einen Backofen. Hinten zankten sich die Kleinen, vorn schwiegen die Großen sich grimmig an. Als sie gerade die Stadtgrenze passierten, meldete sich der „King oft the Bongo“ wieder. Hastig ging Ines an ihr Handy, hörte eine Weile zu und stieß kurze Rufe der Verwunderung aus, die Volker hellhörig machten.

„Was ist denn seltsam?“, fragte er streng, als Ines aufgelegt hatte.

„Hannes war bei Richie. Und der behauptet, Tanja sei bei ihm.“

Ruckartig riss Volker den Lenker herum, fuhr an den Straßenrand und bremste dort so scharf, dass die Kinder hinten aufkreischten. Dieses waghalsige Manöver diente allein dazu, Ines einen fassungslosen Blick zuwerfen zu können.

„Das ist nicht dein Ernst. Wir brechen extra unser Picknick ab ...“

Volker rang nach Worten wie ein Erstickender nach Luft.

„Bleib ruhig“, flehte Ines ihn an, „und setz mich einfach bei Richie ab.“

Nichts auf der Welt tat Volker im Moment lieber als das.

Nicht mal Fußballgucken.

Als Ines auf dem staubigen Gehweg stand und dem Auto mit ihrer Familie hinterhersah, fühlte sie sich plötzlich einsam. Und vor allem dämlich. Vermutlich war die ganze Geschichte harmlos. Bestimmt hatten sich Tanja und Richie im Suff versöhnt statt totgeschlagen. Und sie würde dastehen wie eine lächerliche Person, deren Leben so öde ist, dass sie sich, um wenigstens ein bisschen was zu erleben, mitten in einen Thriller hineinfantasierte. Genauso blöd würde sie am Ende aussehen, denn es war eher unwahrscheinlich, dass in ihrem Leben etwas Aufregenderes passierte, als dass Max mal fünf Minuten zu spät von der Schule kam oder die Telekom eine übertrieben hohe Rechnung stellte.

Noch mehr als alles andere aber hasste Ines angebissene Stullen, nicht fertig gemalte Bilder oder andere irgendwie halbe Sachen. Sie musste diesen Weg jetzt zu Ende gehen, also bis zu Richies Wohnung, und dort in Erfahrung bringen, wie es Tanja ging. Und dazu musste sie mit ihr persönlich sprechen. Auf keinen Fall würde sie sich auf Aussagen von solchen Typen wie Hannes oder gar Richie verlassen.

Ines‘ Herz klopfte wild wie eine Bongo, auf der ein Irrer trommelte, als sie den Zeigefinger lange und fest, bis er ganz weiß wurde, auf den Klingelknopf von Richies Wohnung drückte. Kurz darauf gab die Gegensprechanlage ein heiseres Krächzen von sich. Richie war also da.

„Hallo Richie, ist Tanja bei dir?“

Ein raues Lachen, dann Stille. Ines fragte noch einmal, erhielt jedoch als Antwort ein genervtes „Nee“ oder „Nö“.

„Wo ist Tanja!“, schrie Ines in die weißen Plastiklamellen.

Die Anlage schwieg zunächst, offenbar war Richie überrascht von so viel Wut.

„Aufgefuttert, mit Ketchup!“, plärrte es schnarrend in Ines‘ Ohr, dann vernahm sie ein Knacken. Richie hatte aufgelegt. Auf weiteres Sturmklingeln kam keine Reaktion, vermutlich hatte Richie die Klingel abgestellt. Frustriert starrte Ines noch eine Weile auf die Namensschilder, wobei ihr der Name Petersdorf auffiel. Der kam ihr bekannt vor, genau wie Schmidt, logisch, oder auch Kinkel. Ein Kinkel ging mal in ihre Klasse.

Was sollte sie jetzt tun? Nach Hause fahren, ohne wirklich Bescheid zu wissen? Oder hier vor der Tür warten, bis Tanja endlich aus dem Haus spazierte? Oh nein, keine Minute länger wollte sie mehr vor diesem Hauseingang stehen und so aussehen, als wäre sie von ihrem Date versetzt worden. Also lief sie einfach los, erst mal in Richtung U-Bahn.

Doch Ines kam nicht weit. An der nächsten Straßenecke versperrten ihr Stühle und Tische den Weg, die vor einer Eckkneipe auf dem Gehweg standen. Im ersten Moment wollte sich Ines über diese Frechheit ärgern, dann aber setzte sie sich einfach an einen kleinen Tisch. Versonnen betrachtete sie das gegenüberliegende alte Haus mit der reichverzierten, aber bröckelnden Fassade, an der sich eine buschige Kletterpflanze trotzig emporrankte. Dieser Anblick besänftigte Ines, und sie beschloss, mindestens ebenso trotzig, den Rest dieses verpfuschten Samstags einfach zu genießen.

Als eine junge Frau an ihren Tisch trat und sich überaus freundlich nach ihren Wünschen erkundigte, erschrak Ines. Danach war sie schon lange nicht mehr gefragt worden. Doch ihr fiel sofort etwas ein, was man sich an einem heißen Sommertag wie diesem wünschen könnte.

„Sex on the Beach“, sagte Ines, lächelte verschämt und wurde knallrot.

Seit Tanja diesen Cocktail bei jeder Gelegenheit erwähnte, selbstverständlich immer beiläufig, hatte Ines ihn probieren wollen. Sie selbst kannte bloß die langweiligere Variante, „Picknick am See“.

Wenige Minuten später stand dieses geheimnisvolle Getränk endlich vor ihr. Eine trübe, rotorange Flüssigkeit in einem bauchigen Glas, in dem ein schwarzer Strohhalm steckte. Vorsichtig nahm Ines einen kleinen Schluck. Der Cocktail schmeckte etwas scharf, äußerst fruchtig und nicht zu süß.

Vorsichtig saugte Ines mit dem Strohhalm wohldosierte Schlückchen aus dem Glas, ließ die Eiswürfel darin fröhlich klimpern und grinste zufrieden. Dieses köstliche Getränk verzauberte die Wut auf ihre Freundin in eine Art Dankbarkeit, denn Ines wurde klar, dass sie ohne diesen Affentanz um Tanjas vermeintliches Verschwinden nun zu Hause hin- und herhetzen, die Picknickkiste auspacken, den Geschirrspüler einräumen und die Kinder duschen würde. Und so weiter. Stattdessen aber saß sie lässig am schattigen Tisch eines hübschen Cafés und genoss diesen Nachmittag mit „Sex on the Beach“.

Wäre da nicht dieser kleine, dunkle Stachel gewesen, diese noch immer piekende Frage, warum ihre Freundin nicht einfach kurz an die Tür gekommen war und wenigstens bloß „hallo“ gesagt hatte, mehr nicht, dann wäre die Welt für Ines so wunderbar orangerot wie dieser leckere Cocktail und sie hätte den Rest dieses verkorksten Tages mental in einer bequemen Hängematte abschlaffen können. So aber sah Ines, ohne es zu wollen, immer wieder Tanja vor sich, wie sie nachts, völlig betrunken, bei Richie klingelte und gnadenlos mit ihm abrechnete. Wie sie ihn als kindisch und prollig beschimpfte. Wie Richie, vermutlich ebenfalls betrunken, darauf reagiert haben mochte, wollte sie sich hingegen auf keinen Fall ausmalen.

Der Cocktail verdrehte Ines den Kopf, und im Nu hatte sie das Glas ausgetrunken. Ausgetrunken. Aufgefuttert, mit Ketchup, hatte Richie gesagt. Einem Typen wie ihm durfte man doch alles zutrauen. Wenn dieser Idiot doch nur die Tür aufmachen würde! In diesem Moment blinkte der Name Petersdorf in Ines‘ Kopf wie in riesiger bunter Leuchtschrift auf. Was zunächst nach Zufall aussah, ergab einen Sinn, als Ines einfiel, was Tanja einmal nebenbei erwähnt hatte: Frau Petersdorf besaß einen Schlüssel von Richies Wohnung! Für alle Fälle.

Ines konnte es kaum abwarten, ihren Cocktail endlich zu bezahlen. Zügig lief sie zurück zu Richies Haustür und klingelte bei Petersdorf. Die Nachbarin meldete sich, ihre Stimme klang misstrauisch. Erst zögerte die alte Frau, ihre eigene Wohnungstür zu öffnen. Dann weigerte sie sich, Richies Schlüssel herauszurücken. Als Ines jedoch, angeregt durch den Alkohol, die mögliche Tragödie so dramatisch wie möglich an die triste, grauweiß verputzte Wand des Hausflurs malte, erinnerte sich Frau Petersdorf an die vielen nächtlichen Streitereien, die sie hatte mit anhören müssen, und gab endlich nach. Sie holte den Schlüssel, bestand jedoch darauf, die Tür selbst aufzuschließen.

Als sie endlich vor Richies Wohnung standen, in der laut und deutlich Bässe wummerten wie schwere Pumpmaschinen, weigerte sich die alte Frau wiederum, den Schlüssel zu benutzen. Sie befahl Ines zu klingeln. Was sie auch tat. Die Klingel aber war noch immer abgestellt. Frau Petersdorf sah nun durchaus ein, dass etwas unternommen werden musste, wollte jedoch lieber gleich die Polizei rufen. Geduldig redete Ines weiter auf die störrische Alte ein, bis diese endlich mit zittrigen Fingern die Tür zu Richies Wohnung aufschloss, nicht ohne Ines missbilligende Blicke zuzuwerfen.

Unter diesen flüchtete Ines schleunigst durch die geöffnete Tür hinein in den kleinen Korridor der Wohnung. Dort lagen Klamotten verstreut über den Boden, ebenso im Zimmer geradezu, das mit Sofa, Riesenflachbildfernseher und Regal vermutlich ein Wohnzimmer darstellen sollte. Die harten Technobeats aber donnerten aus dem Raum zur Linken, dessen Tür nur angelehnt war.

Entschlossen drückte Ines die Tür weiter auf und ging einfach hinein.

Dieses Zimmer war ebenfalls spärlich und lieblos eingerichtet. Ines erblickte einen chaotischen Schreibtisch, einen langweiligen braunen Schrank und hinten am Fenster schließlich ein riesiges Bett, auf dem sich ein Knäuel aus nacktem Fleisch gerade zu entwirren begann. Ines erschrak heftig. Diesmal vor ihrer eigenen Courage. Was, um Himmels willen, machte sie hier bloß? In der unsinnigen Hoffnung, vielleicht unbemerkt zu bleiben, trat Ines einen großen Schritt zurück. Doch statt im Flur zu landen, krachte sie mit dem Rücken gegen die geöffnete Tür.

„Was machst du denn hier?“, fragte Tanja überrascht, zog sich die graugemusterte Bettdecke bis zum Kinn und kicherte, als befände sie sich gerade auf einem bizarren Trip. Mit ihrem verstrubbelten dunklen Haar und den schwarzen Schatten unter den großen Augen sah sie schön verrucht aus wie eine dieser melancholischen Sängerinnen namens Amy, Katy oder Lana. Und plötzlich kam es Ines äußerst absurd vor, dass sie sich um so eine bitch wie Tanja überhaupt Sorgen gemacht hatte.

„Und du?“, schrie Ines einfach zurück. „Was machst du hier?“

„Wonach sieht’s denn wohl aus?“, entgegnete Tanja, erneut aufrichtig überrascht, diesmal von der Wut ihrer Freundin. Mit ihren schmalen Fingern angelte sie nach den Zigaretten, die auf dem Fensterbrett lagen, während Richie nackt neben ihr kniete, reglos und mit offenem Mund, so dass er aussah wie die rätselhafte Statue eines durchgeknallten Bildhauers. Ines glaubte Sperma zu riechen und fragte sich, wann sie selbst zuletzt Sex gehabt hatte. Sie erinnerte sich nicht. Stattdessen fiel ihr ein, wie gründlich sie Volker heute dieses Picknick verdorben hatte. Und wem sie das zu verdanken hatte. Und plötzlich wurde sie ganz ruhig. Jedoch keineswegs gelassen, sondern hochkonzentriert.

„Na dann ist ja alles gut“, sagte Ines freundlich und lächelte sogar. „Und ich dachte schon, du bist froh, diesen degenerierten Brüllaffen los zu sein, der so egoistisch und prollig ist.“

„Hör auf!“, kreischte Tanja mit sich überschlagender Stimme.

„Und vor allem – so kindisch!“

Interessiert bemerkte Ines, wie Tanjas hübsches Gesicht rotorange anlief, ähnlich wie ein „Sex on the Beach“, während Richie seine Freundin von der Seite anstarrte, als hätte sie ihm soeben eine Machete in die nackte Seite gerammt.

„Es ist wieder alles okay mit uns!“ Tanjas Stimme klang schrill wie eine kratzende Gabel auf dem Teller, und ihre Blicke, scharf wie Laserstrahlen, schienen Ines killen zu wollen, um sie endlich zum Schweigen zu bringen.

Die aber lächelte noch immer. Sie hatte es so satt. All diese Dramen und Angebereien. Wodka, Pfirsichlikör, Grenadine und Fruchtsäfte – das war doch das ganze Geheimnis dieses albernen Cocktails, wie ihr die Getränkekarte des Cafés verraten hatte. Ines war wütend auf Tanja. Und zwar, wie sie nun feststellten musste, schon seit Jahren. Doch sie ließ sich nichts davon anmerken.

„Alles wieder okay, ja?“, fragte Ines vermeintlich erstaunt und erkundigte sich mit besorgter Stimme: „Wirklich? Auch im Bett? Funktioniert der kleine Pinsel wieder?“

Ein Zucken lief über Tanja blasse Wangen und ihre Schultern erschlafften, während Richies Gesicht sich nunmehr zur Faust ballte. Ines winkte fröhlich zum Abschied, dann drehte sie sich um und schlenderte zufrieden aus der Wohnung hinaus. Vorbei an der alten Frau Petersdorf, die ihr verwirrt hinterherblickte.

Erschöpft und zugleich aufgeputscht wie nach einem Boxkampf, den sie in letzter Sekunde für sich entschieden hatte, schlich Ines in ihre Wohnung und hörte den Fernseher laufen. Zum ersten Mal in ihrem Leben wirkte dieses Geräusch beruhigend auf sie, ebenso der vertraute Anblick ihres Mannes, der komplett mit dem Sofa verschmolzen schien.

„Na und? Lebt Tanja noch?“, erkundigte sich Volker amüsiert.

„Keine Ahnung“, antwortete Ines wahrheitsgemäß und ihr Blick musterte, wohl aus Gewohnheit, die offene Chipstüte auf dem Tisch und die Flasche Bier. Als Volker das bemerkte, holte er so tief Luft, als müsste die für den Rest des Fußballspiels reichen. Ines hatte ihm das Picknick versaut, diesen Fernsehabend aber würde er sich auf keinen Fall von ihr verderben lassen, schwor er sich beim Leben von Robben und Ribéry. Und falls Ines das versuchen sollte, bekäme sie eine treffende Antwort auf ihre blöde Frage vom See. Wie Frauen und Fußball, so gut passen wir beide zusammen, wollte Volker gerade losschimpfen, als ein kleines Wunder geschah: Ohne ein vorwurfsvolles Wort zu verlieren, plumpste Ines neben ihn aufs Sofa, griff beherzt in die Chipstüte und trank einen Schluck von seinem Bier. Und guckte Fußball!

Allerdings verfolgte sie keineswegs das Spiel – was dem verblüfften Volker natürlich entging – sondern starrte lediglich auf den Bildschirm wie in ein Aquarium, in dem sich statt bunter Fische lauter sportliche Männer quirlig-elegant von einer Ecke zur andern bewegten.

„Ich bin nicht mehr dieselbe“, bekannte Ines unvermittelt und nahm noch einen kräftigen Schluck Bier aus der Flasche.

„Ja, das merke ich“, entgegnete Volker erfreut und legte zärtlich den Arm um die Schultern seiner Frau.

BEZIEHUNGSWEISE TÖDLICH

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