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Ferien auf dem Lande

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„Der Hund frisst nicht.“

Vorwurfsvoll, als wäre ich persönlich daran schuld, sieht meine Tante mich an. Ich lächel bloß milde zurück. Die Tante ist schon über achtzig, eine alte Frau also, die übersieht, dass sie, wenn ich nicht hier wäre, vorübergehend in ein Seniorenheim gesteckt worden wäre. Meine Oma, mit der sie sonst zusammenlebt, erfüllt sich nämlich gerade ihren Jugendtraum: Eine Reise nach Jerusalem.

„Mama, ich will Kika gucken!“, fordert das Kind.

„Nein, wir gehen lieber raus in den Garten“, antworte ich bestimmt.

Das Kind murrt. Allerhöchste Zeit, dass es mal rauskommt aus der Stadt, um ein bisschen frische Landluft zu schnuppern.

„Seit du hier bist, frisst er nicht mehr!“, behauptet die Tante stur.

„Ich will aber lieber Kika gucken!“, trotzt das Kind.

„Wir gehen in den Garten“, rufe ich der Tante zu, nehme das unwillige Kind an der Hand und zerre es hinter mir her.

„Ja, geh nur, geh“, knurrt die Tante mir hinterher.

Es ist der erste Tag. Es wird schon werden.

Im Gegensatz zu Jerusalem, wo die Hitze einen sicher erdrückt und Straßenstaub die Lungen blockiert, ist dieser Garten ein Paradies. Mindestens zwanzig Sorten Grün, ein üppiger Cocktail aus Blütendüften und eine Symphonie aus Vogelgezwitscher umschmeicheln die Sinne. Wellness pur. Ferien auf dem Lande sind genau das Richtige. Für das Kind. Für meine Nerven. Und für meinen Geldbeutel.

Zuerst gehe ich mit dem Kind rüber zu den freundlichen Nachbarn, „Hühner und Häschen gucken“. Dann hole ich den alten hölzernen Handwagen aus dem Schuppen und spiele Pferd, indem ich das Kind ein paar große Runden durch den Garten ziehe, mal im Schritt, mal im Galopp. Das Kind kreischt vergnügt, und ich bin zufrieden. Vierzehn erholsame Tage liegen vor mir. Zwei Wochen, in denen ich mein aufreibendes Großstadtleben hinter mir lassen kann. Die blöde Geschichte mit Boris. Den Minijob im Kindergarten. Das kaputte Fenster im Bad. Das ganz alltägliche Chaos halt.

„Dem fehlt die Traude“, begründet die Tante das Theater, das gerade aufgeführt wird, als wir ins Haus zurückkommen. Während wir draußen im Garten herumtollten, hat meine Tante eine Nachbarin herbeitelefoniert. Und nun stehen die beiden alten Damen mit ihren Krückstöcken neben dem großen Hund, tätscheln ihn liebevoll den Rücken und rufen im Chor: „Fein frisst das Hundchen, ganz prima, so ein feines Fresschen, du bist ja ein ganz braves Hundchen!“

Das alte Schäfer-„Hundchen“ wedelt lässig mit dem Schwanz und wirft mir von unten einen höhnischen Blick zu, um dann weiter seine Suppe aus Rindfleisch, Brekkies und Brühe zu schlabbern. Hält es mal kurz inne, um Luft zu holen, schwillt der Jubelchor der alten Damen sofort wieder an. „Na komm, noch ein bisschen, so ist’s fein.“

Als der Hund endlich brav aufgefressen hat, fragt mich die Nachbarin, ob ich schon wüsste, dass die Fischer-Steffi sich umgebracht hat. Das weiß ich natürlich nicht, kenne die Frau nicht mal. Daraufhin ist die Nachbarin furchtbar enttäuscht. Ganz sicher war sie sich, dass ich die Fischer-Steffi von der Dorfdisko kennen würde, weil die in meinem Alter war. Da werde ich schließlich doch neugierig und frage endlich nach, warum sich die Fischer-Steffi denn umgebracht hat.

„Ach, die Ärmste! Hat einfach nichts auf die Reihe gekriegt und einen Mann hat sie auch nicht gefunden.“

Aha. Hier auf dem Land wird noch Klartext geredet. Geradeheraus, ohne auf den Takt zu achten.

Als wir wenig später zu dritt am Abendbrottisch sitzen, behauptet die Tante wieder, ich hätte kein Herz für Tiere. Und sie hat recht. Wie auch? Ich brauche mein Herz, um das Kind und die Tante damit zu lieben. Für einen großen Hund ist da im Moment wirklich kein Kämmerchen mehr frei.

„Das ist für die Frau Seifert, sagst du beim Kruschke“, befiehlt die Tante, als sie mir Einkaufszettel und Portemonnaie in die Hand drückt. Zum Fleischer soll ich, zu einem speziellen, der notgeschlachtete Tiere zu Wurst und Kotelett verarbeitet.

„Dann gehst du zum Jakobi und holst ein paar Kirschen fürs Kind. Und vom Knöfel ein Dreipfundbrot.“

„Ich komm mit, ich komm mit“, singt das Kind fröhlich. Resigniert gebe ich mein Okay, obwohl ich die Einkäufe lieber fix allein mit dem Fahrrad erledigt hätte. Nun muss ich das Rad schieben. Mitnehmen muss ich es auf jeden Fall, stelle ich fest, nachdem ich einen Blick auf den Einkaufszettel geworfen und die Kilos an Leber, Lunge und Herz addiert habe.

Aus dem kleinen Laden des Notschlächters quillt eine Menschenschlange bis nach draußen. Der Bedarf an billigem Fleisch ist offenbar riesig. Als das Kind beim Anblick dieser Schlange zu quengeln beginnt, spiele ich mit ihm eine Runde „Ich sehe was, was du nicht siehst“.

„... und das ist rot!“, rufe ich und meine damit das speckig glänzende Häuserdach über dem Fleischerladen, doch das Kind deutet mit seinem kleinen Zeigefinger auf einen schicken Flitzer, der gerade auf der anderen Straßenseite einparkt und wirklich ein Blickfang ist, genau wie der Typ, der kurz darauf aussteigt. Persilweißes Hemd, Designer-Sonnenbrille, volles, dunkles Haar. Hat sich etwa ein Italiener hierher verirrt?, wundere ich mich. Dann wundere ich mich gleich noch mal. Denn der Typ kommt mir bekannt vor.

„Hallo Bernd!“, hallt mein Ruf durch die verschlafene Straße und ich winke ihm zu. Und bereue meinen Eifer sofort. Denn als Bernd tatsächlich die Straße überquert, direkt und freudestrahlend auf mich zusteuert, sehe ich mich plötzlich gnadenlos mit seinen Augen: Nicht einen Hauch Kajal um die müden Lider, das praktische graue Herrenshirt schlabbert wie ein Sack an mir herab, und selbstverständlich trage ich die leicht angeschmuddelte Gartenjeans. Sogar eine Vogelscheuche sieht eleganter aus. Und das soll sie gewesen sein, die große Liebe?

Rot vor Scham quäle ich mir ein verzweifeltes Lächeln ins Gesicht. Ganz anders Bernd, der absolut lässig grinst. Logisch. Sieht er doch wiederum aus, als wäre er an der Côte d’Azur zu Hause statt in diesem Kaff.

Unsere letzte Begegnung fand vermutlich unter einer silbernen Diskokugel statt, als wir, mit reichlich Promille im Blut, zur Musik von Neil Young, ACDC oder Lindenberg ausflippten. Klar also, dass wir uns ein gefühltes Jahrhundert später im grellen Sonnenlicht mitten auf der Dorfstraße unbeholfen wie zwei schüchterne Teenager begrüßen und nicht wissen, was wir sagen sollen. Zum Glück habe ich das Kind dabei, das ich ihm sogleich vorstelle. Voller Stolz berichtet Bernd, dass er auch zwei davon hat und mit seiner Familie in derselben Straße wie früher wohnt, direkt neben seinen Eltern. Ich erkläre daraufhin überflüssigerweise, dass ich bei meiner Tante wohne – wo sonst? –, diesmal aber länger zu Besuch sein werde, nicht bloß wie sonst übers Wochenende. Als die Schlange vorm Fleischer in Bewegung gerät, verabschiedet sich Bernd souverän mit ein paar Floskeln: Die Termine. Man sieht sich. Auf jeden Fall.

„Vielleicht auf ein Bierchen im Monopoly?“, schlage ich vor und finde es ziemlich mutig von mir, so konkret zu werden.

„Gute Idee!“, antwortet er unverbindlich, lacht mir fröhlich zu und geht zurück zu seinem roten Traum auf Rädern.

Wie paralysiert blicke ich ihm hinterher. Neidisch auf dieses Auto, diese Lässigkeit, vor allem aber auf die Termine.

„Jetzt bin ich wieder dran“, kräht das Kind. „Ich sehe was, was du nicht siehst!“

Ja, jetzt ist das Kind wieder dran. Ich muss weiterspielen.

Ein Faultier schwingt sich gemütlich von Ast zu Ast, es frisst und schläft. Dann wacht es auf, baumelt träge zum nächsten Baum rüber, knabbert dort ein wenig herum und schläft wieder. Die Tante und das Kind schauen dem Faultier fasziniert dabei zu, während mir fast die Tränen kommen. Jeden Abend gibt es einen anderen schrecklichen Tierfilm. Und ich hasse sie alle. Dieses dauernde Werden und Vergehen von Leben macht mich trübsinnig, diese Sinnlosigkeit des Ewiggleichen, die beim Faultier besonders augenfällig wird.

„Wann ist der Film denn vorbei?“, frage ich gequält, obwohl ich genau weiß, dass er noch mindestens sechsundzwanzig Minuten dauert.

„Der ist doch so interessant! Du hast wirklich kein Herz für Tiere“, schimpft die Tante wieder.

Ich muss hier raus. Unbedingt und sofort. Unter Menschen. Am liebsten zu Bernd.

Als der grausame Tierfilm endlich doch zu Ende ist und das Kind im Bett liegt, erkläre ich der Tante, dass ich noch eine Runde joggen gehe. Die ist darüber nicht begeistert. Weil sie abends nicht gern allein ist, wegen der Einbrecher. Noch größere Sorgen macht sie sich allerdings wegen der Triebtäter, von denen es dort draußen nur so zu wimmeln scheint. Jammernd fordert mich die Tante auf, wenigstens an das arme Kind zu denken und malt mir aus, wie furchtbar es wäre, wenn mir etwas zustoßen würde, wo es doch nicht mal einen Vater hat. Ihr Mitleid mit mir hingegen scheint sich in Grenzen zu halten. Ein Grund mehr, ihr freundlich, aber nachdrücklich zu erklären, dass ich tagsüber nun mal keine Zeit zum Joggen habe. Fast zeigt sich die Tante einsichtig, bis ihr einfällt, das Joggen an sich völlig überflüssig zu finden.

„Du rennst doch schon den ganzen Tag herum. Wieso willst du das abends auch noch machen? Du musst doch kaputt sein.“

„Das ist doch was anderes“, behaupte ich, und dank meiner Vorfreude auf das Wiedersehen mit Bernd bringe ich sogar die Geduld auf, der Tante die Vorzüge des Joggens bis in biochemische Details hinein zu erklären, so dass sie endlich verstummt und mich lieber gehen lässt.

Beschwingt verlasse ich das Haus und sprinte vor bis zum Zaun. Als ich die Gartentür hinter mir ins Schloss fallen höre, atme ich auf. Endlich allein, genieße ich jeden einzelnen Schritt, den ich die Straße entlanggehe, unterwegs in die Dämmerung und in ein Abenteuer, so absurd banal, dass meine beachtliche Vorfreude darauf umso lächerlicher erscheint. Aber ich genieße dieses alberne Kribbeln im Bauch trotzdem, und mit jedem Schritt, mit dem ich mich Bernds Haus nähere, fühle ich mich ein gutes Jahr jünger. Als ich endlich in den Rosensteg einbiege, scheinen die letzten zwanzig Jahre meines Lebens von mir abgefallen wie eine Last, deren ungeheures Gewicht mir erst in diesem Moment bewusst wird.

Dieser Rosensteg war schon oft mein Fluchtweg. Unzählige Male benutzt, wenn ich von meinen Eltern während der Ferien in dieses Kaff abgeschoben wurde und vor Langeweile fast wahnsinnig wurde. Ähnlich irre wie jetzt vor lauter Geschäftigkeit: Geschirrspüler ausräumen, Blumen pflanzen, einkaufen gehen, sauber machen, Wasser in die Plansche füllen, Essen kochen, Kaffee trinken, Garten gießen, dem Kind was vorlesen, in den Keller rennen… So geht das den ganzen Tag. Eingeklemmt zwischen zwei hilfsbedürftigen Generationen komme ich weder zum Lesen, noch dazu, mir die Beine zu rasieren. Und abends baumel ich in den Seilen wie dieses blöde Faultier an seinem Ast.

Vor nunmehr zwanzig Jahren, auf meiner Flucht vor tödlicher Langeweile, war Bernd schon einmal mein Retter gewesen. Auf seinem roten Moped düsten wir übers öde Land, außerdem versorgte er mich mit Cola, Musik und Zigaretten. Dafür bekam er hin und wieder, je nach Laune, einen gelangweilten Kuss von mir. Mehr nicht. Der Junge hatte nämlich Pickel. Vor allem aber hatte er mich viel zu offensichtlich gern.

Viel zu schnell stehe ich vor dem Nachbargrundstück von Bernds Eltern. Ein vermutlich strahlendweißes Haus erhebt sich inmitten eines auf wild getrimmten Gartens mit kleinen Bäumen, Sträuchern und Blumen, durch den sich ein sauber gepflasterter Weg zur Haustür schlängelt. Während ich die Gartentür öffne und die Steine betrete, sucht mich plötzlich ein Gewitter aus tausend Zweifeln heim und verwandelt mich in einen Alien, so fremd fühl’ ich mich plötzlich in dieser Welt. Doch als hätte ich irgendeine komische Mission zu erfüllen, laufe ich wie ferngesteuert den kleinen Weg entlang und drücke entschlossen den braunen Klingelknopf.

Ich komme unangekündigt. Na und? Es ist doch erst halb zehn!

Bernd öffnet die Tür und guckt noch dämlicher als befürchtet. Als hätte ich keine Augen im Kopf, die das sehen können, frage ich möglichst ungezwungen: „Wie wär’s mit einem Bierchen im Monopoly?“

Halb zehn klingelt hier niemand unangemeldet an der Haustür. Also steht Bernds Frau hinter ihm und lugt ihm neugierig über die Schulter. Um es mir mit der bloß nicht zu verscherzen, stelle ich mich unbeholfen als „Bernds alte Bekannte“ vor, was unglaublich bescheuert klingt, aber immerhin unverfänglicher als „Bernds erste große Liebe“.

Und siehe da, nur wenige Minuten später sitzen wir zu dritt in hellen Korbsesseln auf der geräumigen Terrasse, halten uns an riesigen Rotweinkelchen fest, in denen lediglich eine kleine rote Pfütze den Boden bedeckt, und Bernd erzählt begeistert von seinem neuen Hobby, dem Surfen. Er trainiert auf dem nahegelegenen Baggersee und ist schon so fortgeschritten, dass er im nächsten Spanienurlaub „den Atlantik rocken“ will. Seiner Frau geht es genauso, und schon bald fachsimpeln die beiden lebhaft miteinander herum und ich tue so, als würde ich das Surfen ebenfalls aufregend finden, reiße die Augen auf und grinse oder nicke ab und zu, je nachdem.

Verwundert beobachte ich Bernd, bei dem sich die Vorzeichen umgekehrt haben. Aus dem Minus-Mann, der früher unverhältnismäßig viele Zigaretten gegen wenige, lieblose Küsse eintauschte, ist erstaunlicherweise ein erfolgreicher Geschäftsmann geworden. Wie ich von der Tante erfahren habe, hat er sich und seiner Familie mit einem florierenden Getränkemarkt eine solide Existenz geschaffen.

Ein wenig neidisch beobachte ich auch seine Frau, deren Namen ich zu Recht vergessen habe. Hübsch und freundlich ist sie, doch derart oberflächlich, dass sie in mir niemals eine Bedrohung erkennen würde. So eine Defizit-Lady wie mich, die streng provisorisch lebt, mit zum Scheitern verdammten Beziehungen, ständig wechselnden Jobs und chronisch ausgereiztem Dispo, würde die nie als Konkurrenz empfinden. Das gibt mir den Rest. Verunsichert mich völlig. Degradiert mich zu einem bedürftigen Nichts, zu einem bloßen Schatten meiner glamourösen Vergangenheit.

Die ganze Zeit höre ich also den beiden Möchtegernsurfern zu, dabei sollte ich auch mal was sagen. Doch Bernd und seine selbstzufriedene Trulla – oder hieß sie Anja? – wollen einfach nichts von mir wissen. Außer, ob ich ebenfalls Sport treibe. Obwohl ich durchaus gelegentlich jogge oder Yoga probiere, verneine ich das heftig, weil Sport nun mal nicht zu meinem Image passt. Außerdem finde ich dieses Thema ungefähr so spannend wie eine Vorabendserie von ARD oder ZDF. Auf keinen Fall bin ich hier, um mich über sportliche Aktivitäten auszutauschen.

Warum aber bin ich überhaupt hier? Um eine Antwort auf diese Frage zu finden und den Mut, endlich auch mal den Mund aufzumachen, schenke ich mir zuweilen selbst Wein nach, während Bernds Frau immer öfter gähnt. Bald ist die Flasche leer, obwohl die Gastgeber noch immer an ihrem ersten Glas herumnippen.

„Habt ihr vielleicht noch Wein da?“, frage ich vorsichtig, obwohl ich sicher bin, dass die noch welchen dahaben. Trotzdem scheint meine Frage die beiden zu irritieren. Statt die Wahrheit zu sagen, „Aber natürlich, unten im Keller!“, werfen sie einander Blicke zu, die ich lieber nicht interpretieren will. Dann spuckt Bernd mir mitten ins Gesicht: „Du, wir müssen morgen früh raus.“

Und gleich noch mal: „Du findest doch allein hinaus, oder?“

„Natürlich“, entgegne ich trotzig, stehe auf und stolpere, ohne mich umzudrehen, durch ein spärlich eingerichtetes Wohnzimmer und den Flur, zur Wohnungstür hinaus. Als ich wieder auf dem nunmehr stockdunklen Rosensteg stehe, erinnere ich mich bitter daran, wie scheiße ich Ferien auf dem Lande eigentlich finde. Und zwar immer schon. Und das zu Recht.

Auch am nächsten Tag mache ich wieder alles falsch. Das Fenster in der Küche war über Nacht nicht korrekt verschlossen, das Kind guckt zu viel fern, das Kassler ist zu trocken, weil daran gute Butter fehlt. Und die Spargelschalen hab’ ich doch tatsächlich auf den Mist geworfen! Obwohl die Tante daraus ein schönes Süppchen hatte kochen wollen. Wie das hier alle tun.

Mich verwirrt diese strenge Ordnung. In der Großstadt, wo mein Leben so zerfasert ist, dass ich längst den Überblick verloren habe, komme ich besser klar. Hier hingegen sind alle Gewohnheiten, ob nun der Tagesablauf von Bernd oder die Marotten der Tante, so festzementiert wie die Fundamente ihrer Häuser.

Ich gebe zu, dass vieles in meinem Leben krumm und schief läuft. Gern würde ich der Regierung, den Genen oder meinem Sternzeichen die Schuld dafür geben, aber vermutlich liegt es eher daran, dass ich mich einfach zu wenig anstrenge. Doch sogar hier und jetzt, wo ich mir wirklich große Mühe gebe, der Tante alles recht zu machen, gelingt mir das kaum. Meist mache ich alles falsch, so dass die alte Dame mich oft fragend ansieht, als würde sie darüber rätseln, ob ich nun aus Boshaftigkeit oder Dummheit so handle. Und im nächsten Augenblick kann es passieren, dass sie aus einem nichtigen Anlass den Hund überschwänglich lobt und feststellt, wie lieb und intelligent er ist.

In solchen Momenten gucke ich die Tante fassungslos an und erkenne deutlich: Die meint das wirklich so. Kein einziger Funken Ironie blitzt in den wässrig-blauen Augen auf, kein Anflug eines Lächelns mildert die Behauptung, die sich hinter diesen scheinbar harmlosen Worten vom lieben und intelligenten Hund versteckt, und zwar nicht mal besonders gut: Ich, ihre Großnichte, bin böse und dämlich.

Mein Leben ist eine Baustelle, wenn nicht gar eine Ruine. Entsprechend habe ich schon einiges durch und nehme Niederlagen meist sportlich. Doch dieses übertriebene Lob für den Hund ist zu viel. Tränen rinnen mir übers Gesicht, und schluchzend wie ein kleines Kind frage ich die Tante endlich, was das soll. Warum ich ihr bitteschön nie etwas recht machen kann, obwohl ich den ganzen Tag herumwirtschafte wie eine Blöde und mir wirklich Mühe gebe.

Die Tante erschrickt. Dann aber verteidigt sie sich. Und am Ende bin ich es natürlich wieder, die etwas falsch gemacht hat: Ihren barschen Ton hätte ich völlig falsch verstanden! Sie könne nun mal nicht anders sprechen, denn ihre Stimme sei alt und rau. Lachend nehme ich ihre Worte als Entschuldigung an. Doch als ich die Tante zur Versöhnung umarme, sind die flüchtigen Mordgedanken in meinem Kopf längst zu einem konkreten Plan geronnen.

„Hast du den Hund gesehen?“, fragt mich die Tante nach dem gemütlichen Kaffeetrinken unterm schattigen Nussbaum, als ich gerade das schmutzige Geschirr aufs Tablett staple und ins Haus bringen will.

„Vielleicht ist er ja drin, ich seh mal nach“, schlage ich vor.

Drin im Haus aber ist kein Hund und im Garten auch nicht. Ich nehme das Kind und ziehe mit ihm los, hinaus auf die nahen Felder, wo wir engagiert immer wieder den Namen des Hundes ins weite Land schreien. Das macht Spaß, ist aber vergeblich.

Auf dem Rückweg biege ich in die kleine Straße ein, in der Bernd wohnt. Den Hund werde ich dort nicht finden. Vielleicht aber einen kleinen Triumph.

„Was willst du?“, fragt Bernd, als ich mit dem Kind an der Hand vor seiner Haustür stehe, als bräuchte ich dringend Asyl. Seine Stimme ist ebenfalls rau, doch bei ihm kann das nun wirklich nicht am Alter liegen. „Wir essen gerade Abendbrot.“

Wie für ein launiges Reklamefoto drapiert sehe ich seine kleine Bilderbuchfamilie vor mir, wie sie unbehelligt von alten Tanten und psychotischen Kötern am liebevoll gedeckten Tisch sitzt, an dem die Stühle so genau abgezählt sind, dass dort auf keinen Fall für Überraschungsgäste Platz ist. Und plötzlich tut mir dieser Bernd, der alles hat, irgendwie leid. Und ich will ihn wirklich nicht weiter stören und suche eilig nach einem triftigen Grund für meinen spontanen Besuch.

„Ein Kinderfahrrad würde ich mir gern ausborgen, nur für ein paar Tage. Ginge das?“, frage ich harmlos und schenke Bernd mein charmantes Lächeln, das ich soeben wiedergefunden habe.

Das mit dem Fahrrad geht. Vermutlich gerade so, aber immerhin. Im Schuppen, zu dem wir rübergehen, haben sie genug davon. Vor Erleichterung darüber, dass ich sofort gehen will, nachdem er mir ein kleines grünes Fahrrad rübergeschoben hat, zwinkert Bernd mir zu.

Das hätte er nicht tun dürfen. Es erinnert mich so an früher, dass ich sentimental werde und meinen guten Vorsatz, ihn bloß nicht stören zu wollen, sofort über den Gartenzaun werfe. Zum Abschied stelle ich mich daher auf die Zehenspitzen, drücke meinen Mund gegen sein Ohr und hauche konspirativ ein paar Worte hinein, die ihn piesacken werden.

„Samstag um zehn im Monopoly“, diktiere ich ihm direkt in seine verletzlichen Weichteile, in Herz und Lenden. Bernd verzieht das Gesicht, als hätte er starke Schmerzen. Ich aber zucke bloß mit den Schultern, als würde ich mich selbst über diese plötzliche Verabredung wundern, und laufe dem Kind hinterher, das vergnügt auf dem Rad davoneiert. Ich habe wirklich keine Ahnung, was ich von diesem Mann überhaupt will und wie dieser Abend ausgehen wird. Vermutlich werden wir bloß ein paar Gläser Gin Tonic auf die alten Zeiten trinken und einfach dieses gewisse Etwas genießen, das uns vom Tier, das nur fressen und schlafen will, unterscheidet.

„Ach, der findet schon zurück, der ist doch so intelligent“, sagt die Tante und beißt herzhaft in den frischen Kirschkuchen vom Knöfel. Beachtlich rasch scheint sich die Aufregung um den Hund gelegt zu haben. Dabei ist er nun schon einen ganzen Tag und eine Nacht verschwunden.

Wieder sitzen wir gemütlich im Garten und reden, wie meistens, übers Wetter und übers Essen. Die Tante überlegt laut, was wir morgen kochen wollen. Ich schlage Rehkeule vor.

„Was?“

„Rehkeule!“

Die Tante ist überrascht.

„Haben wir die nicht schon gegessen?“

Als wir die Beilagen diskutieren, werde ich darüber belehrt, dass zum Wild Rotkraut gehört, auf keinen Fall Sauerkraut, was natürlich wieder meine blöde Idee war. Wie auch immer, den Vorschlag mit der Rehkeule hat meine Tante geschluckt.

Und sie wird noch mehr schlucken müssen.

Obwohl am nächsten Vormittag die Sonne scheint, ist die Tante äußerst melancholisch. Der Hund beginnt ihr allmählich zu fehlen und ihre Hoffnung, dass er allein zurückfindet, schwindet mit jedem Tag. Als ich verspreche, mich vor dem Kochen noch mal auf die Suche zu begeben, muss die Tante ihre Tränen unterdrücken und behauptet: „Du hast eben doch ein Herz für Tiere, das hab ich doch immer gewusst.“

Voller Elan pumpe ich mein Rad und das von Bernds Kindern auf und los geht’s. Im Sonnenschein radeln das Kind und ich über die weiten Felder, und zwar keineswegs vergeblich. Den Hund finden wir zwar nicht, dafür aber Störche, die hochmütig über die Wiese stapfen, und Frösche, die sich vergnügt am Rand eines Bachs tummeln. Als uns noch ein paar buntgetupfte Schmetterlinge neckisch um die Nasen fliegen, stimme ich prompt ein albernes Kinderlied an und singe es gemeinsam mit meinem fröhlichen Kind. Und endlich, zum allerersten Mal in meinem Leben, genieße ich die Ferien auf dem Land.

„Und, hast du ihn gefunden?“, erkundigt sich die Tante, als ich die Küche betrete.

Ich schüttel den Kopf und gucke dabei so traurig wie möglich.

„Vielleicht sucht er ja die Oma“, vermute ich, während ich endlich die Keule, diesmal mit extra viel Butter, in den Herd schiebe und mich daran mache, die Kartoffeln zu schälen, und zwar fast so hauchdünn, wie es hier Brauch ist.

Die Tante nickt.

„Das könnte sein. Das arme Tier!“

Ich nicke ebenfalls, obwohl ich darüber völlig anders denke. Dieses arme Tier kam mich nämlich ganz schön teuer zu stehen. Über hundert Euro wollte der Kruschke dafür haben, dass er es fachmännisch geschlachtet und in seine Einzelteile zerlegt hat, die zusammengenommen viel schwerer waren, als ich dachte, so dass ich am Vortag während des Mittagsschlafs zweimal zu seinem kleinen Schlachthof radeln musste, um es heim zu schaffen. Und nun ruht dieses „arme Tier“, falsch beschriftet als „Reh“ oder „Schwein“ – schließlich mach’ ich ja immer alles falsch – in der Tiefkühltruhe. Bis auf das linke Hinterbein, das zusammen mit guter Butter in der Kasserolle vor sich hinschmort und bereits einen herrlichen Bratenduft verströmt, den die Tante zufrieden in sich hineinschnuppert.

Goldbraun ist der Braten, als ich ihn stolz aus dem Ofen hole, und nachdem ich die knusprige Keule mit einem scharfen Messer zerteilt habe, packe ich der Tante ein extragroßes Stück davon auf den Teller und sage fröhlich: „So, und dieses gute Stück ist für die Frau Seifert!“

Zufrieden lächelt die Tante. Sie hat einen guten Appetit und lobt den feinen Braten.

Dieses Mal habe ich offenbar alles richtig gemacht.

BEZIEHUNGSWEISE TÖDLICH

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