Читать книгу Spuk im Reihenhaus - Conny Schwarz - Страница 3
ОглавлениеAuf dem Vulkan
Ding ding, ding dong... Das fröhliche Läuten der Glocken riss Tobias aus seinem Alptraum. In einem alten Fischerhaus war er gewesen, dessen Wände so weiß getüncht waren, dass man die unzähligen kleinen schwarzen Krabbeltiere darauf prima erkennen konnte. Manche waren länglich, andere eher rund, manche winzig und wieder andere richtige Brummer, manche hatten sechs Beinchen, andere so viele, dass man sie gar nicht zählen wollte. Nur eines hatten alle Krabbler gemeinsam: Ihr Anblick war furchtbar eklig.
Das weiße Häuschen, von dem Tobias geträumt hatte, bildete gemeinsam mit andern Häuschen und einer Kirche ein kleines Fischerdorf, das am Fuße eines großen Bergs lag. Das aber war nicht etwa irgendein Berg, sondern es war ein rauchender Berg. Ein Vulkan nämlich, aus dessen Öffnung Feuersalven in den Himmel schossen. Und weil das alles noch nicht schrecklich genug für einen richtigen Alptraum war, befand sich dieser Vulkanberg, an dessen Hang das kleine Fischerdorf klebte, mitten im Meer, mehrere Stunden vom sicheren Festland entfernt.
Ungeduldig wartete Tobias darauf, dass die Traumbilder endlich verflogen. Damit das schneller ging, wollte er Licht anmachen. Seine Hand tastete neben seinem Bett herum, um die Nachttischlampe anzuknipsen. Doch so sehr Tobias auch herumfuchtelte, seine Hand griff immer wieder ins Leere und fand weder Lampe noch Nachttisch.
Allmählich gewöhnten sich Tobias’ Augen an die Dunkelheit. Doch was er sah, beruhigte ihn nicht. Im Gegenteil. Er war nämlich gar nicht zu Hause. Zu seinem Entsetzen erkannte er das kleine Fischerhaus wieder, von dem er geträumt hatte. Allmählich dämmerte ihm, dass auch alles andere furchtbare Wirklichkeit war. Diese unzähligen Krabbeltiere. Der Vulkan, dessen Rauchfähnchen er von der Fähre aus deutlich hatte sehen können.
Doch die Realität übertrumpfte noch den Alptraum, denn da war auch noch die Sache mit dem Gepäck. Beim Umsteigen mit dem Flugzeug waren alle drei Reisetaschen abhandengekommen. Sämtliche Klamotten samt Waschzeug und Badesachen lagerten nun irgendwo auf dem Festland. Und daran, dass ihr Gepäck hier in den nächsten Tagen mit der Fähre eintreffen würde, schienen nicht einmal seine Eltern zu glauben. Na wenigstens waren die beiden ganz in der Nähe, jedenfalls konnte Tobias deutlich ihre Stimmen hören.
„Es ist um zwei“, hörte er seine Mutter ängstlich sagen.
„Na und“, antwortete der Vater.
„Kannst du mir mal verraten, wieso hier mitten in der Nacht die Glocken läuten?“, fragte die Mutter vorwurfsvoll, als wäre der Vater persönlich daran schuld.
„Nein“, knurrte der als Antwort.
Jetzt bemerkte auch Tobias, dass die Glocken, die ihn aus dem Schlaf gerissen hatten, noch immer läuteten.
„Vielleicht ist das so eine Art Alarm? Geh doch mal raus nachgucken“, schlug die Mutter vor.
„Wieso Alarm, was soll denn los sein?“, fragte der Vater, doch seine Stimme klang unsicher.
„Na was weiß denn ich, vielleicht bricht der Vulkan aus!“, flüsterte die Mutter aufgeregt. „Vielleicht gibt es hier in diesem Nest keine Sirenen für den Notfall, sondern nur diese Kirchenglocken!“
„Meinst du?“, fragte der Vater.
„Geh doch einfach mal gucken“, forderte die Mutter nunmehr nachdrücklich.
„Wohin soll ich denn gucken gehen“, brummte der Vater. „Und überhaupt war es deine Idee, auf einem Vulkan Urlaub zu machen. Geh doch selber gucken!“
„Ich hab aber Angst vor diesen Viechern“, jammerte die Mutter. „Die sind ja überall. Das konnte ich doch nicht ahnen, dass es hier so viele eklige Tiere gibt!“
Wohl oder übel stand der Vater nun also auf und schlich zur Tür.
„Mach bloß die Tür wieder richtig zu!“, zischte die Mutter.
„Ich hab sie doch noch gar nicht aufgemacht!“, gab der Vater zurück. „Außerdem kommen die Viecher sowieso durch die Ritzen.“
Tobias schüttelte sich. Plötzlich spürte er ein zartes Krabbeln an seinem Fuß und zog ihn schnell zurück. Doch da kitzelte es ihn auch schon am andern Fuß. Tobias bemühte sich, so wenig Platz wie möglich auf seiner Matratze einzunehmen. Sobald er aus Versehen die Wand berührte, zuckte er zusammen. Er wusste kaum noch, wie er liegen sollte. Er wusste nur, dass er am liebsten so leicht wie ein Heliumballon gewesen wäre, um über seinem Bett schweben zu können. Oder so klein wie eine Ameise? Doch die letzte Idee verwarf Tobias sofort wieder. Er mochte sich gar nicht ausmalen, wie monstergroß all die Käfer und Tausendfüßer sein würden, wenn er so winzig wäre wie eine Ameise.
Inzwischen war der Vater draußen vor der Tür angekommen. Die Glocken läuteten noch immer. Ding dong, ding dong, ding dong. Ihr schweres Läuten klang nun allerdings gar nicht mehr fröhlich, sondern eher bedrohlich.
Der Vater kam wieder zur Tür herein und setzte sich auf sein Bett.
„Und?“, fragte die Mutter. „Nun tu doch nicht so geheimnisvoll, sag doch was!“
„Also ich kann da draußen nichts erkennen. Es ist alles dunkel. Eine glühende Lavamasse ist also nicht in Sicht. Schlaf jetzt weiter“, sagte er.
„Weiterschlafen, schön wär’s. Im Gegensatz zu dir habe ich doch noch kein Auge zugetan! Ich will hier weg“, jammerte die Mutter.
„Jetzt sofort? Warum nicht! Sachen packen brauchen wir sowieso nicht, weil die Koffer eh weg sind, also los! Müssen wir nur noch Tobias aufwecken! Und das werden wir auch bald geschafft haben, bei dem Lärm, den wir machen!“
Während seine Eltern sich weiter anzischten wie aufgeregte Schlangen, stieg Tobias unbemerkt aus dem Bett. Er huschte schnell hinüber in die Kochecke und verschwand von dort aus leise durch die Terrassentür hinaus ins Freie.
Draußen atmete er erst einmal tief durch. Sofort vergaß er das Gezeter der Eltern und das Gekrabbel an den Wänden und genoss die frische Brise, die vom nahen Meer herüberwehte.
Obwohl es dunkel war, konnte Tobias allmählich die Silhouette des dicken runden Steinofens erkennen, in dem früher Brot und Pizza gebacken wurde. Alles um ihn herum war grau, wie aus Blei gegossen: der Boden der Terrasse, Tisch und Stühle, sogar die grünen Sträucher und der weiße Ofen. Doch über ihm schwebte eine funkelnde Decke, ein so prächtiger Sternenhimmel, wie er ihn noch nie zuvor gesehen hatte. Hier gab es sicher tausend Sterne mehr als zu Hause und alle leuchteten sie viel heller, staunte Tobias.
Als er sich an den Sternen satt gesehen hatte, raffte der Junge sein bisschen Mut zusammen und schlich um das Haus herum. Zögernd betrat er die kleine Straße, auf der nie Autos fuhren, denn auf dieser Insel gab es nur Esel und Mopeds. Doch zu dieser Uhrzeit waren die kleinen Gassen wie ausgestorben. Nur am Wegrand starrten Tobias zwei kleine grüne Augen an. Vermutlich bloß eine Katze, redete der Junge sich ein, atmete tief durch und ging einfach weiter.
Die kleine Straße führte aufwärts, weg vom Meer in Richtung Kirche, deren Glockenturm sich deutlich gegen den Berg abzeichnete. Tapfer setzte Tobias einen Fuß vor den andern, automatisch wie ein Roboter. Ihm war selbst nicht geheuer, was er da tat, aber er konnte nicht anders.
Die Glocken waren inzwischen verstummt. Doch es war nicht etwa still um ihn herum. Die Geräusche der Nacht begleiteten ihn. Von allen Seiten hörte er es rascheln, fiepen, knistern und knacken. Und alles schrecklich nah.
Als Tobias endlich den leeren Marktplatz erreichte, der friedlich im Mondschein lag, setzte er sich erschöpft auf die Stufen, die zum Eingang der Kirche führten. Er war so müde, dass er befürchtete, auf der Stelle einzuschlafen.
Doch plötzlich durchzuckte es ihn. Am Himmel, dicht über dem Gipfel des Bergs, hatte er einen roten Funken gesehen. Oder hatte er etwa schon geträumt?
Im Nu war Tobias hellwach. Er starrte so lange in die Nacht, bis er die Umrisse der Vulkanspitze ausmachen konnte und brauchte gar nicht lange warten: Wieder spritzte es glühend Rot in den nächtlichen Himmel. Tobias erschrak, als ihm klar wurde, was er da sah: Lava war das. Flüssiges Gestein aus den Tiefen der Erde, das aus dem Krater des Vulkans in den nächtlichen Himmel schoss. Wieder und wieder, mal schwach, ein anderes Mal umso kräftiger. Und wenn eine Weile gar nichts passierte, wurde Tobias schon nervös und fieberte dem nächsten Ausbruch entgegen.
Plötzlich erinnerte er sich daran, was die italienischen Kinder an Bord der Fähre gerufen hatten, als sie sich dem Vulkan näherten: „Una eruzione, una eruzione!“ Ihr Ruf hatte überhaupt nicht ängstlich geklungen, sondern fröhlich.
Je länger Tobias dieses unheimliche Schauspiel beobachtete, desto besser gefiel es ihm. Jeder Spritzer glühende Lava ließ sein Herz wild hüpfen, nun aber vor Freude. Es war wie ein kleines Feuerwerk, nur für ihn allein. Stunde um Stunde saß Tobias still da und staunte fasziniert, wie der Berg sein glühendes Inneres gegen den Himmel spuckte.
Erst als die Morgenröte am Horizont des Meeres zu dämmern begann, erhob sich Tobias schwerfällig und schleppte sich zurück in die alte Fischerhütte, die nun ihre Ferienwohnung war. Seine Eltern schnarchten friedlich. Todmüde, aber seltsam zufrieden, fiel Tobias sofort in einen traumlosen Schlaf. Die kleinen schwarzen Krabbler hatte er gar nicht weiter beachtet. Wer einen echten Vulkanausbruch erlebt hatte, konnte über die Furcht vor kleinen Käfertieren doch nur lachen.
Als Tobias am nächsten Morgen aus der Tür in Freie trat, war die Insel wie verzaubert. So musste das Paradies aussehen: Bei strahlend blauem Himmel konnte man bis zum grünen Meer hinuntersehen, die weißen Häuschen leuchteten in der Sonne und alle Wege und Terrassen waren gesäumt von buschigem Grün mit prächtigen rosa- und lilafarbenen Blüten.
Doch nicht nur die Insel, auch seine Eltern waren wie verwandelt. Der Vater brachte vom morgendlichen Strandspaziergang einen riesigen Tintenfisch mit, den er so stolz präsentierte, als hätte er ihn selbst gefangen – und nicht einem Fischer direkt von Boot abgekauft. Und die Mutter lachte darüber und freute sich aufs Kochen, obwohl die Zubereitung ziemlich eklig werden würde. Dann pfiff sie weiter eine flotte italienische Melodie, während sie vergnügt den Frühstückstisch auf der Terrasse deckte. Als sie Tobias erblickte, fragte sie ihn munter: „Na, mein Großer, gut geschlafen?“
„Na klar“, antwortete Tobias. Verstohlen blickte der Junge zum rauchverschleierten Gipfel des Vulkans hinauf und fühlte sich so erschöpft, als wäre er letzte Nacht dort oben gewesen.
„Und einen Riesenhunger hab ich“, ließ er seine Mutter wissen.
Mehr aber verriet er nicht.