Читать книгу Spuk im Reihenhaus - Conny Schwarz - Страница 5
ОглавлениеZugfahrt ins Ungewisse
„Ich will keinen Hamburger, Mama, wirklich nicht!“, versuchte Timm seine Mutter zu überzeugen.
„Sei doch nicht albern, Junge. Wer weiß, wie lange das hier noch dauert. Eine halbe Stunde mindestens, das haben die doch eben angesagt. In dieser Zeit hab ich dir dreimal einen Hamburger geholt, du Angsthase. Also bis gleich!“, rief die Mutter lachend und verließ das Abteil. Weg war sie.
Natürlich hatte Timm Appetit auf Hamburger, den hatte er eigentlich immer – außer vielleicht, wenn er gerade einen gegessen hatte. Er liebte das süße, weiche Brot, das salzig-saftige Fleisch und diesen Matsch aus Tomate, Zwiebeln und Gurke darauf.
Doch als seine Mutter außer Sichtweite war, wurde ihm flau im Magen. Der Bahnhof, in dem sich der McDonalds befand, war ein gigantisches Labyrinth aus kleinen Läden, unzähligen Gleisen und elend langen Bahnsteigen, auf denen es vor Menschen nur so wimmelte. Und dort draußen irgendwo war nun seine Mutter, während er allein im abfahrbereiten ICE saß. Nun ja, allein wäre gelogen, denn Menschen gab es auch hier drinnen im Zug viele. Nur mit viel Geduld und noch mehr Glück hatten seine Mutter und er überhaupt noch Sitzplätze gefunden.
Doch als sie sich dann endlich hingesetzt und den großen Koffer verstaut hatten, war die erste Durchsage gekommen. Die Abfahrt des Zuges würde sich um fünf Minuten verzögern, hieß es. Der Zugführer sei nicht zum Dienst erschienen. Bei der zweiten Ansage waren es schon zehn, bald danach ganze dreißig Minuten „Verzögerung“.
Timm machte sich so seine Gedanken darüber, was den Zugführer wohl aufgehalten haben könnte. Vielleicht war ihm der Geschirrspüler ausgelaufen, so was hatte Timm schon mal erlebt. Das gab eine Riesensauerei, von der man sich auf keinen Fall wegbewegen durfte, ohne sie zu beseitigen. Oder er hatte etwas Falsches gegessen und kam nicht mehr vom Klo runter, weil er Durchfall hatte, der Ärmste. Vielleicht aber steckte der Zugführer mit seinem Auto einfach nur im Stau.
Egal was es war, auf jeden Fall würde es dauern. Und die Mutter hatte sicher recht. Eine halbe Stunde reichte locker aus, um bei McDonalds einen Hamburger zu besorgen, versuchte Timm sich zu beruhigen. Außerdem war er selbst schuld mit seinem ewigen Gequengel. Doch Timm konnte einfach nicht anders: Sobald er das leuchtende gelbe „M“ erblickte, forderte er von seiner Mutter Hamburger, Chicken Nuggets oder Pommes. Das war schon derart Routine, dass seine Mutter normalerweise auf Durchzug schaltete und gar nicht mehr auf seine Wünsche reagierte. Damit wiederum hatte sich Timm abgefunden und spielte das McD-Spielchen erst recht jedes Mal, wo immer er das gelbe „M“ leuchten sah.
Diesmal aber hatte sich die Mutter nicht an die Spielregeln gehalten, als sie beide an McDonalds vorbeihetzten. Während die Mutter nervös das Gleis suchte, auf dem der Zug nach Berlin abfahren sollte, hatte Timm wie immer automatisch zu quengeln begonnen: „Ich hätte gern einen extragroßen Hamburger, fünfzig Chicken Nuggets und eine XXL Portion Pommes mit zehn Tütchen Ketchup. “
Doch ausgerechnet heute hatte die Mutter ihn nicht ignoriert, sondern ihn angefaucht und gefragt, ob er denn Lust habe, den Zug zu verpassen. Dann solle er sich ruhig bei McDonalds anstellen. Er könne gern mit seinem Hamburger hier in Hamburg bleiben – haha, wie hübsch das passte! – sie aber würde sich in den Zug setzen und nach Hause fahren. Zur Not auch allein! Das hatte sie wirklich gesagt.
Und jetzt war es genau umgekehrt. Nun stand seine Mutter bei McDonalds in der Schlange, während er allein im Zug nach Berlin saß.
Nervös sah Timm auf die Uhr. Noch über zwanzig Minuten war angeblich Zeit bis zur Abfahrt des Zuges, das war sogar für seine chaotische Mutter zu schaffen. Bestimmt stand sie schon weit vorn in der Schlange. Demnächst würde sie dran kommen, bestellen, bezahlen und auf den Hamburger warten. Dann würde sie zum Zug hetzen. Sie würde sich im Slalomlauf durch die Menschenmenge schlängeln, dann die Treppe zum Bahnsteig runterhüpfen – die Rolltreppe war zu voll und vor allem zu langsam – auf das richtige Gleis achten, dann den Wagen suchen, dessen Nummer sie sich hoffentlich gemerkt hatte, rasch einsteigen und plopp – schon saß sie wieder neben Timm, in der Hand einen dicken Hamburger. Und der würde ihm nach all dieser Aufregung sicher besonders gut schmecken!
Timm kramte seine PSP hervor und fuhr ein bisschen Autorennen. Doch das lief nicht besonders gut. Oft landete er im Straßengraben oder krachte mit andern Wagen zusammen. Als eine neue Durchsage der Bahn kam, drückte er sofort die Stopptaste und lauschte.
„Meine Damen und Herren, soeben ist der Zugführer eingetroffen. Bitte steigen Sie ein, der Zug fährt in zwei Minuten ab. Wir bitten die Verspätung zu entschuldigen und wünschen Ihnen eine angenehme Reise mit der Deutschen Bahn.“
Timm erstarrte. Die PSP rutschte ihm aus der Hand und fiel zu Boden. Seit der letzten Ansage waren höchstens fünf Minuten vergangen, auf keinen Fall zwanzig! Noch war Zeit zum Aussteigen. Timm rannte zur Tür und ließ seine Augen über den Bahnsteig huschen. Doch er erblickte nur fremde, aufgeregte Gesichter, von der Mutter keine Spur.
Timm setzte gerade an, um aus dem Zug zu springen, als ihm das Gepäck einfiel. Er musste doch noch den Rollkoffer holen! Timm rannte zurück ins Abteil, stieg auf den Sitz und zerrte an dem Gepäckstück herum. Doch während er den Koffer einige Zentimeter bewegte, bekam er den nächsten Schock: Was, wenn seine Mutter doch schon im Zug war? Dann stünde er mit diesem großen Koffer allein auf dem Bahnsteig. Allein in diesem riesigen Bahnhof.
Was nun? In Timms Kopf setzte ein solches Brausen ein, wie er es bisher weder bei einem schwierigen Mathetest noch bei einem anstrengenden Computerspiel erlebt hatte.
Das vertraute Piepen, mit dem sich die Türen des ICEs schlossen, beendete Timms Überlegungen und damit fürs erste seine Qual. Hinaus konnte er nun jedenfalls nicht mehr. Während sich der Zug langsam in Bewegung setzte, schob Timm den Koffer mit großer Anstrengung wieder zurück in die Ablage, stieg vom Sitz herunter, hob endlich seine PSP vom Boden auf und setzte sich still auf seinen Platz.
Der Zug beschleunigte und ließ im Nu den Bahnhof hinter sich. Timm rührte sich noch immer nicht. Nun fuhr er also allein nach Berlin, während seine Mutter bei McDonalds in der Schlange stand. Alles war so gekommen, wie er es befürchtet hatte. Ausgerechnet heute hatte sie ihm seinen Wunsch nach einem Hamburger erfüllen müssen! Vermutlich hatte es ihr leid getan, dass sie ihn vorhin vor dem McDonald so angefaucht hatte. Oder sie hatte ihm einfach nur eine Freude machen wollen. Arme Mama!
Timm atmete tief durch und sah aus dem Fenster. Und wunderte sich. Statt der erwarteten Angst breitete sich plötzlich in ihm eine Ruhe aus, blau wie der Himmel und leicht wie die weißen Wölkchen, die darin schwammen. Es war eben passiert und nicht mehr zu ändern. Nein, Angst hatte er wirklich keine, stellte Timm überrascht fest. Der Zug fuhr nach Berlin und dort würde er am Hauptbahnhof aussteigen. Und was sollte unterwegs schon passieren? Natürlich würde er keine Bonbons von fremden Männern nehmen und auch mit niemandem mitgehen. Wohin denn auch?
Angst hatte Timm also keine, eher war ihm die ganze Sache unangenehm. Peinlich irgendwie. Ein Kind seines Alters fuhr nun mal nicht allein im Zug. Das war es. Was sollte er dem Schaffner erzählen, wenn der die Fahrkarte sehen wollte? Dass seine Mutter wegen einem Hamburger in Hamburg den Zug verpasst hatte? Was sollte der Schaffner da bloß von ihr denken? Und die andern Leute im Zug?
Verstohlen sah sich Timm im Abteil um. Zwei ernste Männer in Anzügen, einer mit grauen Haaren, der andere etwas jünger, starrten auf ihre Laptops. Die dicke Frau gegenüber war in ein Buch vertieft. Ein junges Pärchen nebenan packte seinen Proviant aus und begann genüsslich zu essen – ausgerechnet Pommes und Hamburger. Nein, niemand schenkte dem Jungen Beachtung. Also hielt ihn sicher auch keiner für einen Ausreißer.
Timm atmete auf. Die Ausläufer der Stadt lagen hinter ihnen, draußen vor dem Fenster zog nun Landschaft vorbei, immer wieder Wiesen, auf denen abwechselnd Kühe und Pferde grasten. Viele Dörfer oder kleine Städte, alles nicht besonders aufregend. Hin und wieder ein Fleckchen Wald.
Timm war beeindruckt. Nicht etwa von der Landschaft draußen, sondern von sich selbst. Fast schien es ihm, als sei er in den letzten Minuten um mindestens zehn Zentimeter gewachsen. Er fuhr allein ICE wie andere höchstens Bus oder Straßenbahn. Seine Freunde würden staunen, wenn er ihnen das am Montag in der Schule erzählte!
Doch jetzt wollte er weder an Montag noch an Schule denken. Heute war Sonntag und er war der Held dieses Tages. Ein krasser Typ. Ein Popstar. Ein würdiger Nachfolger von Justin Bieber oder Daniele Negroni. Sein Name war Timm – jedenfalls bis er einen cooleren gefunden hatte – und er fuhr allein nach Berlin. Natürlich zu einem Auftritt, und zwar als Sänger einer Band. In dieser neuen blauen Arena am Ostbahnhof vielleicht…
Kreischend drängeln sich die Mädchen vor der großen Bühne und Helen, die vorn in der ersten Reihe steht und zu ihm hochsieht, ist am lautesten. Und was macht er? Ihm selbst ist nichts mehr peinlich. Er singt und tanzt ganz wild, rockt die Bühne, gibt alles, bis er schweißnass ist, als hätte ihn jemand mit einem Eimer Wasser übergossen. Vor dem letzten Song beugt er sich zu Helen runter, reicht ihr die Hand und holt sie zu sich hoch auf die Bühne, klar. Glücklich tanzen sie zusammen, als bei den Mädels da unten im Publikum ein mächtiger Tumult ausbricht, alle wollen sie zu ihm hoch, sofort, doch es sind zu viele. Die Mädchen aber, durchgeknallt wie sie sind, stürmen die Bühne, und überrennen ihn, dicke, dünne, ob mit Zahnspange oder Brille, alle total verrückt – wo aber ist Helen?
„Keine Angst, Timmi, da bin ich wieder“, riss ihn eine vertraute Stimme aus seiner Fantasie, bevor er Helen wiedergefunden hatte. Seine Mutter stand neben ihm. Mit der einen Hand umklammerte sie einen Hamburger, in der anderen hielt sie eine riesige Tüte Pommes.
„Puh, war gar nicht so einfach, mit vollen Händen durch den schwankenden Zug zu balancieren! Und zuerst bin ich auch noch in die falsche Richtung gelaufen“, lachte die Mutter, als sei alles nur ein dummer Witz gewesen. Als hätte Timm die ganze Zeit wissen müssen, dass sie den Zug noch erwischt hatte.
Tim fühlte, wie er mindestens einen Zentimeter schrumpfte. Dann aber nahm er seiner Mutter endlich den Hamburger ab, biss herzhaft herein und nuschelte beim Kauen ein herzliches „danke“. Dieser Hamburger schmeckte so abartig gut, dass Timm sich sein Leben lang an diesen Geschmack erinnern würde. Egal, ob er dann Popstar, Klempner oder ICE-Fahrer war.