Читать книгу Komm, sanfter Tod, des Schlafes Bruder - Conny Smolny - Страница 7

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Prolog

Die Kultur selbst, die Kultur im allgemeinen

ist im wesentlichen vor allem,

ja wir können sagen a priori

Kultur des Todes;

und infolgedessen Geschichte des Todes.

Es gibt keine Kultur ohne den Kult der Vorfahren,

ohne die Ritualisierung der Trauer und des Opfers,

ohne Orte und Modalitäten institutionalisierter Bestattungen,

und wäre es selbst für die Asche einer Verbrennung.

(Jacques Derrida: ,Aporien. Sterben – auf die ,Grenzen der Wahrheit‘ gefasst sein‘)1

Was passiert, wenn die von dem französischen Philosophen Derrida erwähnten Kulte der Vorfahren, die Rituale der Trauer und zu guter Letzt auch die Orte der Bestattungen sich verändern, wenn neue Formen entstehen und zelebriert werden? Wie alles sich wandelt und der Tod per se für Wandlung steht, so vollziehen sich auch im Umgang mit dem Tod Veränderungen. Doch geschieht das nicht erst im 21. Jahrhundert, auch wenn sich angesichts bunt bemalter Särge, virtueller Friedhöfe und anonymer Urnenfelder der Eindruck aufdrängt, die Bestattungsrituale veränderten sich heute gravierender als je zuvor. Die Geschichte der Bestattungsriten im mitteleuropäischen Kulturkreis ist nicht zuletzt geprägt vom Einfluss der christlichen Kirchen, im Mittelalter von der Furcht vor dem Jüngsten Gericht und damit verbunden vor Fegefeuer und ewiger Verdammnis. Bis zum Zeitalter der Aufklärung wurde der Tod oft als furchterregendes Gerippe dargestellt und im 18. Jahrhundert von anderen Bildern abgelöst. Auch die Einstellung zum Selbstmord änderte sich. Goethes Werther traf 1774 den Nerv der jungen Generation. Der Faszination Selbstmord im Zusammenspiel mit Liebe und mystischer Naturverbundenheit vermochte sich mancher nicht zu entziehen. Ob man selbst den Tod wählen darf, ist seit Jahrhunderten umstritten. Ist es dem Menschen gestattet, einfach so zu gehen? Nach alter christlicher Lehre verwirkte der Selbstmörder sein ewiges Leben. Das ihm von Gott geschenkte Dasein durfte er nicht eigenhändig beenden. Der Einfluss der Religion auf die Gesellschaft hat in Europa stark nachgelassen, es gibt vielfältige Wertevorstellungen, wenngleich wir von einem humanistischen Grundkonsens ausgehen können. Auch in der heutigen Zeit ist Suizid, aber noch viel mehr die Beihilfe zum Suizid als neue Dienstleistung, ein heiß diskutiertes Thema: Darf beim Suizid geholfen werden? Was bringt einen Menschen dazu, freiwillig aus dem Leben scheiden zu wollen? Hospizbewegung und Palliativmedizin sehen ihren Auftrag auch als Alternative zur aktiven Sterbehilfe. Optimale Schmerzbekämpfung, menschliche Nähe und eine gute Pflege können den Suizidwunsch unter Umständen zurückdrängen. Organisationen, die aktive Sterbehilfe als Dienstleistung anbieten, tragen sicherlich nicht zu einer verbesserten Versorgung Sterbender bei, da ihnen die lebensbejahende Grundeinstellung fehlt, aber sie bieten jenen, die sich, warum auch immer, dazu entschlossen haben, eine legale Möglichkeit des sicheren Freitods. Und so ist es für die einen das verfassungsrechtlich bedenkliche sowie ethisch und moralisch verwerfliche Geschäft mit dem Tod2 und für andere eine zeitgemäße Möglichkeit, im Falle einer unheilbaren Krankheit selbstbestimmt über den Zeitpunkt des Todes zu entscheiden.

Der Tod gehört zum Leben, heißt es. Gilt das auch in der heutigen Gesellschaft? Der Tod gehört ins Krankenhaus, ins Altersheim, auf die Palliativstation, in den sonntäglichen Fernsehkrimi, aber zum Leben? Faszination Tatort‘ in deutschen Wohnzimmern, Mord und Totschlag in Computerspielen auf der einen Seite, Ausgrenzung und Abschiebung von Alten und Sterbenden in Krankenhäuser und Pflegeheime auf der anderen? Das Erstarken der Hospizbewegung und die wachsende Anerkennung der auf Palliativstationen und in Hospizen meist ehrenamtlich geleisteten Arbeit zeigen deutlich, dass neue Wege beschritten werden.

Wir alle sind sterblich. Daran hat sich trotz gestiegener Lebenserwartung und medizinischen Fortschritts nichts geändert. Am Tag x sind alle gleich. Oder doch nicht?

Wir können davon ausgehen, dass der Mensch als einzige Spezies sich der Tatsache bewusst ist, dass er sterben muss, auch wenn niemand aus eigener Erfahrung davon berichten kann. Erfahren werden kann nur der Tod des anderen.

Was ist eigentlich Tod? Was geschieht mit den sterblichen Überresten, hier und anderswo? Was erwarten die Menschen in den unterschiedlichen Kulturkreisen von der Zeit nach dem Tod?

Diesen und weiteren Fragen geht diese kleine Kulturgeschichte des Todes nach. Sie will neben Antworten auch Anregungen zum Nachdenken und Weiterlesen geben. Die Liste der Beispiele in allen Kapiteln ließe sich beliebig verlängern, denn das Thema Tod durchdringt alle Bereiche des Lebens.


,Das Friedhofstor’ von Caspar David Friedrich um 1825/30

Komm, sanfter Tod, des Schlafes Bruder

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