Читать книгу Tschinku im Gastland - Constant Kpao Sarè - Страница 6

&&& Das Treffen

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Am Abend dachte ich extra daran, das Zimmermädchen darum zu bitten, einen zweiten Stuhl in mein Hotelzimmer zu bringen und zwei Teller Dibbelabbes, eine saarländische Kartoffelspezialität, zu bestellen. Ich wollte Jakubu nicht im Gemeinschaftsraum empfangen, weil ich einerseits wusste, dass wir uns viel zu erzählen hatten, und weil mir andererseits bewusst war, dass eine ruhige Umgebung der geeignetere Ort dafür war. Jakubu aber meinte, etwas Anderes hinter meinen Gedanken entdeckt zu haben. Als ich ihm mitteilte, dass wir es uns in meinem überwiegend in Türkis gehaltenen Zimmer gemütlich machen würden, sagte er laut und ganz hörbar, ohne auf die Hotelgäste in der Halle zu achten, wo ich ihm entgegenkam:

- Du hast Recht, Herr Minister! Es dient unserem Bild nicht, wenn du dich mit mir in der Öffentlichkeit zeigst.

Ohne mir die Gelegenheit zu geben, etwas zu meiner Verteidigung zu sagen, fragte er übereilt:

- Bist du eigentlich hier von Amts wegen oder hast du an uns gedacht?

- „Beides“ antwortete ich, ohne zu vergessen, seinen schmächtigen Körper zu umarmen und ihn gegen meinen Bierbauch zu drücken.

Mit diesem Verführungsmanöver wollte ich es ihm bequemer und vertraulicher machen, damit sein erster Eindruck von mir verschwand. Dann nahm ich seine Hand und führte ihn in mein Zimmer. Dort demonstrierte ich ihm meine ganzen Kenntnisse in Farbensymbolik. Ich erklärte, dass der grünlich-blaue Farbton der Tapeten, Vorhänge und Möbel für fruchtbare gedankliche Kreativität stehen würden. Obwohl ich nichts mit dieser Zimmergestaltung zu tun hatte, dachte ich dadurch, meine Präferenz für unsere Unterhaltung in meinem Schlafraum verständlich zu machen.

Als wir am Tisch waren, vergaß ich nicht, auf die Frage von Jakubu noch einmal explizit zu antworten:

- Mein Lieber, ich schlage zwei Fliegen mit einer Klappe. Ich bin nach Hannover gekommen, um an der offiziellen Eröffnung der Weltausstellung teilzunehmen, und ich habe an euch gedacht. Weißt du? Aus dem Land der Eichhörnchen haben wir bei dieser Messe unsere geschätzten Grasnager (Agoutis) ausgestellt. Ich weiß, Ihr Europäer glaubt immer, wir könnten nur tanzen und singen. Aber wir sind auch gut in Viehzucht, nämlich der Grasnagerzucht. Ich bleibe hier eine Woche und dann kehre ich verrichteter Dinge in mein Ministerium zurück. Dort wartet schon jetzt viel zu viel Arbeit auf mich.“

Da Jakubu auf meine Provokation nicht einging, formulierte ich bewusst eine neue Herausforderung, bevor wir mit dem Essen fertig waren. Ich konnte nämlich feststellen, dass mein Freund die Kunst unseres Hotelkochs zu schätzen wusste, da er offensichtlich mit viel Appetit dieses Gericht schlemmte, das ich geschmacklos, zu mild, nicht genug gewürzt und nicht scharf fand.

- „Jakob, schieß los!“ brüskierte ich.

Da kein Wort aus seinem Mund kam, weil er mit Kauen beschäftigt war, nutzte ich die Gelegenheit, um ihn ein bisschen aufzuziehen:

- Jakubu, du bist ja Saarländer geworden. Schau mal, mit wie viel Appetit du dein Gericht genießt!

- „Nein, nein! Um Gotteswillen beleidige mich nicht, mein Bruder. Ich bin kein Deutscher, geschweige denn Saarländer. Ich bin nur Deutscher auf dem Papier. Ich kann nie Deutscher werden. Ich habe eine deutsche Frau und zwei deutsche Kinder. Aber ich! Ich werde nie Deutscher. Ich bin und bleibe Afrikaner von Kultur“, erwiderte er mit vollem Mund und übertriebener Unerbittlichkeit, als hätte ich ihn „Sklave“ oder „Neger“ genannt.

- „Deutscher auf dem Papier, das weiß ich genau“, sprach er weiter. Und deswegen gehe ich niemals ohne meinen Ausweis aus dem Haus. Ich weiß, dass ich ohne Ausweis verloren bin. Keiner, mich eingeschlossen, würde daran glauben, dass ich Deutscher bin, wenn ich mich nicht ausweisen könnte. Ja, beweisen können, das muss ich immer und überall. Vom ersten Tag als ich hier ankam wusste ich schon, dass ich hier nicht zu Hause sein würde. Das brauchte mir auch übrigens niemand zu erzählen. Das habe ich selber täglich, geduldig und Schritt für Schritt herausfinden müssen.

Ich musste verstehen, dass das hiesige Zusammenleben nicht mit der Absicht aufgebaut wurde, damit irgendwann ein gewisser Tschinku hier leben kann. Hierzulande als richtiger Tschinku fortzuleben, das war nicht vorgesehen. Ich musste vieles neu lernen. Sogar das Essen musste ich nochmal einstudieren. Während die Kinder schon mit vier die Kunst des Gabelns, des Löffelns und des Messerschneidens beherrschten, musste ich mich, als Erwachsener, immer wieder lächerlich am Tisch machen. Wie du sicher weißt, wird in unserer Tradition Ungeschicklichkeit beim Essen nicht toleriert. Ich persönlich erinnere mich immer noch sehr genau an die Ohrfeigen, die ich mir von meinen älteren Geschwistern einfing, wenn ich mir beim Essen beispielsweise die Rotznase putzte, wenn ich versuchte das Tagesgericht zu beschnuppern und dabei den appetitanregenden Geruch von brühheißem Palmöl abschätzte, oder wenn ich als erster satt war und versuchte, mich vom Tisch zu entfernen, ohne nach der Zustimmung des Ältesten am Tisch zu fragen.

Hier scheinen die Leute doch Verständnis für unbeachtete Tischmanieren zu haben. Es wird keine Tracht Prügel verabreicht, wenn der Tischherr rechts von seiner Tischdame sitzt oder wenn der Gast seinen Teller Suppe auslöffelt, ohne auf seinen Gastgeber zu warten. Das alles wird meistens toleriert. Aber man versteht beim besten Willen nicht, dass ein Erwachsener eine so einfache Technik wie Messer in der rechten und Gabel in der linken Hand halten nicht beherrscht. Und ich musste trotzdem immer mit voller Aufmerksamkeit am Tisch sitzen, um dieses banale Verfahren nicht zu vergessen, um die Finger der rechten Hand nicht aus Versehen im Teller landen zu lassen oder um das Besteck nicht fallen zu lassen.

Ich musste verstehen, dass es für den richtigen Tschinku keinen Platz hier gibt. Dass es für mich keinen Friseur gibt, weil kein Haarschneider gelernt hat, wie man meine gekräuselten Haare schneidet. Dass das Leitungswasser für meine Haut nicht geeignet ist. Dass es nicht normal ist, einfach auf der Straße Tanzschritte ohne Grund aufzuführen. Dass es unhöflich ist, wegen einer Kleinigkeit zu lachen oder zu grinsen, und dass man stattdessen unauffällig lächeln sollte. Dass das Lächeln als Ausdruck der Sympathie und der Berührung eines anderen gilt, während das Lachen in der Öffentlichkeit meistens als nicht manierlich eingestuft wird. Dass es unangebracht ist, sich einfach zu Unbekannten in einem Café oder Restaurant zu setzen.

Ich verstand ganz schnell, dass ich den Lehrsatz meiner Mutter „dem Alter den Vortritt!“ per Luftpost zurückschicken konnte. Dass ich hier keine Anstalten zu machen brauche, um den Älteren meinen Sitz in den öffentlichen Verkehrsmitteln zu überlassen, weil sie bestimmt ablehnen würden. Dass man Leute nicht begrüßt, die man gar nicht kennt; ansonsten müsse man sich nicht wundern, wenn man gefragt wird: „Kennen wir uns?“. Und zu guter Letzt, dass man ausschließlich auf sich selbst zählen sollte.

Weil ich gewiss kein wahres Tischleindeckdich erwartet hatte, habe ich das alles ohne große Mühe gelernt. Dann wurde ich Deutscher. Trotzdem muss ich immer meinen Ausweis dabeihaben, um zu beweisen, dass ich auch wirklich Deutscher bin. Also, mein Freund, ich bitte dich, komm nicht wieder mit Anspielungen in der Art, ich sei ein Saarländer.“

Ich verstand, dass ich es mit einem verbitterten und einem mit allzu vielen Komplexen lebenden Menschen zu tun hatte, und riskierte kein Wort mehr. Ich fürchtete, ich könnte nochmal etwas Deplatziertes und Unangenehmes äußern. Jakubu aber sprach weiter:

- „Mein Freund, ich bleibe nur wegen meiner Tochter Conni und wegen meines Sohnes Uwe in Deutschland. Und nicht etwa wegen des Studiums oder wegen meiner neuen Staatsangehörigkeit. Hätte ich keine Verantwortung hier, wäre ich ebenfalls schon längst unverrichteter Dinge nach Hause zurückgekehrt.

Stell dir vor, seit zwanzig Jahren bin ich in Deutschland und seitdem bin ich nicht mehr zu Hause gewesen. Meine Eltern! ... Die sind beide gestorben. Gott hab’ sie selig! Ich hatte von ihrem Tod erfahren, aber das Einzige, was ich wirklich tun konnte, war ihn zu beklagen. Ich habe mir tagelang die Seele aus dem Leib geweint. Es ist mir allerdings nicht gelungen, nach Hause zu fliegen, um sie zu begraben, um die Zeremonien zu organisieren und die Toten ruhen zu lassen ... Ich weiß! Du denkst jetzt, ich kenne sicherlich unsere Bräuche, Rituale und Riten nicht mehr. Aber das stimmt nicht. Ich weiß alles. Jede Nacht träume ich davon, endlich mal meine Heimat, mein Dorf, meine Familie - besser gesagt, das was davon übrig blieb - wiederzusehen: meine fünfzehn Geschwister, die noch jung waren, als ich nach Deutschland kam. Die haben seit Jahren keine Nachricht mehr von mir bekommen. Dennoch weiß ich alles über sie. Ich weiß, was sie alle jetzt tun, wie es ihnen geht. Ich habe mich immer danach erkundigt. Aber von mir wissen sie nichts. Ich kann ihnen nichts von mir erzählen. Es gibt nichts zu erzählen. Es ist ein Loch. Ja, ein Loch in der Zeit. Zwanzig Jahre, leer ...“

Jakubu schwieg eine Weile, als wäre er in seinen einsamen Gedanken verloren, als würde er anfangen zu weinen, als würde er aufstehen und von mir weglaufen. Was sollte ich machen? Ihn Umarmen? Mit ihm sprechen? Und was genau sollte ich sagen? Sollte ich von der Zukunft, von der Gegenwart oder eher von der Vergangenheit sprechen? Vielleicht brauchte er auch nichts anderes als nur Ruhe. Vielleicht versuchte er eben, eine Gedenkminute für seine verstorbenen Eltern einzulegen. Ich beschloss, nicht zu sprechen, nicht zu reagieren. Ich wollte ihn nicht noch mehr dazu bringen wieder in die tiefe Vergangenheit zu sinken. Es war auch für mich unerträglich, ihn das sagen zu hören: ein Loch, ein Zeitloch. Doch Jakubu sprach weiter:

- „Dabei hatte alles gut angefangen. Dabei sollte ich geboren werden, um verwöhnt zu werden. Ich glaube nicht mehr an die ganzen Anekdoten, die die Älteren uns immer so erzählt haben, um entweder ein reines Gewissen zu bekommen oder Leute zu verdummen. Ich glaube nicht mehr an die alten Erzählungen, von denen unsere Kindertage so voll waren, Ammenmärchen von der Art: „Die Natur hat so entschieden, der Wahrsager hat so vorhergesehen, die Ahnen hätten es so gewollt.“, oder Ähnliches. Trotzdem erzähle ich Dir, was die Alten über mein Schicksal berichtet haben:

Glaubt man der allgemein herrschenden Seelenlehre, die in meiner Großfamilie für meine Persönlichkeit galt, so soll ich eine Wiederverkörperung meines damals noch lebenden Großvaters gewesen sein. Der Überlieferung nach soll mein Großvater von Natur aus eine sehr verwöhnte Person gewesen sein, somit soll ich diese Natur ererbt gehabt haben. So soll ich als Baby schon alles darangesetzt haben, um meiner Mutter die Hölle auf Erden zu bereiten, damit sie mich widerwillig an meine Großeltern abgab.

Ich soll von Geburt an der bestauserwählte Säugling und Lieblingsgefährte aller Kinderkrankheiten gewesen sein: von der einfachsten Erkältung bis zur Grippe über Schnupfen, Angina, Kolik, Husten, Röteln, Fieber, Scharlachfieber, Malaria, Cholera, Rheuma, Kinderlähmung usw. hinaus. Mit zwei Jahren soll ich weder sitzen noch kriechen gekonnt haben, geschweige denn aufstehen, hüpfen und laufen. Meine so brave, tapfere, heldenhafte, anständige, zuverlässige und damals schwangere Mutter habe mich auf dem Rücken tragen müssen, um ihren Haushalt, besser gesagt, ihre Danaidenarbeit erledigen zu können: Wasser fürs Duschen vom Fluss holen, Frühstück vorbereiten, Geschirr spülen, mit bloßen Händen die Wäsche waschen, auf den Markt einkaufen gehen, Wasser fürs Kochen vom Brunnen holen gehen, Mittagessen vorbereiten, wieder Geschirr spülen, aus Achtung vor der knochenbrennenden Sonne und nicht etwa aus Rücksicht auf die Schwangerschaft sich eine kleine Pause gönnen, Kleider bügeln, Trinkwasser von der offenen Quelle holen gehen, Abendessen vorbereiten, noch einmal Geschirr spülen usw.

Während dieser zähen Alltagsroutine soll meine Mutter die Krankheit - die ihr Lieblingsstillkind derzeit besucht hatte – nie aus den Augen verloren haben, um sich, je nach der Art der Seuche, ein ärztliches Rezept verschreiben zu lassen, das sie aus eigener leerer Tasche bezahlen musste, oder sich damit begnügen, mich zum Trinken einer von meiner Oma vorbereiteten sehr sauren oder bitteren Pflanzenmischung zu zwingen.

Das Leiden meiner Mutter soll sich eines glücklichen Tages gemindert haben, so die Überlieferung, die ich später weder von meiner Mutter noch von meiner Naana, meiner Oma, noch von den zahllosen Tantis, den Tanten, bekam, sondern eher von den Hähnen im Stall, von meinem Baaba, dem Opa, von meinen Tontons, den Onkeln, und von meinem Vater. Du hast verstanden: Die ganze Erziehung eines Jungen fällt in die Zuständigkeit der Männer.

Manchmal frage ich mich allerdings, ob diese Männer nicht einen geheimen Auftrag erhalten hatten, mich darüber zu belehren, wie sehr meine Mutter unter meinem vorprogrammierten Schicksal zu leiden hatte. Denn so deckungsgleich konnte sonst die Wiedergabe derselben Geschichte durch unterschiedene Personen nicht sein. Alle meine selbstbeauftragten Informanten formulierten nämlich denselben Übergang vom Leiden und von den Ärgernissen zur permanenten Lebensfreude, den meine Mutter erlebt hatte, mit folgenden Worten: „Ein von Gott ausgemachter Tag kann nicht ausfallen“.

Und der Tag, den Gott in seiner ewigen Gnade so gütig, barmherzig und sanftmütig festgelegt hatte, war der Tag, an dem ich von meiner Mutter an meine Großmutter weitergegeben wurde, genauso wie ein allgemeiner Arzt seinen Patienten an einen bekannten Spezialisten überweist. Die Übergabe fand, so fuhren meine Informanten fort, eines hellen, sonnigen, wolkenlosen und gottgesegneten Tages statt, als ein Wahrsager, der aus einem fremden, unbekannten Horizont kam, durch unsere Gegend wanderte. So soll das Schicksal alles genau so geplant haben, dass der Weg zum Markt, den meine Mutter und meine Oma gingen, den des anonymen Hellsehers traf. Dieser soll Mitleid mit meiner hochschwangeren Mutter gehabt und sich entschlossen haben, seine Kauris über die Position meines Schutzsternsystems zu befragen. Der geheimnisvolle Prophet soll unverzüglich über meine Vergangenheit, meine Gegenwart und meine Zukunft erfahren haben. Er soll den beiden Frauen die Patentlösung aufgezeigt haben, indem er erklärte, dass ich absichtlich und ganz gemein meine Mutter zum Leiden brachte, weil ich unbedingt bei meinem „Wiederverkörperungsidol“, meinem Opa, aufwachsen wolle. Deswegen soll der gottgesendete Retter vorgeschlagen haben, dass meine Oma mich eilends aufnehmen und sich fortan um mich kümmern solle.

Das sei der Tag gewesen, an dem sich mein Lebensweg und der meiner Mutter unvermittelt getrennt haben. Das sei der Tag gewesen, an dem meine Mutter ihren bestens erfüllten Auftrag loswerden und meine Wunschamme, meine Oma, mich stillen und schaukeln durfte. Das sei der Tag gewesen, an dem ich mich mit meinen wirklichen Eltern, meinen Großeltern, endlich vereinigen durfte. Seit diesem Tag sei ich wie durch ein Wunder von allen Kinderkrankheiten befreit gewesen: keine chronische Erkältung, keine Kolik, keine Kinderlähmung mehr. Innerhalb von einer Woche soll ich angefangen haben zu laufen, ohne vorher weder das Sitzen noch das Aufstehen gelernt zu haben. Der Grund, warum ich meine eigene Entwicklung so mutwillig und vorsätzlich hinausgezögert haben soll, soll der gewesen sein, dass ich ein verwöhntes Opa- und Omasöhnchen sein wollte.

Gemäß der Vorhersage des fremden Hellsehers sollte ich allerdings später, nach dem Tod meines Opas, weit, sehr weit über Horizonte, Böden, Gebirge, Flachländer, Plateaus, Küsten, Wälder, Grenzen, Flüsse, Meere, Gewässer vorbei in ein Land auswandern, in dem mein Idol durch Reinkarnation ein neues Leben bekommen sollte.

Mein lieber Barka, wie du mich damals in unserer Jugend gekannt hattest, glaubst du ehrlich, dass ich an dieses Märchen glauben würde?“

- „Nein“ antwortete ich kurz und knapp, weil ich mehr über diese Geschichte erfahren wollte.

Im Überfluss vorhanden waren solche erfundenen Gerüchte, dass verstorbene Menschen in anderen Weltteilen gesehen worden seien. Meine eigene Kusine ist eines Tages nach Iboland aufgebrochen, auf der Suche nach ihrer verstorbenen Mutter, nachdem irgendein Spinner, der dort eine kurze Zeit verbracht hatte, ihr erklärt hatte, er habe ihre Mutter dort getroffen und sich sogar mit ihr unterhalten können. Aus diesem Grund wollte ich der Erzählung meines Freundes bis zum Ende zuhören. So sagte ich: „Natürlich weiß ich, dass du daran nicht glaubst“.

„So wenig wie ich die ganze Geschichte geglaubt hatte, genauso wenig hatte ich geglaubt und glaube dieser letzten Prophezeiung heute noch weniger, dass ich dorthin umsiedeln würde, wo mein verstorbener Opa sich befindet. Blödsinn.

Ich will glauben, dass nicht das ausgezeichnete Bestehen meiner Grundschulprüfung, sondern meine spitze Vermutung, dass der Tod meines so geliebten Opas drei Jahre später eintreffen könnte, mich dazu bewegt hatte, meine arme Oma im Stich zu lassen, um auf die Sekundarstufe I zu gehen. Ich akzeptiere, dass das Bestehen dieser Prüfung keine Rolle dabei gespielt hatte, meine Kindheitsfreunde zu verlassen beim Spielen mit dem Kreisel, beim Klettern auf Bäume, beim Rauben von Früchten, beim Schwimmen in kleinen Bächen, bei der Jagd auf kleine Tiere und Vögel usw.

Ich will vorgeben, dass mein Opa mir dann egal wurde, als es darum ging, meine immer schwächer werdenden Großeltern zu verlassen, um wieder zu meinen Eltern zu gehen, damit ich weiterhin die Schule besuchen konnte. Ich will annehmen, dass ich doch so herzlos geworden war, um mein Idol von Baaba zu verlassen, im Pflügen, Säen, Pflanzen, im Jäten von Unkraut und Streuen von Dünger sowie Insektiziden, im Beten um die Regentropfen und im unermüdlichen Versuch, wilde Tiere und Vögel aus den Äckern zu vertreiben usw. Ich will akzeptieren, dass ich mich freiwillig von meiner Oma getrennt habe bei der Ernte von Baumwolle, Mais, Hirse, Sorgho, Maniok, Jamswurzeln, Bohnen, Erdnüssen, Bananen usw., im Sammeln von Brennholz, Shea-Nüssen, Cashewnüssen, Palmnüssen, Mangos usw.

Ich will denken, dass ich ganz bewusst meine altgedienten Großeltern in die Situation versetzt habe, auf meine Hilfe zu verzichten und ausschließlich auf die Dorfsolidarität zu zählen, um ihre tägliche proteinarme Kost aus Maniokstärke, Maismehl und Gemüse aus dem harten Boden auszugraben, während ich mein täglich Brot von unserem Vater im Himmel bekam, vorausgesetzt, ich deklamierte das vorgeschriebene Gebet, das ich auf der Konfessionsschule gelernt hatte. Ja, das alles will ich glauben. Ich will glauben, dass das Ganze geschah, nicht weil ich auf die Sekundarschule gehen musste, sondern weil ich geahnt habe, dass mein geliebter Opa bald sterben würde.

Ich will auch daran glauben, dass das Bestehen meiner Prüfung zur Mittleren Reife, bei der ich die beste Note im ganzen Distrikt bekam, mich nicht dazu motivierte, meinen Ehrgeiz so zu treiben, dass ich vom Gymnasium träumte, das die meisten so genannten Intellektuellen meiner Provinz, die Akowe, aus­gebildet hatte. Meine verständliche Motivation, immer höher und schneller in der Schule voranzukommen, mag keine Rolle für meine Entscheidung gespielt haben, mich für die Aufnahmeprüfung dieses begehrten, aber vom Wohnort meiner Großeltern weit entfernten Gymnasiums zu melden.

Ich will denken, dass das Verhalten meiner Stiefmutter mir gegenüber - der Nebenfrau meines Vaters, der Cleopatra, deren junger Charme, Liebreiz und Schönheit meinen Vater in die Polygamie trieben, obwohl er katholisch war - keine große Rolle bei dieser Entscheidung gespielt hatte.

Dass meine Stiefmutter allerlei Tricks eingesetzt hatte, damit das Vertrauen und die versteckte kindliche Liebe, die ich für meinen Vater mittlerweile entwickelt hatte, verschwand, das mag keine Rolle in meiner Entscheidung gespielt haben. Dass sie es geschafft hatte, den Stolz auf meine schulischen Leistungen und auf mein Verhalten überhaupt, den die Augen meines Vaters ausstrahlten, sinken zu lassen, damit das heimliche Einverständnis, das zwischen Vater und mir nun herrschte, zugunsten ihrer eigenen Töchter wich. Das alles mag mein Fernweh nicht verschärft haben.

Ich bin bereit zu glauben, dass die drei mühsamen und höchsterfolgreichen Jahre, die ich in diesem Bouke-Gymnasium, dieser Kaderschmiede par excellence, verbracht hatte, nicht dazu beigetragen hatten, dass ich mein Abitur auf Anhieb bestand - diese Abschlussprüfung, die für die meisten von uns damals eine Gedenkfeier geworden war, die jedes Jahr erfolglos zelebriert werden musste. Ich will annehmen, dass mein Bestehen dieser Prüfung mit einer Eins, der begehrten Mention très bien, die Entscheidung der zuständigen Behörden auf keinerlei Art und Weise beeinflusst hatte, damit mir ein Stipendium fürs Wirtschaftsstudium in Deutschland gewährt wurde.

Ich will denken, dass dieses sehr willkommene Stipendium mir gleich war, als ich sowohl meine Geliebte Laadi als auch meine von meiner Oma kurz vor ihrem Tod und ohne meine Zustimmung auserwählte Verlobte Assiou abservieren musste, weil mir klar war, dass ich nicht vor fünf Jahren zurückkommen würde und dass mein quasi fast vorprogrammierter Harem somit ein aussichtloser Hauch von Abenteuer sein sollte, in diesem Land der Vielweiberei, wo der Brautpreis - der Kopfpreis von Frauen - angesichts der offenen und manchmal unfairen Konkurrenz zwischen Männern aller Generationen immer höher getrieben war. Wie es auch sein mag, vielleicht hatten das Stipendium und das Studium mit meiner rücksichtslosen und kaltblütigen Entscheidung gar nichts zu tun.

Aber, Barka, glaubst du selbst, dass die Natur gerecht und fair wäre, wenn ich mir damals so viel Mühe gegeben hätte, damit ich bei meinem Opa aufwachse, und er mir dann nicht helfen würde, wenn er hier wäre und ich in unlösbaren Schwierigkeiten stecke und, auf gut Deutsch „vor Dreck starre“?

Diese Formulierung verstand ich als rhetorische Frage, also schwieg ich und wartete darauf, dass mein Gegenüber entweder weitersprach oder eine richtige Frage formulierte. Da allerdings auch Jakubu schwieg, als würde er tatsächlich von mir eine Antwort erwarten, beschloss ich etwas zu unternehmen. Ich berührte den silbernen Ring, den er auf dem linken Ringfinger trug und sagte:

„Schöner Ring!“

Meine Absicht war eigentlich, die trüben Gedanken meines Freundes auf eine andere Idee, auf ein anderes Thema, zu lenken. Insbesondere wollte ich, dass er über seine eigene Familie sprach. Warum sprach er denn nicht von seiner jetzigen Situation? Das waren die Fragen, die ich mir innerlich stellte in der Hoffnung, dass er meinen billigen Psychotrick entdeckte und mir sagte: „Netter Versuch, ich weiß, dass du darauf brennst, etwas über meine Ehe zu erfahren“. Doch sowas kam nicht von seiner Seite. Ich verstand, dass ich jetzt etwas sagen musste, um das Gespräch am Laufen zu halten. Also sagte ich:

„Jakob, was ist los? Warum sprichst du nicht mehr?“

„Weil ich Jakubu heiße und nicht etwa Johannes der Täufer, die Stimme, die in der Wüste ruft. Ich spreche nur, wenn ich einen Gesprächsteilnehmer habe. Du weißt nicht mal, worüber ich bisher gesprochen habe.“

„Natürlich weiß ich das. Ich wollte dich nur nicht unterbrechen. Du sprachst gerade von deinen damaligen Freundinnen und wolltest gerade von deiner Frau sprechen. Natürlich höre ich dir zu.“

Das mit seiner Frau war natürlich gelogen. Ich wollte meinen Gesprächspartner nur auf dieses Thema bringen. Entweder hatte er mir gar nicht zugehört oder er wollte mir diesen Gefallen nicht tun. Denn anstatt von seiner Familie in Deutschland zu reden, erzählte er weiter über das Märchen mit dem Scharlatan, das mir mittlerweile peinlich war:

„Ich bin bereit, die Prophezeiung des erfreulicherweise niemals mehr aufgetauchten, namenlosen und unbekannten Scharlatans zu akzeptieren. Aber bei aller Hochachtung vor eurem Glauben und vor unserer Tradition kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass sich mein Opa in irgendeiner Form irgendwo hier im Wind, in der Natur, im kalten Winter herumtreiben könnte. Ich kenne doch meinen Opa. Angenommen, er wäre tatsächlich nach seinem Tod in einer europäischen Gestalt wiedergeboren, sagen wir vorsichtig wie Nietzsche, in eine „blonde Herrenbestie“, in einem Weihnachtsbaum, in einem Schäferhund oder in einem Dobermann, so wäre er längst von hier weg, um seine Lebensgefährtin nach deren Tod ausfindig zu machen. So unzertrennbar waren die beiden. Ich kenne doch meine Großeltern.

Wie auch immer, ich weiß nur eins: Mein Großvater ist nicht hier in Ommersheim. Der einzige Großvater, den es hier in Deutschland gibt, ist Opa Wagner, der Großpapa meiner Kinder, der Vater von Uta, mein Schwiegervater. Und der kann mir in meiner Ehekrise auch nicht helfen. Er darf nicht. So läuft es hier. Hier kommt der Herkules nie vorbei. Hier muss jeder Mensch seinen Augiasstall selbst reinigen. Auch hier wird die schmutzige Wäsche in der Familie gewaschen, allerdings ausschließlich in der Familie und nicht etwa in der Großfamilie. Egal wie lieb Opa Wagner seine Tochter hat, egal wie verständnisvoll er mir gegenüber ist, er darf nicht in meine Ehe eingreifen. Das nennt man hier Privatleben. Und das ist auch gut so. Denn er war auch nicht da, als ich mich mit Uta das erste Mal getroffen hatte. Als wir uns liebten, da waren weder Opa noch Oma, noch Vater, noch Mutter, noch Geschwister, noch Verwandte dabei. Soll ich Dir unsere kurze Liebesgeschichte erzählen?“

Bevor ich auf diese Frage antwortete, musste ich nachdenken, weil ich nicht wollte, dass mein Freund die erwähnte Ehekrise erläuterte. Ich war mir nicht sicher, ob ich ihm helfen konnte. Es war mir klar, dass unsere Tricks der Großfamilie, auf die Jakubu offensichtlich anspielte, hier nicht funktionieren würden: Diese Alibis in Richtung „bleibt zusammen wegen der Kinder“ oder „unsere Familien wollen, dass wir weiterhin verheiratet bleiben“ oder „ihr seid schon zu alt, um euch eine Scheidung zu leisten“ usw. - alle diese Ausreden waren hier, in dieser Gesellschaft und in diesem Zeitalter der individuellen Selbstverwirklichung, inadäquat. Das wusste ich. Deswegen überlegte ich mir eine diplomatische Formulierung:

„Ja, wenn du das nicht zu privat findest“, antwortete ich ganz schnell. „Darauf habe ich die ganze Zeit gewartet. Es interessiert mich sehr, über deine Frau und über eure Liebesgeschichte zu erfahren. Wie habt ihr euch kennen gelernt?“

- „Eigentlich gibt es nichts Interessantes zu erzählen. Unsere Liebe fing mit großer Intensität an, aber auch ganz einfach, mit mehr Bescheidenheit als Ansprüchen, wie jede Beziehung, die in einer Diskothek anfängt. Ja, ok, nun ist das Wort schon gefallen. Wir haben uns bei einem meiner seltenen Discobesuche getroffen. Eigentlich bin ich nie Nachtschwärmer gewesen, aber an dem besagten Tag konnte ich der Versuchung nicht widerstehen. Damals wohnte ich in einem Studentenwohnheim. Es war Weihnachtszeit. Je näher der Heiligabend kam, desto leerer wurde unser Heim. Ich hatte vorher irgendwo gelesen, dass dieser Abend auch als Familienabend gefeiert wird. Auch ich hatte mir gar keine Sorgen darüber gemacht, weil ich immer wieder nach Hause geflogen war, um dort Weihnachten und Neujahr zu feiern.

Dieses Mal entschied ich allerdings, hier zu bleiben. Ich hatte freilich nicht damit gerechnet, dass alle Hausgenossen diesen Abend in ihren Familien feiern wollten. Die anderen ausländischen Freunde, die diese Erfahrung schon gemacht hatten, hatten sich jeweils eine Gastfamilie ausgesucht, bei der sie Heiligabend verbrachten. So musste ich ihn allein im vierstöckigen Gebäude verbringen: keine Familie, kein Fest, keine geschmückte Umgebung, kein Weihnachtsbaum, keine Wünsche, keine Krippe, kein Geschenk vom Weihnachtsmann, keine Weihnachtsgans. Draußen war ohnehin niemand zu treffen. Da ich nicht einmal daran gedacht hatte, eine CD mit Weihnachtsliedern zu kaufen, war der Traum vom Christfest ausgeträumt. Ich musste mich nämlich damit begnügen, mir den Kaktus minutenlang anzuschauen, den ich auf dem Weihnachtsmarkt erworben hatte, wodurch mich der Schlaf ganz schnell überfiel. Die ganze feierliche Stimmung hatte ich somit verpasst. Immerhin konnte ich weihnachtlich schlafen, ganz tief, ungestört, ohne Alptraum, ein wohltuender Schlaf.

Am Ersten Weihnachtsfeiertag wollte ich auf keinen Fall dieselbe Erfahrung machen. Deswegen beschloss ich, in die Disco zu gehen. Ich denke, das war sogar das erste und einzige Mal überhaupt, dass ich hier in der Disco gewesen bin und, wie Uta mir später erzählte, war dies auch bei ihr der Fall. Ich dachte, ich hätte sie zuerst bemerkt, als sie unter vielen anderen Frauen in die Disco eintrat. Doch wie ich später von Uta erfuhr, soll ich ihre Aufmerksamkeit schon vor dem Eingang zur Disco auf mich gelenkt haben. Ist es nicht das, was man zuverlässig als Liebe auf den ersten Blick bezeichnet? Jedenfalls genügten ein „Hallo, ich heiße Jakubu“ und ein „Ich bin die Uta“, um uns näher zu bringen, inmitten von schrillem Tohuwabohu, lautem Blabla, mächtigem Geschrei, aggressiven Schimpfereien, Dutzenden von Dezibel usw. Die für uns beide ungewöhnliche Discostimmung hatte es nicht geschafft, unseren Flirt, unsere Annäherungsversuche, unseren gemeinsamen zögernden und zaghaften Tanz, das Austauschen von Telefonnummern und die schmerzhafte, aber höfliche Verabschiedung zu stören. Am folgenden Tag mussten sich unsere jeweiligen Telefongesellschaften und Handyanbieter auf unsere Kosten gefreut haben, so oft waren wir ans Telefon. Obwohl es Sonntag war, vereinbarten wir doch endlich ein Treffen in einem noch offenen Café; so verrückt und voneinander angezogen fühlten wir uns. Den Rest des Abends verbrachten wir dann bei Uta.

Ach! Da du mich schon vor dem Erzählen des Privatlebens gewarnt hattest, fängt es jetzt aber an, privat zu werden und ich höre hier auf.

Auf jeden Fall dauerten unser Flirtabenteuer, unsere Freundschaft, unsere Affäre, unsere Beziehung, unsere Liebe kaum drei Monate. Kaum hatte das Liebesglück angefangen, uns zuzulachen, erfuhren wir, dass wir enger miteinander verbunden waren, als wir dachten: Uta war schwanger und sie wollte das Kind behalten. Wie es mit mir aussah? Wurde ich nicht mit dem wunderlichen Gedanken erzogen, ein Kind zur Welt zu bringen, sei die Seligkeit auf Erden? Ich war nur ein armer Student, na und? Sagte man nicht: „Gott pflanzt Getreide in jeden Mund, den er meistert?“. Warum soll ausgerechnet mein Kind nichts zu essen bekommen?

Ich war nicht nur mit der Entscheidung von Uta einverstanden, das Baby nicht abzutreiben, sondern ich war auch entschlossen, alles zu tun, damit das Kind nicht unehelich zur Welt kam. Ich hatte keine andere Wahl. Ich fürchtete, dass mein Kind zur Welt kommen würde, bevor wir heirateten. Ich war damals ganz frisch aus Afrika gekommen. Du weißt selber, was es bei uns bedeutet, ein uneheliches Kind zu sein: eine Missgeburt, ein Bastard. Das wollte ich meinem Kind unbedingt ersparen. Ich war naiv und dumm.

Meine Hochzeit war ein Fehler. Wir hatten alles in einem Monat geplant, von der Liebe über die Verlobung und die Hochzeit im Standesamt bis über die kirchliche Trauung hinaus, wobei die Flitterwochen kaum eine Woche dauerten. Es war ein Notfall und ich hatte keine Zeit, meiner Jugend nachzutrauern. Da die Formalitäten in Saarbrücken schwieriger zu sein schienen, waren wir nach Ommersheim umgezogen und hatten dort geheiratet. Alles war so schnell geschehen, dass ich vergessen hatte oder besser gesagt: Ich war nicht geistesgegenwärtig genug gewesen, meine Freunde einzuladen oder sie zumindest zu informieren. Ich glaube, ich wollte es im Grunde auch nicht. Ich weiß nicht, warum ich es vermieden hatte. Am Tag meiner Hochzeit war ich unglücklich. Alles geschah ohne große Feierlichkeiten: ohne Brautraub, ohne richtigen Brautwagen, ohne Brautstrauß, ohne Brautgeschenk, ohne Brautkranz. Viele Freunde von Uta waren da. Alle waren mir unbekannt. Ich war fremd in meinem eigenen Haus. Noch mehr, ich war der einzige Schwarze in einer Gruppe von mehr als dreißig Personen.

Mein Trauzeuge, so sollte ich später erfahren, war ein Ex-Freund meiner Frau. Ich konnte nichts tun. Ich hatte keine Wahl, ich verstand sowieso wenig vom Ganzen, ich wollte nur den Skandal vermeiden. Ich war damals noch Student und wurde durch die heftige Neuigkeit in Angst und Schrecken versetzt. Ja. Ich hatte Angst davor, dass Uta Klage gegen mich erheben könnte und fürchtete Schwierigkeiten zu bekommen. Unter diesen Umständen hatte ich geheiratet. Unter diesen Umständen verkaufte ich mich und meine damalige Idealvorstellung vom Leben. Ich musste auf alles verzichten, sogar auf mein Heimatland, weil ich auf keinen Fall zurückkehren wollte, ohne mein Studium abgeschlossen zu haben. Ich hatte meine eigene Familie vergessen müssen, weil ich nicht sagen wollte, dass ich verheiratet war. Ich hatte mein Stipendium verloren, weil ich während der Ferien nicht nach Hause geflogen war, um es erneut zu beantragen. Du weißt, dass dies die einzige Bedingung war. Aber ich konnte nicht anders. Ich konnte nicht nach Hause fliegen, ohne dass meine Familie Bescheid wusste. Ich konnte meine Familie nicht besuchen, ohne ihr von meiner neuen Situation zu berichten, ohne von diesem Kind zu erzählen, das mich bald zum glücklichen Vater machen sollte, und ohne zu verraten, dass ich hier von Amors Pfeil getroffen wurde. Und selbst wenn ich das Ganze hätte geheim halten können, so hätte ich doch damit die Behörden, meine Familie, meine Verwandten, meine Freunde angelogen.

So hatte ich den Kontakt zu den Meinen verloren und versuchte, meine Vergangenheit zu vergessen. Hoffentlich ... hoffentlich haben die Meinen, meine Familie, meine Freunde, meine Verwandten ... mich nicht für tot erklärt und meine Bestattung organisiert. Aber auch das spielt keine Rolle mehr. Denn ich bin nicht mehr Jakubu Tschinku! Ich war. Ja, ja ... nein! Ein Teil von mir ist tot. Den gibt es nicht mehr. Der zweite Teil jedoch verlangt ständig den verstorbenen Teil von mir. Deswegen bin ich immer unentschlossen. Ich existiere nicht mehr. Nicht mehr ganz. Ich kann keine Entscheidung treffen, weil ich nicht mehr alle beisammenhabe. Ich habe nicht mehr alle Tassen im Schrank. Viele sind dortgeblieben, zu Hause, in Afrika. Ich kann atmen, aber ich fühle, dass eine Herzkammer zu Hause geblieben ist. Da, die linke. Mein Blut! Das läuft nur teilweise in meinem Körper. Nur im rechten Teil. Hier, fass mal an! Alle Organe auf der linken Seite, sie funktionieren nicht. Ich kann gut und richtig hören, aber ich habe den Eindruck, als fehle mir ein Gehörorgan. Auch meine Augen sehen gut. Ich sehe aber kaum. Das eine Auge, das linke da, weigert sich zu sehen. Das ist einfach in der Vergangenheit geblieben. Das sieht nur das, was damals war. Meine Kindheit, meine Schulzeit, die schöne Gymnasialzeit. Ja, es will einfach nicht die Gegenwart sehen. Auch das linke Bein und der linke Arm sind wie gelähmt, obwohl ich gut gehe und mich ohne Schwierigkeiten bewegen kann. Ich fühle es einfach. Ich bin gesund, doch sie lehnen es einfach ab, meinem Willen zu gehorchen. Ich gelte deshalb als arbeitsunfähig.

Es ist mir niemals gelungen meine Arbeitsgeber von meiner Leistung zu überzeugen. Die haben mir immer gesagt: „Herr Tschinku, ich denke, Sie wollen gar nicht arbeiten“. Das stimmt aber nicht. Ich will arbeiten, aber es geht einfach nicht. Ich bin wie ein Kind. Nein, habe ich Kind gesagt? Ich beschönige noch. Ich bin nur ein Ding. Ich erwarte jeden Tag, dass die gute Uta mir sagt: „Jakubu, tue dies! Jakubu, tue das! Steh auf! Wasche die Kinder! Geh einkaufen! Ja, ich bin ein Ding. Ich kann kaum noch denken. Ich mache nichts aus eigenem Antrieb. Auch essen tue ich nicht, wenn ich allein bin. Nur rauchen. Hast du gesehen, wie ich hier gegessen habe? Es ist so, als ob alle meine Kräfte wieder da wären, weil ich hier bin. Hier, bei dir.

Es gibt etwas in dir, was mich lebendig macht. Es gibt in dir etwas, das ich brauche, etwas, was mir fehlt. Den zweiten Teil von mir finde ich hier bei dir. Ich habe Angst davor, dass ich in meinen leblosen Zustand zurückfalle, wenn ich von hier weggehe. Aber gleichzeitig habe ich es eilig, nach Hause zu fahren. Ja, sie fehlen mir schon, meine Kinder. Ich will meine Kleinen sehen, ich will sie umarmen, ihnen dienen. Ich vermisse sie schon. Ja, ich vermisse ihre Wünsche, sie sind für mich wie Befehle. Doch ich bemitleide sie auch. Ich bin alles, was sie besitzen. Aber sie wissen es nicht. Sie haben kein Zuhause, aber sie ahnen es nicht. Guck mal! Ich, ich bin Afrikaner und Uta ist Europäerin. Aber die beiden, sie haben kein Zuhause, die Unschuldigen. Ich bin ihr Kontinent, aber sie ahnen es noch nicht. Sie sind wie Fledermäuse. Erinnerst du dich an das Märchen, das unser Biologielehrer immer wieder erzählt hat?

Es handelte von einem Krieg zwischen Vögeln und Säugetieren. Doch die armen Fledermäuse wussten nicht, zu wem sie gehörten. So standen sie in der Mitte vom Schlachtfeld und bekamen Pfeile von beiden Kontrahenten ab. Kennst du noch diesen Spruch aus dem Volksmund? Er lautet ungefähr so: „Ein Kind mit mehreren Familien ist sicherlich zum Tode verurteilt. Entweder es stirbt vom Hunger oder es stirbt von zu viel Essen.“ Meine Süßen werden vor Hunger sterben. Denn niemand will sie haben, niemand außer mir. Ich bin ihr Kontinent, die Unschuldigen.

Ich weiß aber selber nicht, ob ich etwas für sie tun kann. Ich weiß nicht, was ich kann, was ich bin, was ich will, wo ich bleiben und wohin ich gehen soll. Eines weiß ich aber: Ich weiß sehr wohl noch, woher ich komme. Aus Afrika, aus Pabegou. Ich bin ein Tschinku, Sohn des Regens. Einer von denen, die jeden Morgen weder vom Kikeriki des Hahns noch vom Rappeln des Weckers aufgeweckt werden, sondern vom Gehörkitzel durch den Lobsänger, den Griot. Das weiß ich noch. Aber ich will dorthin nicht mehr zurückkehren. Ich bleibe hier. Hier bin ich zu Hause. Ich bin ein Deutscher. Nein, ein Teil von mir ist deutsch. Ich mag diesen Teil nicht, ich hasse mich. Aber ich bleibe hier, ich bin hier zu Hause.

Weißt du? Ich heiße jetzt Jakubu Benedikt Tschinku Wagner. Den Nachnamen Wagner habe ich mit meiner Hochzeit erworben. Ich hätte meine Namen behalten können, wie der Bürgermeister von Ommersheim mir erklärte. Uta meinte aber, es sei schon schlimm genug für unsere Kinder, dass sie einen schwarzen Vater haben. Wir sollten ihnen mindestens die Möglichkeit der Wahl geben, ob sie später meinen oder ihren Nachnamen tragen wollen. So kamen wir zu diesem Kompromiss.

Uta hatte Recht gehabt. Denn heutzutage werden Leute schon dann nicht zum Vorstellungsgespräch eingeladen, wenn allein ihr Name auf eine ausländische Herkunft hindeutet. Ein Mitbürger türkischer Herkunft sagte mir, er fände die Entscheidung gut, dass meine Kinder Wagner hießen. Auf jeden Fall freue ich mich auch darüber.

Meine afrikanischen Wurzeln habe ich aber begraben müssen. Mein Afrika war damals auf die einzigen schwarzen Freunde beschränkt, die hier wohnten und denen ich gelegentlich auf dem Campus begegnete. Auch von ihnen hatte ich mich allmählich distanzieren müssen, weil ich meine Traumwelt und meine Träumereien mit ihnen nicht teilen wollte.

Tschinku im Gastland

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