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1.Kapitel Der „Neue“
ОглавлениеEs ist Anfang Dezember 2014. Bald ist Weihnachten. Wir werden, wie jedes Jahr, einen Christbaum aufstellen und mit bunten Glaskugeln und glitzernden Girlanden schmücken. Wir werden, wie jedes Jahr, einen Gänsebraten in der Röhre brutzeln. Und wir werden am 24. Dezember, wie jedes Jahr, den Braten gemeinsam mit der Familie am Abend verspeisen. Wir werden danach Geschenke verteilen und im Wohnzimmer gemütlich zusammen sitzen. Wir werden selbstgebackene Plätzchen essen und einen Glühwein trinken. Die Männer trinken Bier, wie jedes Jahr. So ist der Brauch.
Bevor ich Ihnen mehr erzähle will ich Ihnen verraten, wer wir sind. Wir sind eine ganz normale Familie und wir sind ein gutes Team. Mein Mann Reinhard und ich sind nun schon über 28 Jahre glücklich verheiratet. Ich bin die Cordula. Wir haben zwei gesunde Kinder, welch Glück. Ich liebe sie. Katharina ist jetzt 26 Jahre alt und Alexander 22 Jahre jung.
Und wir hatten so viele wunderschöne Jahre. Tolle Jahre, viele Ideen und Ziele, viele Feiern und Feste, viele Reisen, viel Spaß und was sonst noch so alles dazu gehört. Wir haben ein Haus gebaut. Und dafür haben wir gebloggert, gerne gebloggert (das bedeutet: wir haben gerne dafür hart gearbeitet). Wir haben uns Kinder gewünscht und „Hurra“ wir haben zwei wunderbare gesunde Kinder bekommen. Dafür danke ich Gott. Wir wollten eine Familie gründen. Ja, das war unser gemeinsamer allergrößter Wunsch. Wir haben eine Familie gegründet und wir waren eine glückliche Familie.
Wir sind natürlich immer noch eine Familie, nur das Glück ist nicht mehr unser ständiger Begleiter. Andere Begleiter sind an diese Stelle getreten: die Angst, das Hoffen, das Warten, die Geduld, die Wut und der Ehrgeiz. Das ist nicht einfach, nicht einfach für mich und nicht einfach für meine Familie. Für uns alle bedeutet das eine sehr, sehr anstrengende Zeit. Die wunderbare unbeschwerte Zeit liegt hinter uns. Aber das werde ich zum Glück nie vergessen.
Wir leben etwas außerhalb am Stadtrand von Münchberg, in einem ruhigen Wohngebiet. Der Wald und die Felder liegen nur wenige Meter von unserem Haus entfernt. Wir wohnen im „Grünen“. Hier ist es ruhig. Alles scheint perfekt.
Und zu uns gehört unsere Hündin „Lilly“, seit Mai 2011. Und das nur weil Dr. Greim mir 2011 den Rat gab: „Frau Hübner ein neuer Hund muss her, und zwar schnell. Holen Sie sich einen neuen Gefährten, Sie brauchen einen. Sie brauchen wieder eine Aufgabe. Sie brauchen wieder Leben und Spaß am Tag, gerade wenn Sie alleine zu Hause sind. Gerade dann wenn Ihr Mann in der Arbeit ist oder Ihre Kinder an der Uni sind. Sie brauchen einen Partner an Ihrer Seite.“
Dr. Greim wusste von mir, dass unser vorheriger Hund „Rocky“ gleich zu Beginn meiner Krankheit gestorben war. Deshalb war ich damals sehr traurig gewesen. So kamen damals zu meinem eigenen Schmerz die Trauer und das Alleinsein dazu. Unser Rocky starb am 3. Februar 2011.
Das werde ich nie vergessen. Rocky starb ganz langsam, jeden Tag ein wenig mehr, jeden Tag ein wenig schlimmer. In dieser Zeit lag er immer an meiner Seite, jeden Tag, jede Stunde. Es waren so viele Stunden, unendlich lange Stunden bis zum Schluss.
Rocky starb einige Wochen lang, genauer gesagt fünf lange Wochen, und ich konnte nichts für ihn tun, gar nichts. Manchmal konnte ich ihn nicht einmal rechtzeitig in den Garten hinaus lassen, weil ich selbst nicht aufstehen konnte. Er erbrach neben mir. Er röchelte zum Schluss nur noch und meine Hand streichelte sein struppiges Fell. Mehr konnte ich nicht tun. Ich konnte nur da sein und zusehen, mehr nicht. Ich wurde sehr traurig. Das war eine lange schlimme Zeit.
Als Rocky tot war hatte ich niemanden mehr an meiner Seite.
Nur die Stille hatte mehr Platz bekommen. Kein Laut war zu hören. So viele Stunden der Stille. Viel zu viele. Zu viele. Auch das werde ich nie vergessen.
Als mir damals Dr. Greim den Ratschlag gab wieder einen Hund an meine Seite zu lassen überlegte ich es mir gut. Und ich entschloss mich für einen Hund. Auch meine Familie fand meinen Entschluss gut. Meine Katharina setzte sich sofort über das Internet mit einigen Züchtern in Verbindung. Und so kamen wir dann, nachdem wir uns bei verschiedenen Züchtern umgesehen hatten, zu der wohl besten Entscheidung seit langer Zeit.
Wir hatten unsere „Lilly“ gefunden.
Hier ist Lilly gerade acht Wochen alt.
Wir holten sie am 1. Mai 2011 zu uns nach Hause. Lilly war gerade acht Wochen alt und winzig klein. Mein Herz ging auf und Lilly lief mir fröhlich hinterher.
Die Entscheidung für einen Hund war wohl eine der besten Entscheidungen meines Lebens, damals, jetzt und immer.
Ich bin mir sicher, dass ich ohne meine Lilly nicht so gut laufen würde. Von Anfang an strengte ich mich besonders an, denn ich wollte wieder laufen. Ich wollte mit Lilly spazieren gehen. Ich wollte das unbedingt obwohl es gar nicht so einfach war. Mein Wille war grenzenlos. Mit enormer Anstrengung wurden aus 10 Schritten bald 20 Schritte und dann 30. Auf gerader Strecke konnte ich bald 5 Minuten laufen. Was sind schon 5 Minuten? Dann lief ich 10 Minuten, endlich. 10 Minuten Laufen, über die ich mich freuen konnte.
Natürlich gab es nicht nur Fortschritte. Immer wieder gab es neue Herausforderungen und unverhoffte Schwierigkeiten. Beim Laufen wurde jede noch so kleine Steigung zum Hindernis und jedes Hindernis war ein Rückschlag. Nein, einfach war es nicht.
Trotzdem, ich habe nicht aufgegeben.
Meine Motivation wurde mein ständiger Begleiter und mein Lachen kam zurück. Es hat sich gelohnt. Jeder Schritt hat sich gelohnt. Zuerst bin ich nur wenige Meter gelaufen, ganz langsam. Immer wieder die Füße heben. Ich habe nicht aufgegeben. Es hat sich gelohnt, jeder Schritt und jeder Meter. Ich bin wirklich dankbar, sehr dankbar dafür. Und ein ganz besonderes
DANKESCHÖN an Dr. Kern und Dr. Greim
Gehen, laufen, rennen. Egal. Fröhliche Augen sehen mich an. Lilly ist immer bereit, denn sie sieht nicht auf das Wetter und sie sieht nie auf die Uhr. Sie sieht nur auf mich.
Wir genießen die Natur zusammen. Wir gehen gemeinsam und das seit über vier Jahren. Das macht es mir leichter und hilft mir diese lange Zeit zu überstehen.
Wir hatten unsere Träume und Wünsche an die Zukunft.
Wir, also meine Familie und ich, genießen unser Leben, das bis zum 3. Januar 2011 ganz normal verlaufen ist. Wir, also Reinhard und ich, gehen gerne zur Arbeit, dort geben wir 100 Prozent.
Wir haben unsere Hobbies, wir sind gesellig, wir lieben gutes Essen und wir sind stolz auf unsere Kinder. Wir sind eine ganz normale Familie. Auch hier zu 100 Prozent. Alles läuft bestens.
Reinhard arbeitet in einer Druckerei und ich arbeite seit meinem Schulabschluss im Reisebüro. Die weite Welt ist meine Welt geworden und meine große Leidenschaft geblieben. Ich bin so gerne unterwegs. Ich liebe den Umgang mit Menschen. Ich bin sehr kontaktfreudig und fröhlich. Ich liebe das Leben.
Ich lerne gerne andere Kulturen kennen und ich respektiere andere Religionen. Ich bin so neugierig und spontan. Trotzdem überlege ich mir jede meiner Entscheidungen sehr genau. Ich liebe fremde Sprachen. Ich liebe das Wasser, das Meer, die Palmen, die Strände und die Sonne. Ich liebe den Süden. Ich gehe sehr gerne schwimmen. Ich laufe so gerne barfuß am Strand. Und das bereits ein Leben lang.
Unsere Kinder sind fleißig. Beide bestehen das Abitur. Das macht uns Eltern stolz. Alles richtig gemacht. Oder? Beide studieren und beide arbeiten nebenbei um sich ein Auto zu leisten und was sonst so dazu gehört. Der Luxus um in eine Diskothek oder auf ein Konzert zu gehen, muss erarbeitet werden. Sie finanzieren sich ihr Leben selbst, das gehört dazu. Das wissen meine Kinder.
Alles läuft bestens. Wir haben viele Freunde, wir verstehen uns mit unseren Nachbarn und wir leben ein ganz normales Leben, ein sehr glückliches Leben.
D A N K E .
Bis ich krank werde. Danach ist nichts mehr wie vorher. Danach ändert sich mein Leben und meine Familie steht hilflos daneben.
Ich werde anders, denn die Krankheit geht nicht spurlos an mir vorbei. Eine Krankheit verändert einen. Ich lerne die Stille. Geduldig und mit großer Ausdauer durchlebe ich diese Zeit. Die nie endenden Schmerzen, diese sinnlosen Blitze in meinem Fuß und die vielen Medikamente nehmen mir fast den Verstand.
Ich konnte und ich kann mich mit der Krankheit nicht abfinden. Es gibt Höhen und Tiefen.
Der Kampf mit dem CRPS fällt mir immer schwerer je länger er dauert. Das ist so.
Das Phänomen in mir ist immer da. Das Phänomen bestimmt mein Leben und meine Leistung. Das Phänomen tobt in mir, jeden Tag und jede Nacht, immer wieder. Es gibt keinen Grund und ich habe keinen Einfluss darauf.
Aber ich gebe nicht auf. Ich bin noch lange nicht angekommen an meinem Ziel. Auch ich bin fleißig. Ich bin sehr ehrgeizig geworden in dieser Zeit. Auch das gehört dazu.
Ich kann bis heute nicht mehr arbeiten. Ich kann nicht einmal den Haushalt alleine führen. Manchmal sitze ich stundenlang in meinem Sessel. Mein Fuß liegt weich auf mehrere Kissen gebettet und ich bin bewegungslos, außer Gefecht gesetzt. Einfach so. Die Blitze im Fuß erlauben mir nicht die geringste Bewegung. Die kleinste Bewegung verursacht noch mehr Schmerzen, noch mehr Blitze schießen durch meinen Fuß. Und es hört nicht auf.
Als ob Maschinengewehre durch meinen Fuß hindurch feuern. Der Krieg tobt in mir, immer wieder, immer noch.
Waffenstillstand? Nein, kein Ende in Sicht. Ich kann dann kaum normal atmen, so sehr strengt mich das an. Ich kann nichts dagegen tun, das ist wohl das Schlimmste daran.
Nichts läuft bestens. Nichts ist gut. Nichts!!!
Es gibt so viele Entspannungsübungen, bislang hat mir keine geholfen. Ich sitze den Wahnsinn aus. Minuten, manchmal Stunden und das ist eine lange Zeit. Ich sehe nicht mehr auf die Uhr, das habe ich mir längst abgewöhnt. Ich weiß nie wann es los geht und ich weiß nie warum es los geht. Das ist ganz schlimm für mich. Niemand kann mir dieses Geschehen in meinem Körper erklären.
Und ein „Warum?“ gibt es scheinbar nicht.
Am Anfang dachte ich, das hört bestimmt wieder auf. Für jede Krankheit gibt es die richtige Medizin. Für jede Krankheit gibt es die richtigen Therapien. Therapien die anschlagen und helfen. Man muss nur mitmachen und darf nicht gleich die Flinte ins Korn werfen. Man muss sich anstrengen, nicht nachlassen. Dann wird es besser. Dann wird man auch wieder gesund. Oder?
Für mich gibt es Medikamente und Therapien, ob sie helfen muss ich selbst ausprobieren. So vieles musste ich wieder abbrechen, weil es nicht anschlug oder weil ich es nicht vertragen habe.
Viel zu viel und viel zu groß ist die Hoffnung. Und noch größer ist die Enttäuschung für mich wenn etwas nicht klappt. Immer wieder.
Manchmal kommen mir Zweifel, ob es je besser werden kann. Meine Zweifel sind nie vergangen. Nie. Meine Zweifel wurden stärker aber ich wollte zum Glück nur selten aufgeben. Und ich habe bis heute nicht aufgegeben. Nie.
Ich kann an keiner Feier, die am Abend stattfindet, teilnehmen. Ich gehe am Nachmittag nicht mehr außer Haus, weil ich zu müde und schlapp bin. Dann bin ich zugepumpt. Die vielen Medikamente belasten meinen Körper. Die vielen Medikamente vernebeln meine Sinne. Mehr und mehr bin ich gefangen in meiner kurzen Zeit, die ich habe. Und die Zeit wird immer kürzer.
Mein Körper schafft keine Leistung mehr. Seit über vier Jahren. Bis heute. Ich benötige sehr viel Schlaf. Ich brauche Ruhe, so viel Ruhe, die ich doch gar nicht will. Und ich werde schwächer.
Ich finde es ist genug.
Ich kann nicht mehr barfuß laufen. Ich kann nicht einmal barfuß stehen. Und so oft stehe ich vor meinem großen bodentiefen Spiegel im Schlafzimmer, halte mich an der Schranktür fest und stelle mich auf die Zehenspitze, barfuß. Ich stehe barfuß auf der Zehenspitze mit meinem rechten Fuß. Der ist schließlich ganz normal und gesund. Kein Problem. Mein linker Fuß liegt regungslos auf der orthopädischen weichen Fußbettung in der Pantolette ohne zu zucken. So sehe ich mich im Spiegel. Und das seit über vier Jahren.
Dornröschen schläft noch…
Mein linker Fuß und mein linkes Bein vertragen kein Wasser mehr, kein warmes und kein kaltes. Wenige Tropfen Wasser lösen bereits heftige Schmerzattacken bei mir aus, bis heute. Blitze aus Feuer und Eis schießen dann durch meinen Fuß bis über mein Knie, einfach so. Als ob die Wassertropfen meinen linken Fuß zerschmettern und meine Knochen zertrümmern. Ohne Grund. Immer wieder. Ohne Sinn und ohne Zeit. Bis heute. Ich kann das nicht verstehen und es tut so schrecklich weh.
Ich kann gar nichts dagegen machen. Ich bin dem Geschehen hilflos ausgeliefert. Immer wieder und es hört nicht auf.
Ich nehme Medikamente um den Schmerz auszuhalten. Aushalten wäre zu viel gesagt. Die sehr starken Medikamente sollen den Schmerz abschwächen und es mir erträglicher machen. Heilen können diese Medikamente nicht. Und so kamen mehr und mehr und noch stärkere Medikamente zum Einsatz. Bis heute. Kein Ende in Sicht. Ich stehe schon ganz weit oben, Schmerzstufe 3, mehr geht nicht.
So, nun habe ich Ihnen meine Familie und mich vorgestellt. Und der CRPS gehört dazu. Jetzt kann ich Ihnen meine Geschichte weiter erzählen. Eine Geschichte wie das Leben eben spielt wenn nichts mehr ist wie es war.
Ende November 2014 geht mein Orthopäde Dr. Kern in den geplanten Ruhestand und zieht weg. Er hatte mich von Anfang an betreut und sehr sicher behandelt. Ich hatte großes Vertrauen und größten Respekt vor seinem medizinischen Wissen. Er konnte mich immer wieder motivieren. Er stand hinter mir mit seinem großartigen medizinischen Wissen und er stand neben mir als Mensch. Immer wieder.
Ich verdanke ihm wirklich sehr viel. Ich werde es ihm nie vergessen und ich sage:
D A N K E S C H Ö N dafür.
Und jetzt: Schnitt. Cut. Ende. Alles vorbei. Aus.
Ich werde von seinem Nachfolger übernommen und darf in der Praxis bleiben. Ich bin froh darüber, denn mein Krankheitsverlauf ist in meiner Patientenakte dokumentiert. Gleichzeitig bin ich aufgeregt und nervös weil ich nicht weiß wie der „neue Arzt“ ist.
Als ich an einem Mittwochnachmittag meinen ersten Termin bei dem „Neuen“ habe, nehme ich mir vor ganz unvoreingenommen zu bleiben. Zugegeben, ganz unvoreingenommen bin ich natürlich nicht. Das dürfte Ihnen klar sein. Aber ich will ihm eine Chance geben.
Nachdem ich einige Minuten im Wartezimmer gewartet hatte wurde ich aufgerufen. Ich ging in das Sprechzimmer und wurde freundlich von ihm begrüßt. „Hallo, Frau Hübner. Ich kenne Sie. Ich habe Sie im Klinikum Münchberg mehrmals gesehen.“ Ich antwortete: „Guten Tag. Ja, das ist gut möglich. Ich war einige Male zur stationären Schmerztherapie im Klinikum bei Dr. Greim.“ Der Neue sagte nur: „Ja, genau.“ Dann las der „Neue“ weiter in meiner Computerakte. Es war ganz still im Sprechzimmer als der „Neue“ zu mir sagte:
„CRPS ist Schicksal.“
Mehr sagte er nicht. Es war mucksmäuschenstill in diesem Moment. Ich stand sprachlos im Sprechzimmer. Was war das denn? War das alles? Gab es keine Fragen an mich? Gab es nur diese Feststellung? War das alles?
Dann fragte mich der „Neue“ doch noch:„Brauchen Sie etwas?“ Ich nickte nur. Ich war so durcheinander und irritiert von seiner Feststellung. Wieder war es still im Raum. Dann antwortete ich und meinte nur: „Ja, ich benötige eine neue Arbeitsunfähigkeitsmeldung, bitte. Außerdem noch Rezepte für die Krankengymnastik und die manuelle Lymphdrainage.“ Es war mucksmäuschenstill im Zimmer und die Sprechstundenhelferin tippte meine Anforderungen in den Computer. Man hörte nur das Klappern ihrer Fingernägel auf der Tastatur. Wenig später legte sie die ausgedruckten Rezepte und die Bescheinigung dem Arzt zur Unterschrift vor. Es war ganz still. Totenstille im Raum. Totenstille in mir. Schock? Herzklopfen in mir.
„So, bis zum nächsten Termin.“ Der neue Arzt gab mir die Hand und ging aus dem Zimmer. Und ich sagte nur: „Auf Wiedersehen“.
Der „Neue“ hatte das Behandlungszimmer bereits verlassen als ich kurz danach den Flur zurück zum Ausgang ging. Ich wollte nur noch hinaus, schnell hinaus, schnell nach Hause fahren.
Ich lief die Treppe hinunter zum Ausgang und ging zu meinem Auto. Ich war noch immer geschockt und erstaunt. Erstaunt, dass so wenige Worte ausreichen sollten. Reichte das? Was war das denn? Wo bin ich?
Ich war so enttäuscht. Ich war entsetzt. Hatte ich das erwartet? Die Chance, die ich dem „Neuen“ gegeben hatte, war verspielt, vorbei. Zumindest für diesen Moment.
War ich ungerecht?
Was hatte ich erwartet? Falsch, nicht erwartet, ich hatte gehofft. Wieder einmal hatte ich gehofft. Ich hatte gehofft, dass sich der „Neue Arzt“ für meinen Fall interessiert. Das hatte ich mir erhofft, erhofft und gewünscht. Aber er hatte mich nicht einmal gefragt wie es mir geht.
Als ich in meinem Auto saß kullerten die Tränen über meine Wangen. Ich saß einfach nur im Auto und heulte. Ich heulte und konnte nicht mehr aufhören. Ich konnte mich nicht beruhigen. Ich hatte lange nicht mehr so geweint. Jetzt aber lief mir ein Meer aus Tränen über mein Gesicht. Ich war traurig. Ich war so enttäuscht. Ich war so verletzt, tief verletzt. Verdammt, das tut weh.
Ich weinte nur. Dazu spielte die Musik aus dem Autoradio, leise Musik und Tränen über Tränen.
Als ich mich endlich ein wenig beruhigt hatte startete ich den Motor, drehte die Musik lauter und fuhr nach Hause. Immer wieder wischte ich mir die Tränen vom Gesicht, immer wieder. Ich heulte weiter. Alles kam raus, meine Enttäuschung, meine Zweifel, meine Angst und meine Hoffnung. Alles!
Hoffentlich würde mich niemand fragen, wie es war. Was sollte ich dann sagen?
Als ich zu Hause angekommen war und im Flur meine Jacke und meine Stiefel auszog und in meine „Spezial“ gebetteten Pantoletten schlüpfte hörte ich Reinhard rufen: „Na, wie war er? Was hat der neue Doc gesprochen?“ Ich schluckte nur, denn ich konnte gar nicht antworten weil mir schon wieder die Tränen herunter liefen. Reinhard rief noch einmal: „Hast du mich nicht gehört? Wie war er denn?“ Ich antwortete und schluchzte dabei: „Was er gesagt hat? CRPS ist Schicksal, mehr nicht! Ich kann nicht mehr. Ich halte das nicht aus. Wie geht es weiter mit mir? Ist es damit getan es Schicksal zu nennen, mehr nicht? Ich bin doch lange noch nicht fertig. Oder? Ist das alles? Das darf nicht sein. Nein, das ist doch nicht das Ende? Sag es mir, bitte.“
Und da war sie wieder da. Meine Verzweiflung. Meine Angst. Ich fiel in ein großes Loch, ganz tief. Dieser kurze Moment löste bei mir größte Sorge aus und ich stellte meine Zukunft in Frage. So schnell geht das.
Reinhard sagte gar nichts dazu. Er wusste keine Antwort darauf und er wollte mich vermutlich nicht noch mehr beunruhigen. Ich ging schniefend die Treppe nach oben und legte mich auf unser Bett. Ich weinte und Tränen tropften leise.
Ich nahm meinen kleinen weißen MP3-Player von dem Nachttisch und steckte mir die Ohrstöpsel in meine Ohren. Dann schaltete ich den MP3-Player an. So, nun war ich dem Geschehen entflohen. Ich musste keine Fragen über mich ergehen lassen und ich musste nicht antworten. Ich hatte sowieso keine Antwort.
Ich machte die Augen zu. Und weg war ich, in Gedanken weit weg. Ich hörte nur noch meine Musik, laut, ganz laut. Die Tränen liefen mir über das Gesicht. Ja, ich war sehr traurig in diesem Moment, sehr sogar.
Ich stellte die Lautstärke noch höher ein. Bis zum Trommelfell platzen. So konnte ich mich zumindest für diesen Moment wegbeamen. Ich wollte jetzt nichts anderes. Nicht reden, nicht diskutieren, keine guten Ratschläge, keine Kompromisse, keine Chancen, keine Fragen, keine Gedanken an Besserung, kein neues verzweifeltes Hoffen, nichts. Wo bin ich? Skyscraper?
Ich lag schon eine Weile auf meinem Bett, da bemerkte ich, dass meine Hündin „Lilly“ schwanzwedelnd vor meinem Bett stand und mich ganz sanft an der Hand ableckte. Sie leckte zärtlich über meine Hand. Ganz zart und vorsichtig, so als wollte sie mich nicht erschrecken. Ich machte die Augen auf und Lilly sah mich mit ihren fröhlichen Augen an. Ich streckte meine andere Hand aus und streichelte ihr Fell. Dann sagte ich leise zu ihr: „Lilly, gut das du da bist.“ Ich streichelte weiter ihr weiches Fell. Das beruhigte mich. Das tat mir so gut. Ich atmete jetzt ganz ruhig. Lilly wich nicht von meiner Seite, so als ob sie mir beistehen und mich beschützen wollte. Das tat mir so gut. Ich liebe sie.
Nach vielen, vielen Minuten stand ich auf und zog mich um. Ich räumte meine Hose auf, ich legte mein Shirt ordentlich zusammen und dann in meinen Kleiderschrank. Dann schlüpfte ich in ein bequemes Schlabbershirt und wollte meine Jogginghose anziehen. Als ich mit dem linken Bein, besser gesagt mit dem linken Fuß, die Jogginghose berührte jagte sofort ein Blitz durch meinen Fuß. Es tat mir so weh, dass ich die Hose gar nicht anziehen konnte. So stand ich also nur im Shirt im Schlafzimmer. Ich stand auf einem Bein.
Auch das ist CRPS. Einfach so, ohne Grund, ohne Sinn, ohne Zeit!
Lilly stand neben mir und wartete auf ein Kommando. Ich sagte nur: „Geh!“ Sofort wusste sie, dass sie die Treppe vor mir nehmen sollte. Und das tat sie. Schnellen Schrittes lief sie die Treppe vor mir hinunter und ich ging langsam hinterher. Mein Fuß tat mir beim Auftreten so weh, dass ich nur ganz langsam hinterher laufen konnte. Schritt für Schritt, ganz langsam zog ich meinen linken Fuß hinterher und setze ihn ganz vorsichtig auf. Ich musste mich mit einer Hand am Geländer festhalten um das Gleichgewicht nicht zu verlieren.
Wie ich das hasse! In der anderen Hand hielt ich meine Jogginghose krampfhaft fest.
Reinhard stand in der Küche. Er hatte das Abendessen vorbereitet. Er hatte extra auf mich gewartet. Ich war ihm dankbar, dankbar für seine Geduld und dankbar für keine weiteren Fragen. Wir saßen uns gegenüber und redeten keine unnötigen Worte, die mich vielleicht wieder aufgeregt hätten. Ich sah bestimmt ganz verheult aus, aber auch dazu sagte Reinhard kein Wort. Schweigend aßen wir zu Abend. Schweigend räumte Reinhard danach den Tisch ab. Schweigend räumte er den Geschirrspüler ein. Ich humpelte langsam in unser Wohnzimmer und setzte mich in meinen Sessel. Lilly wich nicht von meiner Seite. Sie legte sich neben meinen Sessel, auch langsam, so als ob sie mich nicht stören wollte, ganz ruhig.
Später lief im Fernsehen ein Film, den ich nur noch halb schlafend mitbekam. Was war das für ein Film? Keine Ahnung.
Meine starken Medikamente, die ich regelmäßig am Abend einnehmen musste, setzten mich schnell außer Gefecht. Jeden Tag, jeden Abend das gleiche.
Ruhig gestellt, um zur Ruhe zu kommen. Ruhig gestellt, um die Schmerzen auszuhalten. Und das seit fast vier Jahren.
Kurz nach Neun Uhr schlich ich wieder nach oben. Ich musste mich am Treppengeländer festhalten und dann am Türrahmen. Ganz langsam und vorsichtig zog ich mich aus. Ich musste mich setzen, denn mir war schwindelig und ich schwankte leicht. Dann schlüpfte in mein Nachthemd und ging zu Bett. Ich deckte mich zu und schlief sofort ein.
Kein Traum störte meinen Schlaf. Keine Gedanken in mir. Ende. Aus. Ohne Sinn, ohne Plan und ohne Zeit. Einfach so, mitten im Leben. Nichts geht mehr. Schwarz oder Weiß?
Ich höre nichts, ich schlafe wie tot. Wo bin ich?