Читать книгу Kirche im freien Fall - Cristina Fabry - Страница 11
Die zehnte Plage
Оглавление„Jetzt ist es soweit. Die neunte Plage ist gekommen und bis zur zehnten wird es nicht mehr lange dauern, denn sie kehren noch immer nicht um. Kaum jemand erkennt die Zeichen.
Die erste Plage hat schon in den Achtzigerjahren begonnen: AIDS hat im Laufe der Jahre mehrere Millionen Menschen getötet und bis heute gibt es weder Impfung noch Heilung – von zwei Ausnahmewundern abgesehen.
Dann folgte die zweite Plage: Gletscher und Polareis begannen aufgrund der Erderwärmung deutlich zu schmelzen, die Weltmeeresspiegel stiegen an, bewohnte, pazifische Inseln versanken für immer.
Die dritte Plage war das exorbitante Seebeben mit dem darauf folgenden, verheerenden Tsunami, der fast eine Viertelmillion Menschenleben gefordert und eine unglaubliche Spur der Verwüstung hinterlassen hat.
Immer mehr Kriege haben weltweit für Vertreibung und Flucht gesorgt, die Geflüchteten mussten erbittert um einen neuen Platz und ihre Existenz kämpfen, viele haben den Kampf verloren und von denen, die fortan ihren Platz teilen mussten, wurden die neu hinzugekommenen Menschen als Bedrohung erlebt. Das war die vierte Plage.
Die fünfte Plage war bald nicht mehr zu übersehen: unendliche Mengen von Plastik fand sich in den Weltmeeren, tötete Pflanzen und Tiere und gelangte in die Nahrungskette der Menschen, um sie krank zu machen.
Wie von selbst kam nun die sechste Plage: überall schossen Faschisten und Populisten wie Pilze aus dem Boden und die Menschen in ihrer Torheit und Bosheit gaben ihnen Macht über sich.
Die siebte Plage folgte auf den Fuß: Hitze und Trockenheit ließen die Ernten verbrennen und dezimierten die Trinkwasservorräte. Doch sie erkannten noch immer nichts.
Die achte Plage brachte Stürme und Überschwemmungen, doch die Menschen machten wie gewohnt weiter und ignorierten die Warnungen des HERRN.
Nun ist also die neunte Plage gekommen. Das Virus hält sie fest im Würgegriff, hat schon viele Tausende getötet und wird weiter töten. Die Mächtigen indes, die es auf welchem Weg auch immer in die Welt gebracht haben, nutzen die Angst und Unsicherheit, um die Massen unter ihre vollkommene Kontrolle zu bringen.
Kein Zeichen der Einsicht bei den Menschen, keine Bereitschaft zur Umkehr, um für die Wiederkunft des HERRN bereit zu sein. Bald wird die zehnte Plage kommen: die Tötung aller Erstgeburten durch den Engel des HERRN. Und dieser Engel bin ich selbst.
Ich hatte einen Traum – was sage ich – ein Gesicht, eine Vision, eine Offenbarung des HERRN. Er gab mir das spitze, zweischneidige, flammende Schwert in die Hand, eine Lilienblüte bildete Heft und Griff und ich hörte seine donnernde Stimme sagen: ‚Bereite dem HERRN den Weg, denn siehe, die Himmel sind nahe herbei gekommen, es ist an der Zeit und das Blut der Stammhalter der Verderbten soll den ausgedörrten Boden benetzen und ihm seine Fruchtbarkeit zurück bringen.‘
Und ich sah mich selbst, wie ich all die Erstgeburten vernichtete und wie das Land sich rot färbte und wie dann überall das Grün aus dem Boden schoss und der Himmel blauer als blau wurde und die helle Sonne alles in goldenes Licht tauchte und die Seraphinen und Cherubim sangen mit glockenhellen Stimmen und der HERR selbst stieg aus den Himmeln und machte alles neu.“
Renan hat die Verrückte im letzten Moment zu Boden gerungen, bevor sie Hakan das lange, spitze Fleischmesser in den Leib rammen konnte. Um sie herum stehen die Leute mit offenen Mündern, ihre Einkaufswagen schützend vor sich, wie eingefroren, als warteten sie auf den Retter.
„Verdammt!“, brüllt Renan. „helft mir dieses Ungeheuer festzuhalten. Ruft die Polizei!“
Die Umstehenden rühren sich noch immer nicht. Die einen glotzen, die anderen gehen einfach weiter, nur weg aus der Gefahrenzone. Schließlich haben sie nichts damit zu tun. Am Ende bekommt man noch einen Messerstich ab, nein nein, das ist sicher eine Stammesfehde, irgendeine Türkenmafia-Geschichte, das sollen die mal schön unter sich ausmachen. Womöglich hat noch einer von denen Corona, denen kommt man besser nicht zu nahe.
Hakan wählt einen aus, der besonders stark aussieht. Er hat große, kräftige Beine, sehr breite Schultern und einen Kopf wie der Mann auf der Flasche mit dem Reinigungsmittel. Seine schweren, schwarzen Stiefel mit den weißen Schnürsenkeln machen den Eindruck, als wenn ihn nichts und niemand umhauen könnte. Hakan geht auf ihn zu und sagt: „Du bist groß und stark. Kannst du meiner Mama helfen?“
Der große Mann sieht ihn lange an. Zuerst so, als sehe er durch den kleinen Jungen hindurch. Aber die Hilfsbedürftigkeit und das große Vertrauen in Hakans Augen beschämen ihn. Er kann doch einen kleinen Jungen und eine Mutter nicht hängen lassen, dann wäre er kein Kerl. Er löst sich aus seiner Starre und eilt zur Hilfe. Als sie das sieht, kommt Bewegung in eine junge Frau, die ruft die Polizei.
„Diesmal war Satan stärker als ich. Aber der HERR wird kommen, das kann Satan nicht verhindern. Der HERR wird siegen. Und ich werde sein Engel sein.“