Читать книгу Kirche im freien Fall - Cristina Fabry - Страница 12
Eremit
ОглавлениеEndlich Ruhe. Was für ein Geschenk. Endlich war er da angekommen, wo er schon immer hinwollte. Als Frauke vor einem halben Jahr ausgezogen war, hatte er zunächst einen Anflug von Panik verspürt, eine große Verunsicherung, die Störung der gewohnten Abläufe, da war etwas unkontrollierbar aus den Fugen geraten, entzog sich seiner Selbstwirksamkeit.
Doch Woche für Woche hatte er gelernt, mit den neuen Anforderungen des Alltags fertig zu werden, hatte feste Tage für seine Routine-Einkäufe, hatte gelernt, sich selbst etwas Schmackhaftes zu essen zuzubereiten und hatte zunehmend die störungsfrei Zeit in seinen eigenen vier Wänden genossen. Kein plärrendes Radio in der Küche, kein nervtötendes Herzkino im Wohnzimmer, keine geschäftige Gattin, die hier etwas ordnete, da etwas putzte, dort etwas zusammenrührte und ihn permanent mit Nichtigkeiten belästigte, seien es Neuigkeiten aus der Nachbarschaft, aktuelle politische Entwicklungen, die neuesten Zipperlein und ausführliche Berichte von Arztbesuchen, ihre Nörgeleien, weil er schmutzige Wäsche im Bad liegen ließ oder seinen Tee zu lautstark schlürfte.
Perfekt war es trotzdem nicht gewesen. Die Gemeinde hatte ihm kaum Ruhe gelassen. Neben den üblichen regelmäßigen Amtshandlungen wie Taufen, Hochzeiten, Beerdigungen, hatte es immer Übergriffe auf sein Privatleben gegeben: Anrufe aufgeregter, wichtigtuerischer Presbyter, die ihre Schlaflosigkeit mit ihm teilen wollten, weil irgendein Haushaltsloch ihnen keine Ruhe ließ. Kurzfristig anberaumte Sitzungen aufgrund vermeintlicher Krisen, psychisch labile oder einsame Menschen, die den persönlichen Kontakt suchten für ein tröstendes Gespräch, abgebrannte Präkarier, die vor der Tür standen und es nicht dabei beließen, finanzielle Unterstützung in Anspruch zu nehmen, sondern versuchten, ihm ein schlechtes Gewissen zu machen, weil er sie nicht umfassend aus ihrem Elend rettete und ihnen so viel Unterstützung gewährte, dass sie für die nächsten Monate ausgesorgt hatten, die manchmal aggressiv wurden und versuchten, ins Haus zu kommen; hormonell übersteuerte Pastorenschwalben von unterirdischem Marktwert, die ihre heimliche Schwärmerei kaum verbergen konnten oder sich nicht einmal Mühe gaben, eine höfliche und angemessene Distanz zu halten.
Das war jetzt alles ausgesetzt, der Seuche sei Dank. Der stille, von hohen Hecken umsäumte Garten, war in goldenes Frühlingslicht getaucht, die Narzissen blühten um die Wette mit dem schneeweißen Mirabellenbusch und niemand suchte ihn auf, weil man persönliche Kontakte ja vermeiden sollte. Gottlob war vor einer Woche seine Telefon- und Internet-Verbindung zusammengebrochen und ein Mobiltelefon besaß er nicht, das lehnte er kategorisch ab. Er war nun ganz auf sich zurückgeworfen, ging jeden Morgen ins Gemeindebüro, hörte dort den Anrufbeantworter ab, sah die Post durch, rief Leute zurück, erteilte der Verwaltungskraft Arbeitsaufträge fürs Homeoffice und hatte zu seiner großen Erleichterung schon seit einer Woche niemanden mehr beerdigen müssen.
Er war ganz auf sich selbst zurückgeworfen, spürte den wärmenden Wollstoff auf seiner Haut, der ihm die gefährliche Frühlingskühle vom Leib hielt, spürte den Puls in seinen Adern, den Geschmack auf der Zunge, wie der Atem in seine Lungen strömte und sie wieder verließ, wo sein Körper den Boden und den Stuhl berührte, wie die Schwerkraft ihn mit der Erde verband. Er hörte in sich hinein, hörte es brausen und tosen. So viel war da in ihm, das ans Licht wollte und immer nicht konnte, weil es permanent zu Störungen kam. Doch jetzt begann es sich Bahn zu brechen, wie der Keimling aus einem Samenkorn, der mit aller Kraft, die über ihm verdichtete, lehmige Erde durchbrach. Alle Weisheit und Erkenntnis dieser Welt schlummerte in ihm und nun erwachte sie, um sich schon bald in voller Pracht zu entfalten.
Da! Verdammt. Dieses entsetzliche, schrille Geräusch, Inbegriff der Unterbrechung, seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Wer wollte denn jetzt etwas von ihm? Das konnte doch nur die wabernde Waltraud sein, die ihn mit einer überwürzten Pizza-Suppe verköstigen, bestechen, verführen oder einfach nur ihren überkochenden Gefühlen Ausdruck verleihen wollte. Er hatte bereits den unappetitlichen Geruch von Schweinehack und minderwertigem Schmelzkäse in der Nase, alles in ihm sträubte sich, die Tür zu öffnen, dennoch erhob er sich pflichtschuldig von seinem Stuhl und schritt schwerfällig zur Haustür.
Durch das Fenster erblickte er einen Mann, der von der Haustür abgewandt auf die Straße blickte. Es würde nicht mehr lange dauern, dann ständen die Bettler vor seiner Tür und würden nebenbei telefonieren, wie es etliche bereits an der Supermarktkasse taten. Gereizt riss er die Haustür auf, doch bevor er ein barsches „Ja, bitte?“ hervorstoßen konnte, war der Mann schon in seiner Wohnung und zwei weitere, die direkt neben der Haustür gestanden hatten, kamen hinterher, schlossen die Tür, rangen ihn zu Boden. Sie rochen säuerlich, hielten ihm mit nach Nikotin stinkenden Fingern den Mund zu, dann hörte er das enervierende Geräusch von abgezogenem Reparaturband. Sie umwickelten seine Hand- und Fußgelenke damit und verschlossen ihm schließlich den Mund. Dann ließen sie ihn liegen und schwärmten aus. Idioten. Was gab es bei ihm schon groß zu holen? Die paar Kröten in der Diakonie-Kasse waren den Aufwand nicht wert. Er besaß keine Wertgegenstände wie Schmuck, Münzen oder handliche High-End-Geräte.
Das Atmen fiel ihm schwer. Die Nasenschleimhäute waren leicht geschwollen, er bekam nicht genug Luft, sein Herz raste und überall im Haus hörte er Schranktüren klappern, das polternde Ausleeren von Schubladen, schwere Schritte.
Irgendwann waren sie fertig. Sie verließen das Haus, wortlos, maskiert, bis sie ins Licht traten, ließen ihn liegen, schlossen die Haustür.
Frauke fühlte sich endlich frei und war heilfroh, dass sie die folgende Zeit der weitestgehenden sozialen Isolation nicht mit ihrem dauermürrischen Ehemann verbringen musste, sie hatte den Kontakt komplett abgebrochen und spürte die heilsame Wirkung des Abstands sich täglich entfalten.
Gemeindeglieder waren mit innerer Unruhe und verzweifelten Hamsterkäufen vollkommen ausgelastet. Ihren Pfarrer würden sie erst wieder brauchen, wenn die Ausgangssperre einsetzte.
Das Gemeindeleben war praktisch zum Erliegen gekommen, darum hatte man auch im Presbyterium kaum etwas zu tun.
Waltraud zerriss es das Herz, dass sie den Herrn Pfarrer nicht besuchen konnte. Sie wollte seine Gesundheit nicht gefährden und für ein Telefongespräch war sie nicht wortgewandt genug, hatte auch zu wenig Phantasie, um einen Grund für einen Anruf zu finden.
Man fand ihn erst nach ein paar Tagen, als es mehreren aufgefallen war, dass er nicht ans Telefon ging und auch nicht mehr im Gemeindebüro gewesen war.
Bestattet wurde er in aller Stille, mehr war nicht drin in der Krise, aber die Stille hatte er ja auch gewollt.