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Kapitel Zwei
Оглавление»Wir erleben gerade rekordverdächtige Schneefälle in New York City. Experten gehen davon aus, dass es den ganzen Dezember so weitergeht«, meldete der Meteorologe im Fernsehen am nächsten Morgen.
Ich saß an einem kleinen Tisch im Wohnzimmer und hatte meine Augen fest auf den Fernseher gerichtet, während ich dabei war, eine Schüssel Cornflakes zu vernichten und meinen morgendlichen Kaffee zu trinken. Es war definitiv ein Tag, um meine liebste Tasse herauszukramen. Auf ihr war die Grinsekatze aus Alice im Wunderland zu sehen, und wenn sie heiß wurde, verschwand die Katze und nur das breite Grinsen blieb übrig.
Es ist das seltsamste Ding, das ich je gesehen habe!
»… dreißig Zentimeter über Nacht und wir gehen davon aus, dass den Tag hindurch noch mal mindestens das Doppelte dazukommt. Anwohner werden deshalb gebeten, zu Hause zu bleiben. Wir erwarten Windböen von sechzig Stundenkilometern in Manhattan und umliegenden Gebieten. In Long Island können diese sogar mit bis zu neunzig Stundenkilometern durch die Straßen fegen.«
Während ich mir einen weiteren Löffel voll labbriger Cornflakes in den Mund schob, grunzte ich die Frau im Fernsehen an. Ich hatte Max bereits eine SMS geschickt und ihm gesagt, dass er auf keinen Fall zur Arbeit kommen sollte. Der öffentliche Nahverkehr war komplett eingestellt worden, nachdem der Bürgermeister in einer Ansprache vor dem Wetter gewarnt und seine Sicherheitsbedenken bekundet hatte. Die Stadt, die niemals schlief, war zum kompletten Stillstand gekommen.
Statt mich also in den Schneesturm zu begeben, griff ich nach dem Buch, das auf dem Tisch lag, und schlug es an der mit Lesezeichen markierten Stelle auf. Ich nahm eine meiner vielen Lupen zur Hand und fing an, zu lesen, bis Neil aus dem Schlafzimmer kam. Er war gerade dabei, in seine Anzugjacke zu schlüpfen, und sah mich kritisch an.
»Cornflakes und Mystery?«
»Japp«, murmelte ich, bevor ich von der Seite aufsah und ihn anblickte. »Mörder warten nicht bis nach dem Frühstück, Watson.«
Neil verzog das Gesicht. »Du bist nicht Sherlock.« Er zeigte auf die Schüssel vor mir. »Das ist purer Zucker.«
»Ich werde dran denken, demnächst mal zum Zahnarzt zu gehen«, konterte ich und aß einen weiteren Löffel Cornflakes.
Er ignorierte meinen Kommentar, was gut war, denn das hätte unweigerlich zu einer weiteren Auseinandersetzung geführt. »Du bleibst heute zu Hause, richtig?«
»Ja, Max kann sowieso nicht in die Stadt kommen.« Ich hatte mir fest vorgenommen, den Tag zu nutzen, um die Kartons neuer Ware durchzugehen, die ich in der ganzen Wohnung verteilt hatte. Aber bisher hatte mich die übliche Begeisterung noch nicht gepackt. Früher hatte ich mich voller Enthusiasmus in meine Arbeit gestürzt und es geliebt, mich durch Schätze zu wühlen, die so viel Geschichte in sich trugen. Nun war es, als hätte jemand einen Becher über eine Flamme gestülpt und den ganzen Sauerstoff genommen. Ich vermisste die Aufregung. Irgendwie fühlte ich mich nicht mehr wie derselbe Sebastian, der ich am Anfang des Jahres gewesen war. Ehrlich gesagt war ich nicht mehr derselbe Sebastian, seit Neil bei mir eingezogen war. »Ich glaube, dass Mike etwas Ähnliches passiert ist wie mir«, bemerkte ich nebenbei. Ich legte die Lupe weg und öffnete die Cornflakesschachtel, um meine Schüssel aufzufüllen.
»Was?« Neil war gerade dabei, seine Haare in Form zu bringen, und stand vor dem Spiegel neben der Eingangstür.
»Ich meine nur, wenn die Detectives, die gestern im Imperium waren, auch zu seinem Einbruch gerufen wurden …«
»Hör auf, Sebby. Du verschwendest nur deine Zeit, wenn du darüber nachdenkst.«
»Wie kannst du das nicht seltsam finden?«
»Tue ich, aber Detective Lancaster hat recht. Es hat kein Verbrechen stattgefunden.«
»Jemand ist eingebrochen.«
»Da haben wir gestern schon darüber geredet.«
Ich verrührte die neuen Cornflakes in meiner Schüssel mit der noch übrig gebliebenen Milch. »Eine kurze Unterhaltung mit Mike würde das alles aufklären.«
»Seb, ich mein’s ernst.« Neil drehte sich zu mir um und sah mich eindringlich an. »Wenn du zu ihm rübergehst, werde ich dich ganz sicher nicht vom Gefängnis abholen, wenn sie dich verhaften.«
»Gut zu wissen, wo für dich die Grenzen in unserer Beziehung sind.«
Neil schüttelte den Kopf und schnappte sich seine Jacke und Schuhe. »Ich gehe.« Er sah mich noch mal an. »Geh nicht zu Mike.«
»Ja, Herr Gefängnisdirektor«, murmelte ich und hob meine Hand, um ihm zu salutieren. »Wirst du anrufen, um sicherzustellen, dass ich meine Ausgangssperre einhalte?«
»Süß, Sebby.« Er öffnete die Tür. »Sei brav.«
»Ich bin keine zwölf Jahre alt mehr, Neil«, rief ich ihm hinterher, aber er schloss die Tür, während ich sprach. Einen Moment später fing mein Handy auf dem Tisch an zu klingeln. Das Display zeigte mir, dass Dad anrief.
»Guten Morgen, Kleiner«, sagte William Snow in einem erfreuten Ton. »Das ist ein ganz schöner Schneesturm, was?«
»Hey, Dad.«
»Ich störe dich nicht, oder?«
»Nein. Wie geht’s dir?«
»Ganz gut, ich bin nur ein bisschen unruhig. Maggie und ich konnten heute nicht, wie üblich, spazieren gehen. Bleibst du heute daheim?«
Nachdem ich gerade den Mund voll Cornflakes hatte, summte ich einfach als Antwort. »Es macht nicht viel Sinn, wenn ich den Laden aufmache bei dem Wetter, denke ich«, erklärte ich, als ich wieder sprechen konnte.
»Ist Neil auch zu Hause?«
»Nein, er musste zur Arbeit.« Mein Blick schweifte wieder zum Fernseher. »Steht bei dir heute irgendwas an?«
»Nee«, antwortete er.
»Kann ich vorbeikommen?«
»Klar, aber soweit ich weiß, fahren keine Taxis.«
»Das macht nichts.« Langsam stand ich auf und trug meine leere Schüssel in die Küche. »Ich werde mein Glück zu Fuß versuchen.«
»Ist alles okay, Sebastian?«
»Klar«, sagte ich, als ob ich es glauben würde, wenn ich es nur laut aussprach. »Wir sehen uns später.«
Wir verabschiedeten uns und legten auf.
Zurück im Schlafzimmer, wühlte ich mich durch einen Haufen Wäsche, die im Schrank von ihren Bügeln gerutscht war und sich am Boden gesammelt hatte. Ich schlüpfte in eine helle Jeans und streifte ein weißes, oder vielleicht doch eher graues, T-Shirt über. Im Badezimmer stellte ich mich vor den Spiegel und strich mir über wie Wangen, während ich überlegte, mich zu rasieren. Letztendlich kam ich zu dem Entschluss, dass es den Aufwand nicht wert war. Stattdessen fuhr ich mir ein paarmal mit den Fingern durch meine Haare, wusch mein Gesicht und putzte meine Zähne. Ich sprühte mir Deo auf und zu guter Letzt setzte ich noch meine rot eingefärbten Kontaktlinsen ein. Meinem Dad nach veränderten die Linsen meine Augenfarbe von einem Haselnussbraun in ein sehr dunkles Braun. Sie schützten mich vor Licht, und das Beste war, dass ich meine Sonnenbrille mit Sehstärke problemlos darüber aufsetzen konnte.
In dem Moment, als meine Stiefel in den tiefen Schnee einsanken, bereute ich meine Entscheidung, rauszugehen. Es schneite immer noch mit voller Wucht und die Stadt war so still, dass es fast unheimlich war. Ich traf nur wenige andere mutige Menschen, die sich ihren Weg durch den Schnee bahnten, während ich versuchte, so schnell wie möglich die Wohnung meines Vaters zu erreichen. Die Straßen waren leer, nur ein paar Fahrzeuge des Winterdienstes fuhren in der Nähe auf und ab. Fast alles hatte geschlossen. Die einzige Ausnahme schien ein alter Waschsalon und das Café daneben zu sein. Schnell kaufte ich ein paar frische Donuts, die hoffentlich als Ablenkung dienen würden, damit Dad mich nicht auf mein eher glanzloses Erscheinungsbild ansprach.
Nach 25 Minuten stand ich endlich vor der Eingangstür zu Dads Gebäude. Normalerweise würde ich für den Weg nur 15 Minuten brauchen, aber normalerweise befanden wir uns auch nicht in einer Schneeapokalypse.
Während ich darauf wartete, das vertraute Summen des Türöffners zu hören, versuchte ich, mir den Schnee von meinem Mantel und meinem Schal zu klopfen. In diesem Haus war ich aufgewachsen. Es handelte sich dabei um eines dieser Vorkriegsgebäude, das offensichtlich von einem Architekten gut durchgeplant worden war. Es hatte wahnsinnig viel Charme und war wunderschön. Dad hatte hier schon als Teenager gewohnt und war einer der wenigen Glücklichen, die eine preisgebundene Miete zahlten. Andernfalls wäre er sicherlich bereits gezwungen gewesen, seine Wohnung aufzugeben und in das Umland der Stadt zu ziehen. Vor allem jetzt, wo er gerade erst in Rente gegangen war.
Das erwartete Summen erklang und die Tür wurde entriegelt. Ich hastete hinein und die Treppen hinauf, bevor ich an der Tür klopfte.
»Es ist offen!«
In dem Moment, als ich die Tür öffnete, wurde ich von einem riesigen Pitbull empfangen. Er hüpfte auf seinen Hinterbeinen und begann, mein Gesicht und die Sonnenbrille abzulecken. »Oh Maggie, komm schon, jedes Mal!«
»Runter«, befahl mein Vater in einem strengen Ton. »Das machst du nur bei Sebastian«, schimpfte er mit seiner Prinzessin etwas sanfter. Natürlich eilte sie sofort an seine Seite und wackelte glücklich mit dem Schwanz.
»Hey, Dad«, sagte ich, nachdem ich die Tür geschlossen und meine Winterbekleidung abgelegt hatte. Ich nahm meine Sonnenbrille ab und versuchte, sie mit meinem T-Shirt von der Hundespucke zu befreien.
»Ich hatte schon Angst, du seiest in dieser wilden, arktischen Tundra verloren gegangen«, bemerkte Dad mit einem leisen Lachen.
»Fast«, antwortete ich, holte meine normale Brille aus meiner Jackentasche und platzierte die Schachtel mit Donuts auf dem Tisch. Als er dabei war, die Kaffeemaschine einzuschalten, erblickte er sie aus den Augenwinkeln. »Was ist das?«
»Ich war kurz bei Little Earth.«
»Die mag ich am liebsten.«
»Weiß ich«, antwortete ich und holte eine kleine Tüte aus dem Inneren der Schachtel, in der sich zwei Hundekuchen befanden. Little Earth war ein lokaler Geheimtipp und bekannt für seine großartigen Donuts, aber auch Hunde kamen hier voll auf ihre Kosten, dank der selbst gemachten Leckerlis im Angebot. »Versprichst du mir, dass du nicht mehr an mir hochspringst?«, fragte ich Maggie.
Ganz brav setzte sie sich vor mich hin und sah mich voll nervöser Aufregung an.
Vorsichtig hielt ich ihr die Leckereien hin und sie schnappte sie mir beide zeitgleich aus der Hand. »Klar«, meinte ich. »Natürlich wirst du mich wieder anspringen.«
»Bist du gerade erst aufgestanden?«, fragte Dad und sah mich mit einer unbeeindruckten Miene an.
»Ich hab mir die Zähne geputzt«, erwiderte ich, lehnte mich gegen die Küchenzeile und sah mich um.
Die Wohnung hatte sich in den letzten 30 Jahren kaum verändert. Sie war groß und geräumig und wenn man reinkam, fand man auf seiner Rechten direkt eine schöne, gut ausgestattete Küche. Am Ende der Wohnung konnte man durch große Erkerfenster auf die Straße blicken und direkt davor stand ein kleiner Esstisch. In der Mitte der Wohnung war eine Couch, die von Bücherregalen umringt war. Die Regale platzten schon aus allen Nähten und direkt vor der Couch hatten Dad und ich vor ein paar Jahren ein ordentliches Entertainmentsystem installiert. Den Flur runter fand man das Badezimmer und mein altes Kinderzimmer, das jetzt als Büro diente. Allerdings benutzte Dad es so gut wie nie, seit er in den Ruhestand gegangen war. Sein Schlafzimmer war direkt hinter der Küche. Dad hatte alle Vorhänge zugezogen, was er immer tat, wenn ich ihn besuchen kam, und die Lampen leuchteten in ihrer schwächsten Einstellung.
»Du hast deine Haare vergessen«, sagte Dad. Er zog meine Aufmerksamkeit auf sich, als er anfing, meine wilderen Strähnen glatt zu streichen. »Und habe ich dir nicht beigebracht, wie man sich rasiert?«
Ich lachte leise und fuhr mir über meine Stoppeln. »Ich hab heute unerwarteterweise frei.«
Er grummelte vor sich hin, als er zwei Tassen und einen Teller für die Donuts aus dem Schrank holte. »Maggie hätte heute trainieren gehen sollen, aber die Tierheime haben alle zu.«
»Ist wahrscheinlich besser so.«
Dad war 63 Jahre alt und hatte vor seinem Ruhestand 30 Jahre lang amerikanische Literatur an der New York University unterrichtet. Er konnte mit der ganzen freien Zeit nicht umgehen und ich hatte ihm vorgeschlagen, einen Hund zu adoptieren, bevor er wahnsinnig werden würde. Hier kam seine kleine Prinzessin Maggie ins Spiel. Sie und Dad nutzten nun all ihre freie Zeit mit ehrenamtlicher Arbeit. Sie halfen Tierheimen dabei, gerettete Pitbulls in der Stadt zu rehabilitieren.
Maggie rannte quer durch die Küche, hielt neben mir an und streckte mir das quietschende Spielzeug entgegen, das sie in ihrem Maul trug.
»Neues Spielzeug?« Ich warf es sanft durch den Raum.
»Es ist gut, manchmal ein neues Spielzeug zu haben«, antwortete mein Dad. »Hunden kann langweilig werden.«
Maggie brachte das quietschende Ungetüm wieder zu mir zurück. Ich warf es noch mal, bevor ich meinen Dad anstarrte. Wir sahen uns wahnsinnig ähnlich. Er war gut gealtert und ich hoffte, dass das vererbbar war. Wir hatten dasselbe dunkelbraune Haar, auch wenn seins mittlerweile eher grau war. Sagte er zumindest. Wir hatten beide buschige Augenbrauen und einen Gesichtsausdruck, den meine Ex-Freunde einst als süß und ein bisschen dämlich, aber liebenswert bezeichnet hatten. Man konnte es auch so ausdrücken: Sexy war keins der Adjektive, die Dad oder ich je zu hören bekommen hatten.
»Kaffee?«
»Gern«, sagte ich und Dad gab einen Schluck Milch in beide Tassen.
»Du hast aufgebracht geklungen am Telefon.« Er fing an, den Kaffee einzugießen.
»Wirklich?« Ich nahm die Tassen und brachte sie zu dem kleinen Esstisch.
»Ist alles okay mit Neil?«
Ich setzte mich langsam hin und drehte mich dann zu ihm um. Er kam mir mit dem Teller Donuts entgegen. »Alles okay.«
Dad sah mich kritisch an, als er sich zu mir setzte. »Ja?« Das war eine rhetorische Frage.
»Es ist okay«, sagte ich. »Es geht in letzter Zeit ein bisschen drunter und drüber, das ist alles.«
»Hauptsächlich drunter«, murmelte Dad. Er nahm sich einen Donut und brach ihn in zwei Hälften, bevor er genüsslich in eine reinbiss.
Es machte keinen Sinn, ihm zu widersprechen, also blieb ich still und griff nach meinem eigenen Donut.
»Das ist nicht gesund, Sebastian.«
»Die Donuts?«
Er fand das nicht sonderlich lustig. »Du hast genug durchgemacht, als du ein Teenager warst. Du solltest kein Drama in deinen Dreißigern mehr haben müssen.«
»Dad, ich wurde in der Schule wegen meiner Kleidung gehänselt. Nicht, weil ich schwul bin. Erinnerst du dich an den Tag, als ich aus Versehen eine violette Hose mit einem gelben T-Shirt anhatte?« Ich konnte immer noch nicht verstehen, wieso das so ein Fashion-Fauxpas war.
»Ist egal«, meinte Dad. »Du bist erwachsen. Ich werde nicht hier sitzen und dir bei deiner Wahl eines Partners reinreden.«
»Weiß ich zu schätzen.« Ich rieb meine Hände aneinander, um sie von übrig gebliebenen Donutkrümeln zu befreien, verschränkte sie dann hinter meinem Kopf und lehnte mich zurück. »Gestern ist etwas Seltsames im Imperium passiert«, fing ich an und versuchte, damit die Unterhaltung in eine andere Richtung zu lenken.
Nachdem ich Dad die ganze Geschichte erzählt hatte, fragte er: »Das verräterische Herz?«
Ich lachte kurz auf. »Das ist genau das, woran ich dachte.«
Mein Vater kannte Literatur in- und auswendig, vor allem die von einer so begabten, gequälten Seele wie Edgar Allan Poe. Wir hätten ihm schließlich moderne Detektivgeschichten zu verdanken, hatte mein Vater immer gesagt, als ich aufgewachsen war. Poe hatte geholfen, Science-Fiction zu dem zu machen, was es heute war, und hatte es geschafft, Geschichten mit verschlüsselten Botschaften populär zu machen. Dad konnte tagelang von amerikanischen Schriftstellern und ihrem Einfluss auf die Literatur erzählen.
»Es ist seltsam, oder?«
»Es ist definitiv nicht sehr weihnachtlich. Wie ist es unter deinen Fußboden gekommen?«
»Keine Ahnung. Neil meint, dass mir jemand einen Streich gespielt habe, während Max und ich zu beschäftigt waren, um richtig aufzupassen.«
Dad dachte für einen kurzen Moment angestrengt nach und fing an, seinen dritten Donut zu essen. »Ich habe nichts über Mike und seinen Laden in den Nachrichten gehört. Das tut mir leid für ihn.«
»Das kommt bestimmt daher, dass im Fall des Einbruchs immer noch ermittelt wird.« Ich trank meinen Kaffee und schaute zu, wie mein Vater sich von Maggie ablenken ließ. »Hey, Dad«, sagte ich leise und stellte meine Tasse ab. »Kann ich dich etwas fragen?«
»Klar«, antwortete er und wuschelte über Maggies großen Kopf.
»Wieso hast du nicht mehr geheiratet? Nachdem Mom abgehauen ist?«
Er hielt kurz inne und sah mich dann an. »Das kommt gerade aus dem Nichts.«
»Ich bin nur neugierig«, meinte ich mit einem Schulterzucken.
»Na ja, ich war zu beschäftigt damit, dich großzuziehen.«
»Du ziehst mich nicht mehr groß.«
»Ein Vater hat nie Feierabend.«
»Ich will nur nicht, dass du einsam bist. Das ist alles.«
Er grunzte. »Du denkst, ich sei einsam, Sebastian?«
Es schien besser, das nicht zu beantworten, daher zuckte ich nochmals mit den Schultern.
»Bin ich nicht. Aber willst du etwas wissen?«
Will ich?
»Was denn?«
»Es ist nie gut, wenn man seine eigenen Gefühle auf jemand anderes projiziert.«
New York City hatte über acht Millionen Einwohner. Acht Millionen. Und ich war einsam. Ich war mit Neil jetzt schon seit vier Jahren zusammen. Damals hatte ich mich Hals über Kopf in den intelligenten, sexy Polizisten verliebt, und vor sechs Monaten hatte ich ihn endlich gefragt, ob er bei mir einziehen wollte. Das hatte sich wie ein großer Schritt in die richtige Richtung angefühlt. Ich dachte, dass Neil sich bestimmt nicht mehr verstecken wollen würde, wenn wir erst einmal zusammenwohnten. In meinem Kopf hatte ich mir das so schön vorgestellt: Er wäre out and proud und wenn Leute uns zusammen sähen, würden sie wissen, dass ich sein Partner war.
Leise schnaubte ich vor mich hin, als ich nach dem Besuch bei meinem Dad den Gehweg entlanglief. Neil und ich lebten nun zusammen in dieser kleinen Wohnung und ich hatte mich noch nie so weit von ihm entfernt gefühlt. In den ganzen letzten vier Jahren nicht. Alles war vor sechs Monaten den Bach runtergegangen und ich sah das jetzt erst richtig ein. Frohe verdammte Weihnachten, Sebastian.
Es war kalt und der Wind war stark genug, um mich hin und her zu schleudern. Trotzdem beschloss ich, auf meinem Heimweg bei Mike vorbeizuschauen und mit ihm zu reden. Ob Neil dem zustimmte oder nicht, war mir egal. Ich war verflucht noch mal erwachsen, und wenn ich Mike fragen wollte, wieso er mich beschuldigte, ihn bestohlen zu haben, dann konnte ich das tun.
Obwohl Mikes Laden nicht weit von Dads Wohnung entfernt war, war ich komplett durchgefroren, als ich endlich bei der Bond Street ankam. Die Autos am Straßenrand waren unter mindestens 30 cm Schnee begraben, aber trotzdem konnte ich den Umriss von Mikes berühmten 1957er Chrysler New Yorker erkennen. Angeblich war die offizielle Bezeichnung der Farbe des Autos Babyrosa, aber die Nachbarn nannten es immer das Hubba-Bubba-Mobil. Vermutlich wäre der Witz lustig, wenn ich wüsste, welche Farbe Hubba Bubba hatte. Immerhin war mir beim Anblick des Autos klar, dass Mike zu Hause war. Er wohnte in einer Wohnung direkt über seinem Laden.
Schnellen Schrittes ging ich zu den Treppen auf der Seite des Gebäudes, die direkt zu seiner Wohnung führten, aber hielt inne, noch bevor ich die erste Stufe erreichte. In Bond Antiquitäten war es dunkel, aber die schwere Eingangstür stand offen. Gerade mal weit genug, um ein bisschen im Wind hin und her zu schwingen. Schnee war bis in das Ladeninnere vorgedrungen und bedeckte dort den Boden. Die Haare in meinem Nacken stellten sich auf, als ich der Tür zusah, wie sie vor und zurück schwang. Ich sah mich um, konnte aber niemanden auf der Straße erkennen. Meine Hände fingen an, zu schwitzen, als ich zur Türklingel von Mikes Wohnung hastete und den Knopf drückte.
Niemand antwortete.
»Komm schon, du alter Grießgram«, murmelte ich vor mich hin und klingelte noch mal, und noch mal.
Hastig joggte ich zurück zur Straße und versuchte, ein Lebenszeichen durch die Fenster zu erkennen. Aber mit dem Schnee und meiner nicht vorhandenen Fähigkeit, gut zu sehen, konnte ich nicht ausmachen, ob das Licht an war oder nicht. Mike könnte einfach in seinen Laden hinuntergelaufen sein, um etwas zu holen. Er war vermutlich drinnen und wohlauf, während ich hier wie ein Idiot an der Bordsteinkante stand. Aber wieso hatte er kein Licht an? Wieso hatte er die Tür in diesem Sturm offen gelassen?
Knarz. Knarz.
Mike sollte wirklich dringend die Scharniere der Eingangstür ölen. Ich war kurz davor, laut zu lachen, so absurd fand ich es, dass das in diesem Moment mein erster Gedanke war. Mein nächster Gedanke sagte mir, dass ich die Polizei rufen sollte. Aber was dann? Sollte ich ihr sagen, dass ich gerade vor dem Laden stand, dessen Besitzer mich vor Kurzem erst beschuldigt hatte, bei ihm eingebrochen zu sein? Ich zog mein Handy aus meiner Tasche und war kurz davor, eine Nummer einzutippen. Das erschien mir zumindest eine gute Idee zu sein. Was, wenn erneut jemand eingebrochen war?
Die zwei Einser waren bereits getippt, bevor ich innehielt. Was tat ich da? Ich konnte zur Tür gehen und selbst nachsehen. Das war nun wirklich kein Grund zur Panik.
»Mike?«, rief ich in den dunklen Raum hinein und klopfte an der Tür. Ganz langsam öffnete ich sie weiter.
Knaaaaarz.
»Mike? Ich bin’s, Sebastian Snow«, rief ich noch mal und trat ein. »Du hast deine verdammte Tür offen gelassen. Der Boden ist ganz nass«, sprach ich in die hartnäckige Stille hinein. »Ich komme jetzt rein, okay?«
Ich machte einen Schritt nach vorn, bevor ich die Tür hinter mir schloss, und schaute mich vorsichtig um. Die relative Dunkelheit des Ladens, weil kein Sonnenlicht durch die großen Fenster schien, machte es mir leichter, die Umrisse der Stühle und Tische zu erkennen. Ich war lange nicht mehr hier gewesen und die Anordnung war neu.
Ich fühlte mich schuldig, dass ich noch mehr Schnee und Matsch über den antiken Holzboden verteilte, während ich um die Auslagen herumging. Es war mittlerweile offensichtlich, dass Mike nicht hier war und die offene Tür bedeutete, dass etwas nicht stimmte. Ich sollte verschwinden, doch ich tat, was jeder Idiot tun würde: Weitersuchen. Die Stille war irgendwie falsch. Es war, als beträte man einen Raum, von dem man wusste, dass sich eine andere Person darin versteckte. Man glaubte, die Anwesenheit der anderen Person hören zu können, tat es aber doch nicht wirklich.
Ein Schauder lief mir den Rücken hinunter und ich wischte meine verschwitzten Hände an meiner Jeans ab. Am Ende des T-förmigen Grundrisses blieb ich stehen und sah mich um. Hier hinten waren überall hohe Regale. Auf Augenhöhe konnte ich einige der ausgestellten Waren erkennen. Hauptsächlich waren es Accessoires für Frauen: Broschen, Handschuhe und so etwas. Leider konnte ich nicht sehen, was rechts oder links von mir war, ohne die Gänge zu betreten.
Mike ist nicht hier. Schau, dass du wegkommst, du Idiot!
Aber es machte nicht den Anschein, als ob ich akut in Gefahr war. Ich wollte nur sichergehen, dass ich gründlich gesucht hatte, bevor ich darüber nachdachte, die Polizei anzurufen, um … was immer ich dachte, melden zu müssen. Ich atmete vorsichtig ein und bewegte mich nach links, bevor ich in etwas Flauschiges hineinlief. Mit einem kurzen Aufschrei sprang ich zurück und sah auf.
Was zum Teufel? Es sah aus wie eine Katze. Aber wie eine tote. Definitiv eine tote. Sie musste tot sein. Die Arme baumelte von einem Seil, das um ihren Hals gebunden war. Mein Herz fing an, zu rasen, und mein Atem wurde immer schneller und panischer. Mein Blick wanderte das Seil entlang und ich erkannte, dass das andere Ende am Deckenventilator festgemacht war. Nein danke, für das hier war ich definitiv nicht zu haben.
Ich drehte mich um, rutschte auf dem nassen Boden aus und hielt mich an einem Regal fest, um aufrecht stehen zu bleiben. Eine Figur stand regungslos da und starrte mich von der rechten Seite des Ts an. Panisch hastete ich zurück zum Mittelpunkt des Ts und bog in den Hauptgang ab, um so schnell wie möglich zurück zur Tür zu kommen, als ich über etwas Großes und Festes auf dem Boden stolperte. Mit einem spitzen Schrei fiel ich hin und landete direkt auf dem Gegenstand. Erst dann bemerkte ich, dass alles um mich herum klebrig war.
»Oh mein Gott«, hörte ich mich flüstern, als ich mich mit den Händen auf dem Boden abstützte und zitternd wieder aufstand.
Mike starrte mich aus leblosen, halb offenen Augen an. Ein ordentliches Stück von seinem Kopf fehlte. Blut hatte sich um ihn herum gesammelt und verteilt wie ein Heiligenschein.