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Kapitel Drei
ОглавлениеHeute war ein beschissener Tag. Und der Preis für die Untertreibung des Jahres ging an: Sebastian Snow.
Natürlich musste ich die Polizei rufen. Die Sekunden, nachdem ich Mike gefunden hatte, erschienen mir immer noch surreal. Ich war auf meinen Hintern zurückgefallen und von der Leiche weggestrampelt. Meine Hände und Jacke waren voller Blut. Für einen Moment saß ich benommen auf dem Boden, während mein Herz gegen meine Brust pochte und ich versuchte, meinen Atem unter Kontrolle zu bringen.
Was soll ich tun? Heilige Scheiße.
Dann kam mir ein Gedanke: Detective Winter. Er hatte mir gestern seine Visitenkarte gegeben. Ich hatte überlegt, sie einfach wegzuschmeißen, hatte sie letztendlich aber doch in meine Tasche gesteckt. Nichts erschien mir in dem Moment sinnvoller und sicherer, als ihn anzurufen. Er arbeitete schließlich bereits an dem Einbruch, den Mike gemeldet hatte. Er würde helfen. Er wusste bestimmt, was zu tun war.
Ich wischte mir meine zitternden Hände an meiner Levi’s ab und suchte in meinen Taschen nach der Karte. Benommen wählte ich die Nummer und hielt das Handy an mein Ohr.
Es klingelte einmal. Zweimal. Dreimal.
Oh Gott, bitte. Bitte heben Sie ab.
Ich stand auf. Meine Beine zitterten, ich fühlte mich benebelt und machte mich schon bereit, mich zu übergeben, als ich eine grummelnde Stimme durch das Handy hörte.
»Detective Winter.«
»I-Ich brauche Hilfe«, sagte ich sofort. Es gab doch nichts Besseres, als direkt zum Punkt zu kommen.
»Wer ist da?« Winters Stimme hörte sich besorgt an.
»Sebastian Snow.«
»Snow?«
»Sie waren gestern …«
»Ich weiß, wer Sie sind. Was ist los?«
Wie sollte ich das nur erklären? Ich atmete tief ein und sagte schließlich mit einer Stimme, die möglicherweise zu gefasst klang: »Es gab einen Unfall in Mikes Laden. Bond Antiquitäten.« Ich drehte mich zu den Regalen um. Jemand hatte dort gestanden. Wieso war die Person nicht auch hinter mir her? Sie war es, die Mike das angetan hatte. Oder?
»Was für einen Unfall?«, fragte Winter.
Ich antwortete nicht. Gedanklich entfernte ich mich von dem Anruf, als ich langsam wieder auf den Anfang des T-Umrisses zuging. Wenn ich jetzt rausrannte, würde der Mörder entkommen und niemand erfahren, was dem armen, gottverdammten Mike zugestoßen war. Ich hatte eine Scheißangst, aber ich bewegte mich weiter vorwärts.
»Sebastian? Sind Sie noch da? Sebastian«, meldete sich Winter wieder.
»Sch«, zischte ich.
»Geht es Ihnen gut?«
Ich war schon fast an der Abzweigung angekommen. Etwas stimmte nicht. Dieser Typ, oder diese Frau, hätte schon längst herauskommen müssen. Die Person hätte meinen Anruf hören müssen, oder zumindest Winter durch das Handy. Ein letztes Mal holte ich tief Luft und sah um die Ecke.
Die Person stand dort immer noch. Sie trug ein voluminöses, viktorianisches Kleid und einen passenden Hut auf dem Kopf. Es handelte sich um eine Schaufensterpuppe.
»Oh Fuck«, flüsterte ich und seufzte erleichtert auf.
»Reden Sie mit mir«, befahl Winter. »Sind Sie verletzt?«
»Nein«, sagte ich leise. Ich kam mir wie ein Idiot vor. »Aber Mike.«
»Ich schicke einen Krankenwa…«
»Dafür ist es zu spät.«
Für einen kurzen Moment war es still am anderen Ende. Dann sagte er: »Ich bin auf dem Weg. Bleiben Sie, wo Sie sind.«
In den folgenden zehn Minuten stand ich neben dem Kassenschalter des Ladens und starrte Mike an. Jedes Mal, wenn ich wegsah, wanderte mein Blick zurück, als müsste ich ihn im Auge behalten, damit er nicht aufstand und mich für ein neues Gehirn attackierte. Ich schluckte die Übelkeit herunter, die meine Kehle hinaufstieg. Es war mir nicht möglich, draußen zu warten. In meinem Zustand, und voller Blut, würde ich vermutlich die Nachbarn beunruhigen.
Als ich das Gefühl hatte, nicht eine Sekunde länger allein in diesem Laden sein zu können, ohne meinen Verstand zu verlieren, fuhr ein Krankenwagen mit Blaulicht, aber ohne Sirene vor. Drei Polizeiwagen stießen hinzu, gefolgt von einem Zivilfahrzeug, aus dem Winter und Lancaster ausstiegen. Sie eilten über die Straße und zum Eingang des Ladens mit uniformierten Polizisten hinter sich.
Winter stoppte kurz, als ich mich zu ihm umdrehte.
»Ich kann das erklären«, sagte ich und hob unterwürfig die Hände. Vermutlich sendete ich das falsche Signal.
»Wo ist er?«, wollte Winter wissen und sah dann in die Richtung, in die ich deutete. Er drehte sich um und befahl den Polizisten hinter sich, die Räumlichkeiten zu durchsuchen. Sie setzten sich sofort in Bewegung, um den ganzen Laden abzusperren.
Winter und Lancaster befreiten ihre Handwaffen aus ihren Holstern. Winter näherte sich langsam der Leiche, dicht gefolgt von Lancaster. Das war interessant. Ich wusste, dass sie nicht die volle Verantwortung hatte, auch wenn sie am Tag davor die Befragung durchgeführt hatte.
Sie verschwanden für ein paar Momente zwischen den Regalen, bevor der Tatort als sicher galt. Polizeibeamte kamen wieder zum vorderen Bereich des Ladens. Ein paar von ihnen gingen nach draußen, um auch die Straße um den Laden herum abzusperren.
Winter gab Befehle durch sein Handy und ich hatte fast schon Mitleid mit der armen Haut am anderen Ende. Als er auflegte, stand er vor Mikes leblosen Körper und sah auf ihn herab. Er kniete sich hin, um sich die Leiche genauer anzusehen, ohne sie zu berühren. Nach einer kurzen Pause stand er wieder auf und verlangte nach Licht, bevor er anfing, den Boden zu studieren. Einer der Polizisten fand den Lichtschalter und ich zuckte kurz zusammen, als meine Umgebung unter blendendem Weiß verschwand. Mit meiner blutverschmierten Hand setzte ich meine Sonnenbrille auf.
Mit vorsichtigen Schritten achtete Winter darauf, nicht in meine Spur aus geschmolzenem Schnee und Blut zu treten, und kam dann wieder auf mich zu.
»Mr. Snow.«
»Detective Winter.«
»Beschenken Sie alle Männer in Ihrem Leben mit Mordfällen zu Weihnachten oder nur die ganz besonderen?« Er schob seine Hände in seine Manteltaschen, als er vor mir stehen blieb.
Scheiße.
Wieso hatte ich gedacht, dass es eine gute Idee wäre, ihn anzurufen? »Kann ich es erklären?«
»Ich bitte darum«, sagte er. Er knurrte sogar fast.
Holprig fing ich an, ihm eine Kurzfassung der Geschehnisse meines Tages zu geben. Von Dads Wohnung bis zu Mikes Laden. Ich erzählte ihm von meiner Suche nach Mike, der nicht da gewesen zu sein schien, und stoppte bei dem toten Mike, der vor uns lag. »Wollen Sie, dass ich es ihnen noch mal rückwärts erzähle?«, fragte ich, als ich fertig war.
»Wieso?«
»Weil Sie aussehen, als würden Sie darüber nachdenken, welche Größe meine Gefängnisuniform haben müsste. Wenn ich lügen würde, wäre es schwieriger für mich, die Geschichte rückwärts zu erzählen.«
Das brachte ihn dazu, kurz aufzulachen. »Ist das so, ja? Wieso sind Sie in den Laden reingegangen, wenn er doch offensichtlich geschlossen war?«
»Habe ich Ihnen doch schon gesagt: Die Tür war offen.«
»Und Sie haben nicht gedacht, dass das ein wenig seltsam ist?«
»Also … doch, ich dachte, dass das komisch ist. Aber Mike wohnt nur ein Stockwerk höher. Ich dachte, er sei vielleicht kurz runtergekommen, um etwas zu holen.«
»Wieso sind Sie eingetreten, als Sie keine Antwort erhalten haben?«
»Weiß ich nicht«, gab ich zu. »Irgendetwas schien nicht zu stimmen.«
»Wieso haben Sie da nicht die Polizei gerufen?«
»Hab ich doch.« Ich zeigte auf ihn.
Für einen kleinen Moment war Winter still. Er kam mir vor wie ein Mann, der verzweifelt versuchte, seine Geduld nicht zu verlieren. »Und was ist passiert, als Sie mich angerufen haben?«, fragte er schließlich.
Ich warf einen Blick auf meine verklebten Hände. »In dem T-Umriss im hinteren Teil des Ladens … Ich … Da war eine Katze.«
»Eine Katze?«
»Ja, eine tote Katze. Ich meine, sie hing von der Decke. Und als ich in die entgegengesetzte Richtung rannte, war da eine blöde Schaufensterpuppe hinter mir, die aussah wie eine Person. Da bekam ich Angst. Ich konnte Mike nicht sehen, bis ich über ihn stolperte. Mit dem Gesicht voraus.«
»Ah.«
»Also dachte ich, die Schaufensterpuppe sei die Person, die Mike umgebracht hat. Sie wissen, wer ich bin und wer Mike ist. Ich dachte nicht daran, irgendjemand anderes anzurufen. Können wir das hier vielleicht später fortführen? Ich würde mich wirklich gerne umziehen.«
Winter schüttelte seinen Kopf und deutete mit einem stumpfen Finger auf mich. »Bewegen Sie sich nicht.«
»Kommen Sie schon, Detective, ich bin voller Blut!«
Doch der Arsch hatte sich bereits von mir abgewandt und ging weg.
Ich sah ihm nach und konnte ihn dabei beobachten, wie er sich mit Detective Lancaster dem T näherte. Schnaubend verschränkte ich meine Arme, bevor ich sie schnell wieder hängen ließ. Das war’s dann wohl mit meiner Jacke. Und meiner Jeans. Bestimmt würde ich meine Haut in der Dusche wund schrubben müssen, um das Blut loszuwerden.
Nun stand ich also hier. Ein Polizist hatte sich in meiner Nähe positioniert und beobachtete mich, mit einer Hand auf seinem Holster. Irgendwie bekam ich den Eindruck, dass er sich nicht überwinden müsste, mir ins Knie zu schießen, falls ich einen Fluchtversuch unternehmen sollte. Das war der Moment, in dem mich die Ernsthaftigkeit der Situation überfiel. Ich versuchte, mir weiszumachen, dass alles gut werden würde. Sie würden bestätigen, dass alles, was ich gesagt hatte, der Wahrheit entsprach, nachdem sie die Spurensicherung von jemandem wie Neil durchführen ließen.
Oh Gott. »Neil …« Er würde mich umbringen. Ich tat mein Bestes, um mir eine glaubwürdige Geschichte einfallen zu lassen, die nicht nach Ich habe es gehasst, von dir wie ein Kind behandelt zu werden, und wollte mich dir widersetzen klang, als Winter auf mich zukam, gefolgt von einer kleinen Frau mittleren Alters. »Also, noch mal zum Thema Umziehen«, begann ich.
»Wir brauchen Ihre Kleidung.«
»Sie …? Was?«
»Beweise.« Er nickte der Frau zu, mit der er gekommen war.
»Wir brauchen bitte Ihre Jacke und Jeans und alles, was darunter ist«, bestätigte sie, während sie sich Latexhandschuhe überzog.
»Ich habe Mike nicht umgebracht«, protestierte ich und sah Winter dabei direkt an.
»Sie sind mit seinem Blut bedeckt«, erwiderte er. »Wir haben Sie allein in seinem Laden vorgefunden. Nur Sie und die Leiche.«
»Aber ich war es, der Sie angerufen hat, direkt, nachdem ich ihn gefunden habe!« Meine Stimme wurde etwas lauter.
»Wir brauchen nur Ihre Kleidung«, sagte er in einem ernsten Ton und kam einen Schritt näher. »Aber wenn Sie sich weiter so anstellen, nehme ich Sie gerne mit aufs Revier und ziehe Sie selbst aus.«
Wow. Ich schluckte hart und räusperte mich. »Kann ich jemanden anrufen?«
»Wieso?«
»Es gibt nichts, was ich statt meiner Kleidung anziehen kann, und die brauchen Sie ja anscheinend so dringend. Ich … Bitte lassen Sie mich einen Anruf tätigen.«
Nach einem kurzen Moment, in dem Winter über meine Bitte nachzudenken schien, nickte er kurz.
Erleichtert zog ich mein mit Blut besprenkeltes Handy aus meiner Hosentasche und rief Neil an.
»Seb?«, begrüßte er mich. »Ist alles in Ordnung?«
»Nein«, gab ich zu. »Kannst du heimgehen und …?«
»Ich bin auf der Arbeit.«
»Weiß ich, aber hör zu. Bitte geh heim.« Ich sprach leise und blickte auf, um sicherzugehen, dass Winter mir nicht zuhörte. Doch der war damit beschäftigt, sich mit der Frau zu unterhalten, die darauf wartete, mich nackt zu sehen. »Kannst du mir bitte Kleidung zum Wechseln mitbringen? Und eine Jacke? Und sie dann zu Bond Antiquitäten bringen?«
»Was ist los?«
»Erklär ich dir, wenn du da bist. Bitte beeil dich.«
Er beeilte sich. Innerhalb von zwanzig Minuten war Neil vor Ort, was sicherlich nicht ungefährlich gewesen war bei dem Wetter. Ich war ihm dankbar, denn das Blut war mittlerweile getrocknet und fühlte sich wahnsinnig unangenehm an. Nervös sah ich Neil dabei zu, wie er seine Dienstmarke vorzeigte und sofort reingelassen wurde. Er hatte einen Rucksack dabei und blickte sich wachsam um.
»Detective Millet?«, fragte Winter und trat in Neils Weg, bevor ich ihn mit meinem Aussehen schockieren konnte.
Neil drehte sich um, als sein Name fiel. »Oh, Winter. Hallo.«
»Bist du Teil meines Spurensicherungsteams? Du bist spät dran.«
Neil schüttelte den Kopf. »Nein … ich bin nicht …« Offensichtlich war er mit der Situation überfordert.
»Neil«, rief ich ihm zu.
Er sah mich über seine Schulter hinweg an und ich konnte seinen erschrockenen Gesichtsausdruck trotz der Entfernung und der Lichter erkennen. Das bedeutete, dass er bestimmt völlig ausflippen würde, in drei, zwei, eins …
»Seb? Was zum Teufel?«, fragte er, als er auf mich zukam. »Um Himmels willen, das ist nicht deins, oder?«
»Nein. Neil, es tut mir leid, dass ich anrufen musste. Aber die Polizisten brauchen meine Kleidung als Beweisstück und ich wollte keinen NYPD-Einteiler anziehen.«
»Beweisstück für was?«, wollte Neil wissen.
»Mike ist tot«, sagte ich und deutete auf mich. »Ich meine, nein! Oh Gott, nein, ich habe ihn gefunden. Ich bin über ihn gestolpert. Sein Kopf war … Kann ich einfach meine Kleidung haben?« Die Erschöpfung in meiner Stimme war klar erkennbar und ich versuchte halbherzig, nach dem Rucksack zu greifen.
»Nein, erzähl mir, was passiert ist.«
»Du und Mr. Snow kennt euch also gut?«, fragte Winter, der sich leise an uns herangeschlichen hatte.
»Freunde«, antwortete Neil ernst.
Es erschien mir besser, nichts dazu zu sagen. Außerdem war ich zu gestresst und nervös, um mich groß über Neils Lüge zu ärgern.
»Freunde, die die Apartmentschlüssel vom anderen haben?«
»Ich bin nur hier, um Sebastian Kleidung zu bringen.« Neils Stimme war rau, als ob seine Aussage mit einer Drohung versehen war. Er sah mich an und hielt mir den Rucksack entgegen. »Wir reden später.« Er war bereits dabei, den Laden zu verlassen, bevor ich etwas erwidern konnte.
Als Neil aus unserem Sichtfeld verschwunden war, wandte sich Winter wieder mir zu. Ich starrte stur zurück. Statt mich im Moment auf die wirklich wichtigen Dinge zu konzentrieren, fing ich an, über die Neugier in Winters Augen nachzudenken. Und diese Sommersprossen. Gott, die waren sogar auf seinem Nacken verteilt und verschwanden unter dem Kragen seines Hemds. Ich war gerade dabei, mir zu überlegen, wie weit dieser Sommersprossenpfad wohl ging, als …
»Ziehen Sie sich aus.« Er zeigte auf die Frau, die bereits wieder an meiner Seite war, um auf ihre Beweisstücke zu warten.
»Winter«, rief Lancaster, als sie wieder in den Laden kam, gefolgt von einem Mann, bei dem es sich bestimmt um den Gerichtsmediziner handelte.
Winter funkelte mich noch einmal wütend an, bevor er wegging.
Die Frau, die auf meine Kleidung wartete, hieß Martha Stewart, bei der keine familiäre Verbindung bestand, wie sie mir gleich mitteilte, und wusste absolut nicht, was Privatsphäre war. »Kleiner, wenn du denkst, dass ich versuche, einen Blick zu erhaschen, brauchst du dir keine Sorgen zu machen«, sagte sie, während sie meine Jacke vorsichtig in eine große Plastiktüte steckte und mit einem dicken Edding draufschrieb, um was es sich handelte.
»Nein?«, fragte ich und versuchte, die Tatsache zu ignorieren, dass ich nun von der Taille aufwärts nackt war. Halb nackt in einem kalten Raum mit einem halben Dutzend Polizisten um mich herum, und einem Gerichtsmediziner, der gerade dabei war, ein Thermometer in den toten Körper meines ehemaligen Chefs zu schieben.
»Du bist nicht mein Typ«, erklärte sie mir, als sie mein T-Shirt verpackte.
»Wetten, dass Sie das zu all den Männern sagen, damit sie nicht rot werden?«
»Ha, ha. Ich hab eine Frau, Süßer«, sagte Martha beiläufig. »Hosen runter. Komm schon, ich hab hier einen Haufen zu tun.«
Oh.
»Sie sind auch nicht mein Typ, Martha.«
»Oh, habe ich gemerkt«, sagte sie und kicherte kurz.
»Was soll das denn heißen?«
»Das heißt, dass du ganz sicher nicht meine weiblichen Vorzüge begutachtest, aber sehr wohl fähig bist, einen gewissen, rothaarigen Mann zu bestaunen.«
Ich versuchte gar nicht erst, abzustreiten, dass ich Detective Winter attraktiv fand. »Er ist also rothaarig?«
Sie sah mich neugierig an.
»Ich bin farbenblind«, erklärte ich.
»Oh, ja. Seine Haare sind rot. Eher eine Art Orange, du weißt schon, dieses leicht Feurige.«
»Ich weiß es nicht, aber ich nehme Sie beim Wort.« Mein Blick fiel wieder auf Mike. Der Gerichtsmediziner kniete neben ihm und unterhielt sich mit Winter, der wirklich gut darin war, wie diese sexy, imposanten Teufelskerle im Fernsehen auszusehen. Es war dumm von mir, Winter anzustarren, während ich mich meiner Hose entledigen sollte. Ein kurzer Blick in Winters konzentriertes Gesicht reichte, um mir einen Ständer zu bescheren. Von all den Orten, Momenten und Personen, die einen erregen konnten, war das hier die denkbar ungünstigste Option von allen.
»Hey.« Martha schnipste mit ihren Fingern.
»Kann ich mein neues Shirt anziehen?«, fragte ich, um das Ausziehen meiner Hose noch etwas hinauszuzögern.
Sie seufzte laut und hielt ihre Spiegelreflexkamera hoch. »Moment, ich muss noch ein Foto machen.«
»Whoa, was, von mir? Komplett?«
»Noch nie hab ich einen so prüden Kerl getroffen«, murmelte sie. »Streck deine Hände aus, Handflächen nach unten.«
Martha machte einige Fotos von meinen Händen aus verschiedenen Blickwinkeln und dann von meiner Brust, wo sich ein kleiner Blutfleck befand. Als sie fertig war, durfte ich endlich mein neues T-Shirt anziehen und hatte genug Zeit, meine untere Region wieder zu beruhigen. Schnell zog ich den Rest meiner Kleidung aus und musste noch mal für eine Runde Fotos herhalten, bevor Martha beschloss, dass sie fertig mit mir war. Sie wartete geduldig, bis ich wieder komplett angezogen war.
»Hat mich gefreut, Sie kennenzulernen, Martha«, sagte ich. Ich war mir nicht sicher, was ich sonst zu einer Frau sagen sollte, nachdem ich mich für sie ausgezogen und sie Fotos von mir gemacht hatte. Wäre ein Dankeschön besser gewesen?
Als Antwort summte sie nur kurz, während sie ihre Kamera und meine verpackte Kleidung in ihre Tasche verschwinden ließ. »Darf ich dir einen Tipp geben?«
Ich war dabei, mir meine neue Jacke anzuziehen, die für einen kühlen Herbsttag viel eher geeignet war als für den Schneesturm draußen. Mit nur einem Arm in der Jacke pausierte ich kurz. »Ja?«
»Mach es nicht so schwierig für Winter, sonst verhaftet er dich schneller, als du herzlos sagen kannst.«
Was sollte das denn heißen? »Äh …«
»Er hat schon alles gesehen«, sagte sie mit einem warnenden Ton. »Und er hat für nichts davon Geduld.« Nachdem sie das gesagt hatte, ließ Martha mich allein.
Irritiert schob ich meine Sonnenbrille hoch und verschränkte meine Arme. Auf einmal war mir saukalt, aber das lag nicht an der Temperatur. Angst war es, die mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. Okay, ich sollte mal einen Schritt zurücktreten und die ganze Situation objektiv betrachten. Neil hatte mir einiges über Verbrechen und Beweisstücke beigebracht und ich musste das irgendwie zu meinem Vorteil nutzen. Es war absolut nicht in meinem Interesse, als Verdächtiger zu gelten oder, noch schlimmer, von Winter verhaftet zu werden.
Rigor Mortis, also die Leichenstarre, setzt ungefähr zwei Stunden nach dem Tod ein und der menschliche Körper verliert im Schnitt 1,5 Grad Körpertemperatur in der Stunde. Ich musste allerdings bedenken, dass die Tür zum Laden für eine fraglich lange Zeit offen stand, was die Körpertemperatur der Leiche hatte beeinflussen können. Wenn die Leichenstarre aber wie üblich nach zwei Stunden eingesetzt hatte, konnte ich davon ausgehen, dass der arme Mike seit …
Hastig drehte ich mich um und blinzelte, um die Zeit auf der Uhr hinter mir abzulesen.
Der Polizeibeamte, der mich schon die ganze Zeit beobachtet hatte, fragte: »Haben Sie etwas Besseres zu tun?«
»Ich kann die Uhrzeit nicht lesen.«
Er warf einen kurzen Blick an die Wand hinter mir. »Es ist kurz nach zwölf.«
In Ordnung, ich war bereits seit fast einer Stunde hier. Das hieß, dass es ungefähr 11 Uhr war, als ich Mike gefunden hatte. Also war es gut möglich, dass er heute Morgen um 8 Uhr umgebracht worden war. Ich hatte ein Alibi. Meinen Vater, den Mitarbeiter bei Little Earth … Ich würde sogar Neil mit hineinziehen, wenn es meine Unschuld bewies.
Als ich wieder aufsah, nachdem ich mögliche Alibis an meinen Fingern abgezählt hatte, stand Winter vor mir. Er hatte einen komischen Gesichtsausdruck, den ich nicht genau deuten konnte. War er amüsiert? Nachsichtig? Neugierig? Schwer zu sagen.
»Hi«, sagte ich.
»Ich habe noch ein paar Fragen.«
Im Hintergrund gab Lancaster Befehle, als eine Trage hereingebracht wurde, um Mikes Körper abzutransportieren.
Mach’s gut, Mike …
»Wo waren Sie heute Morgen um sieben Uhr?«, fragte Winter.
Aha. »Mike ist erst seit ein paar Stunden tot?«
»Beantworten Sie mir einfach die Frage.«
Hatte ich es doch gewusst. Rigor Mortis fing im Gesicht an. Bei den Augen, dem Kiefer, den Nacken hinunter. Mikes ganzer Körper war noch nicht steif, was bedeutete, dass er angegriffen worden war, als ich mit anderen Menschen zusammen gewesen war. Wenn man außerdem den Schnee in Betracht zog, der sich im Eingangsbereich angesammelt hatte, passte das ungefähr mit den vorausgesagten Schneefällen zusammen.
»Sieben? Da war ich zu Hause.«
»Was haben Sie gemacht?«
»Da müsste ich gerade aufgewacht sein und darüber nachgedacht haben, aufzustehen.«
»Leben Sie allein, Mr. Snow?«
Ich konnte den Muskel in meinem Hals spüren, der sich zusammenzog. Wenn ich ja sagte, würde ich einen Detective belügen, was nie gut war. Wenn ich verneinte, würde Winter die Kontaktinformationen von der zweiten Person haben wollen. Würde es Neil etwas ausmachen? Natürlich, aber wenn es darum ging, seinen Freund zu schützen, würde er sich sicherlich einem Kollegen gegenüber outen, von dem er dachte, dass er homophob war … Oder? Es machte mir zu schaffen, dass ich die Antwort auf diese Frage nicht wusste. »Nein, nicht direkt«, hörte ich mich selbst sagen.
Winter sah mich erwartungsvoll an.
»Mein … mein Freund. Ich lebe mit meinem Freund zusammen. Er war zu Hause, er wird das bestätigen.«
»Da bin ich mir sicher«, sagte Winter in einem Ton, den ich nicht genau deuten konnte. »Geben Sie mir bitte seine Kontaktdaten.« Er holte einen Notizblock und einen Kugelschreiber aus seiner inneren Jackentasche hervor.
Leise gab ich ihm Neils Handynummer. Ich beobachtete Winter, als er sie aufschrieb. Es gab nun keinen Weg mehr zurück. »Neil Millett.«
Er hielt inne und sah mich an. »Von der Spurensicherung?«
»Ja.«
Winter machte ein Geräusch, das wie eine Mischung aus Gelächter und einem Grunzen klang, als er Neils Namen aufschrieb.
»Was?«
»Nichts, ich bin nur nicht überrascht.«
»Was? Davon, dass ich schwul bin?«
»Das war offensichtlich«, bemerkte er, ohne aufzusehen.
Das war mir neu. Ich dachte eigentlich nicht, dass ich stereotypisch schwul rüberkam. »Mir war nicht bewusst, dass ich mein Neonlicht noch an habe.«
»Ich werde mich bei Mr. Millett melden«, sagte Winter.
»Oh, toll«, murmelte ich sarkastisch.
»Erzählen Sie mir von Ihrem Morgen.«
»Ab sieben?« Als er nickte, holte ich tief Luft. »Na gut. Also, ich lag für eine Weile im Bett. Neil stand auf, um zu duschen. Nach einer Weile ging ich in die Küche und machte mir einen Kaffee und Frühstück. Dann sah ich mir die Nachrichten an. Kurz vor acht ging Neil zur Arbeit. Mein Vater rief an, nachdem er gerade weg war, und ich zog mich an, um ihn besuchen zu gehen. Auf dem Weg machte ich kurz Halt bei Little Earth und kaufte ein paar Donuts und Hundekuchen. Es war so kurz vor elf, als ich die Wohnung meines Vaters verließ.« Geduldig gab ich Winter die Nummer und Adresse meines Vaters, dann die vom Café. »Es wäre mir unmöglich gewesen, Mike etwas anzutun, und das wissen Sie«, sagte ich. »Oder? Er wurde so gegen sieben getötet. Davon geht der Gerichtsmediziner aus.«
Winter antwortete mir nicht, als er Notizblock und Stift wieder in seine Tasche steckte.
»Ich kann nicht Auto fahren und überhaupt: Neil hatte das Auto. Sie wissen, dass ich zu all diesen Orten gelaufen bin. Ich kann gar nicht genug Zeit gehabt haben. Es ist genau so passiert, wie ich es gesagt habe«, versuchte ich, ihm klar zu machen.
»Haben Sie das alles von Millett gelernt?«
»Nein, das basiert alles auf den untrüglichen Fakten, die ich bei CSI und Law & Order gesehen habe«, erwiderte ich.
Überraschenderweise erdrosselte Winter mich nicht an Ort und Stelle.
»Ich habe absolut keinen Grund, Mike etwas anzutun«, versuchte ich es weiter. »Überhaupt keinen. Was wäre das Motiv?«
»Das Motiv ist nicht immer der ausschlaggebende Punkt.«
»Natürlich ist es das«, sagte ich defensiv.
»Sie sind kein Verdächtigter«, murmelte Winter und wechselte damit das Thema.
Die Erleichterung, die mich durchfuhr, ließ mich fast zu Boden sinken. »Wirklich?«
Tu nicht so überrascht.
»Wirklich«, bestätigte er. »Aber ich will trotzdem nicht, dass Sie die Stadt verlassen, haben Sie verstanden?«
»Wo sollte ich denn hin? Nach Jersey laufen?«
»Ich sollte Sie allein schon für Ihre Klugscheißerei verhaften.«
»Vermutlich«, bestätigte ich. Ich hielt meine Hände hoch. »Kann ich mir das Blut jetzt endlich abwaschen?«
»Gehen Sie raus zum Krankenwagen.« Winter nickte kurz dem uniformierten Polizisten zu, der weiterhin in meiner Nähe stand. »Stellen Sie sicher, dass Mr. Snow sich ordentlich waschen kann, und fahren Sie ihn dann nach Hause.«
Der Polizist nickte und sagte mir, ich sollte ihm folgen.
Es war bereits Mittag, als ich zu Hause ankam.