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Erster Akt

Idyll und Sezession

2064

Die letzte Schlacht

Ich war allein. Ich war abenteuerlustig. Da kam mir die diplomatische Mission gerade recht. Sie führte mich in die eigenen und in fremde Archive und dann zu den Orten des Geschehens. Das war damals nicht ungefährlich, das Land war vom Auswärtigen Amt als Krisengebiet eingestuft gewesen.

Ich war naiv. Bereits die Recherchen im Zentralarchiv der Nordmächte enthüllten Dinge, auf die ich nicht vorbereitet war. Ich hate mich im Glauben aufgemacht, die Geschichte der alten Schweiz zu kennen. Das Studium unveröffentlichter Dokumente über die Zeit der Sezessionswirren belehrte mich eines Besseren. Zweifel an der offiziellen Geschichtsschreibung überkamen mich. Der militärische Sieg der Revisionisten über die Harten hatte keineswegs zu der Eintracht geführt, auf der unsere Republik gegründet worden war. Vielmehr war es ein Pyrrhussieg gewesen, der den eigentlichen Wendepunkt der Schweiz begründete.

Je mehr ich herausfand, desto verworrener wurde es. Lag der Zweck meiner Mission wirklich in der Aufarbeitung unserer gemeinsamen Vergangenheit? Ging es nicht vielmehr um die Zementierung der offiziellen Sichtweise? Weshalb sonst waren diese Tatsachen so lange unter Verschluss geblieben?

Doch in einem Punkt hatten sich die Herren zu Hause gründlich in mir getäuscht: Mit meiner Naivität war es vorbei. Zum ersten Mal in meinem Leben war mein Jagdinstinkt geweckt.

Viktor Schwarz trieb nur ein Gedanke um, als er dem Kurier das Couvert mit der Aufforderung übergab, dieses seinem Sohn in Schwyz persönlich auszuhändigen. Darin befand sich die alte Ansichtskarte, die über Generationen in der Familie Schwarz weitergegeben worden war. Am Tag hätte er das Hotel, wo sie geschrieben worden war, von hier aus mit blossem Auge erkennen können, wäre es nicht schon vor Ewigkeiten niedergerissen geworden. Die Karte war eine Erinnerung daran, wo die Familie Schwarz hergekommen war und was für ein Idyll die Einwanderer einst hier vorgefunden hatten. Gleichzeitig war es die Mahnung daran, wofür die Sezessionisten zu töten und zu sterben bereit gewesen sind. Das ist es, woran Viktor Schwarz im letzten Führungsstützpunkt der Harten dachte: Hier also wird es enden.

»General Schwarz, der Stollen ist frei«

»Danke, Leutnant, geben Sie mir Alpha.«

Die Verbindung zum Einsatztrupp hinter der Feindeslinie war miserabel.

»Wie nahe?«

»Der Führerstand ist direkt voraus, hundert Meter.«

»Zielpersonen?«

»Warten auf Bestätigung.«

»Okay, Feuererlaubnis nach freiem Willen – der Schuss muss sitzen. Ist das klar?« Die Bitterkeit in seiner Stimme konnte nur erahnen, der wusste, wen er damit treffen wollte.

»Jawohl, General, wir töten die Zielpersonen und ziehen uns dann zurück.«

»Verstanden und aus.«

Eine schneidend scharfe Bise wehte aus Nordost über die vorgelagerten Hügelketten. Die Schweizerflagge auf der nahen Kuppe flatterte waagrecht im steifen Wind. Die Ränder waren längst zerfranst wie die Gesellschaft, die sich einst darunter versammelt hatte. Niemals mehr würde sie je eingeholt, geschweige denn ersetzt und neu aufgezogen werden.

Der General bestrich mit dem Feldstecher das halbe Mittelland. Die schwere Artillerie der Revisionisten belegte die verbleibenden Stellungen der Sezessionisten mit Sperrfeuer. Kleine Feuerbälle funkelten aufblitzend in der Linse vor seinen Augen. Früher, so erzählte man, hätte man von hier aus in der Neujahrsnacht die in mannigfaltigen Farben aufsteigenden Feuerwerke gesehen, dass man vermeinte, ein Kriegsgebiet zu überschauen.

»Schwachsinn«, murmelte der General in den angegrauten Bart. Mit einer angedeuteten Handbewegung verjagte er die rührigen Fantastereien seiner Altvorderen in eisigen Winternächten.

Alfons Nansés Atem beschlug das Nachtsichtgerät bis zur Untauglichkeit. Der Sohn des Bundespräsidenten verschmierte den Nebel mit dem schweren Stoff des Offiziersrockes. Mit mäßigem Erfolg.

»Major, die Luftwaffe wartet auf Ihren Einsatzbefehl.«

Dieser senkte das Gerät und beugte sich wieder über die rötlich schimmernde Karte.

»Wir benötigen drei Jagdbomber, um die Batterie auszuschalten. Geben Sie die Koordinaten durch. Ich rechne mit maximal zehn Minuten. Sind die Bodentruppen in Stellung?«

»Sie haben den Stützpunkt von Norden und Westen umstellt und sind bereit zum Vorrücken.«

»Gut, lassen Sie starten.«

Die stramme Frau Leutnant quittierte den Befehl ohne das sonst übliche Lächeln um den Mund.

»Warten Sie …«, Alfons Nansé überlegte einen Augenblick, »… nichts, bereiten Sie die Befehle vor.«

»Verstanden.«

Warum bloß habe ich zugelassen, dass sie mit an der Front ist? Ich Idiot, dachte der Major.

Doch die Zeiten, fähige Kämpferinnen am Herd stationiert zu lassen, sind längst vergangen. Die Bevölkerung des Landes war allein in den vergangenen Jahrzehnten um ein Siebtel geschrumpft. Die Demografen versprachen weiter abnehmende Zahlen. Es gingen nicht nur die Fremden und Eliten der bürgerkriegsähnlichen Zustände wegen. Der wirtschaftliche Niedergang trug zum Exodus bei. Ebenso die zunehmend ungünstigen Witterungsverhältnisse.

»Wir müssen gehen, General.«

»Ich weiß.« In der Tat war dem Anführer der Sezessionisten-Armee klar, dass die Schlacht verloren war. Aber nicht der Krieg. Doch dies würden Taten anderer richten. Bleierne Müdigkeit erfasste ihn beim Gedanken daran. Bin ich vielleicht doch zu weit gegangen? Wenn ich einen Fehler begangen habe, dann den, dass ich die Durchsetzungskraft des Bundespräsidenten unterschätzt habe. Als er noch Ratsvorsitzender war, hätte ich ihn ohne Probleme beseitigen können. Hätte Viktor Schwarz damals schon geahnt, dass seine eigene Tochter …

»General?«

Stur blieb dieser am Fernglas hängen und blickte dorthin, wo die Vergangenheit jeden Augenblick ausgelöscht würde.

»Gener— «

»Ruhe!«, bellte er allzu laut und schnappte doch nur nach seinen eigenen Gedanken. Erwürgen, mit eigenen Händen, die eigene Brut und diesen, diesen … Nun stehe ich da, und mein einziger Nachkomme ist ein Feigling, hockt zu Hause. Und sie, die eigentlich mein Sohn sein sollte, sitzt drüben beim Feind. »Verflucht!«

»General!« Der Leutnant ließ sich von den Launen des Vorgesetzten schon lange nicht mehr beirren.

»Zwei Minuten bis zum Eintreffen.«

»Lassen Sie den Wagen kommen, wir fahren ins Hauptquartier zurück.«

»Jawohl, Major Nansé. Noch eine Minute«, berichtete der Verbindungsoffizier.

»Informieren Sie Frau Leutnant.«

Das ist also das Ende der Sezessionisten. Ich hoffe, es erwischt Schwarz, diesen Volksaufwiegler.

»Zielperson im Visier«, verlautete der Einsatzleiter von Alpha aus dem Funkgerät, während General Schwarz die Treppe in den Keller des höchst gelegenen Wohnhauses auf Walchwilerberg hinabstieg. »Warte auf den Schießbefehl.«

Verdammt noch mal, muss man denn alles zweimal kommandieren? »Feuer frei!«

Der Grenadier schloss hinter dem Vorgesetzten die schwere Betontüre zum Luftschutzkeller, während draußen die ersten Bomben fielen. Und er verschloss die zweite, die in den Stollen führte, als die letzten Bomben fielen. Der General, der Leutnant und die beiden Grenadiere nahmen den Weg durch die kilometerlangen Gänge in Angriff, die sie von der Nordfront tief in das Hinterland führen würden.

Alfons Nansé setzte das Nachtsichtgerät ab. Die Treffer auf dem Moränenzug waren mit bloßen Augen zu sehen. Kurz nach zwei Uhr früh stoppte der Beschuss. Zeitgleich das Schattentheater an der südlichen Mauer des provisorisch eingerichteten Führerstandes ›Mitte‹. Das altertümliche Bauernhaus hätte jetzt wohl eine Zeit der Ruhe und Beschaulichkeit verdient. Doch es kam anders.

Der Tumult beim gepanzerten Fahrzeug begann mit dem Aufschrei, gefolgt vom Zusammenbruch von Leutnant Barbara Nansé. Unverzüglich rannte Alfons Nansé, geduckt und von Gegenfeuer gedeckt, vor die Türe und auf das Geländefahrzeug zu. Neben dem Aufprallen der Projektile auf Metall, Mauerwerk, Holz, Menschenfleisch, Beton und Glas verstand er kaum seine sterbende Gemahlin.

»Hilf mir, Alfons, bitte – Simon …«

Kaum fünf Minuten unterwegs, und das Licht ging aus. »Und?«, fragte der General in das Funkgerät. Er erhielt keine Antwort vom Einsatztrupp Alpha. Sie werden es geschafft haben. Im Licht der Taschenlampe eilten sie weiter. Unbekümmert darum, was hinter ihnen geschah.

Die Explosion der Handgranate beendete den Angriff auf Major Alfons Nansé und Leutnant Barbara Nansé. Zerrissen lagen ihrer beiden Leiber da. Zerrissen war ihr Familiengewebe schon lange gewesen. Vater Viktor Schwarz und Tochter Barbara Nansé, geborene Schwarz, hatten sich seit ihrer Entscheidung, den Präsidentensohn zu ehelichen, nichts mehr zu sagen gehabt.

»Zielpersonen eliminiert«, meldete Alpha den Status der Mission dem General. Ohne auf eine Bestätigung zu warten, zogen sich die Kämpfer zurück.

Kurz vor dem ersten Notausstieg bei Kilometer vier lagen Viktor Schwarz und seine Soldaten tot auf dem Boden. Der Meldesoldat würde die Nachricht an das Hauptquartier der Revisionisten in wenigen Minuten absetzen können. Aufenthaltsort und Status von Major Alfons Nansé waren zu dieser Zeit in Bern noch unbestätigt.

Die restlichen Verfolger stürmten den Stollen weiter voran, jederzeit auf der Hut vor einem Überraschungsangriff. Am Ende stiegen sie unbehelligt auf die Mauer eines Ausgleichsbeckens der ehemaligen zentralen Wasserkraftwerke.

Die Morgendämmerung befand sich im astronomischen Stadium und ließ den einsetzenden Zerfall der Anlage umso gespenstiger erscheinen. Noch sammelte das Staubecken im Frühling die Wasser der Bergbäche. Diese verhielten sich hierzulande im Sommer erst seit Kurzem so, wie sich die Wadi in fernab gelegenen Klimazonen seit Jahrhunderten schon verhielten.

Die ersten Schüsse der Sezession waren vor Jahren unter dem Kommando des selbst ernannten Generals Viktor Schwarz gefallen. Die vorletzten Schüsse wurden auf Befehl des Oberbefehlshabers der Linden, Major Alfons Nansé, abgefeuert. Die Allerletzten wiederum auf Geheiß Viktor Schwarz’. Diese galten nicht der Sache, sondern seiner persönlichen Geschichte. Die liberalen Revisionisten haben gewonnen, verloren haben die Sezessionisten dennoch nicht.

2038 – 2060

Die Harten gegen die Linden

Was ich auf meiner Mission gelernt habe, was die Schweiz die ganze Zeit über tatsächlich zusammengehalten hatte: Es war die Summe aller kultureller und sozialer Gegensätze auf engstem Raum. Klar ging es immer um den Kampf zwischen Harten und Linden, zwischen Traditionalisten und Fortschrittlichen, zwischen Nationalisten und Internationalen, zwischen Katholiken und Reformierten, zwischen Armen und Reichen, zwischen Städtern und Bauern und so weiter. Die Crux aber war, dass diese Gegensätze nicht entlang einer klaren geografischen Bruchlinie gruppiert waren. Vielmehr durchwirkten sie sich gegenseitig derart, dass daraus ein außerordentlich stabiles Gewebe entstehen konnte. Ein Gefecht, das stärker verband als alle Bünde, Verfassungen und Gesetze, die je geschaffen worden waren. Ich spürte, dass diese Einsicht für die Bewältigung unserer eigenen Krise von Bedeutung war.

Dass sich diese Fäden dann eines Tages dennoch verhaspelt haten, war das Schicksal der Schweiz. Die Sezession begann dann, als die in der Verfassung so klug eingeschriebenen Regeln zur Änderung derselben mehr und mehr ausgehebelt wurden und dieses Gewebe, zum gordischen Knoten verbunden, für die Zeitgenossen nur noch mit dem Schwert durchtrennbar zu sein schien.

»Wir sind ein der Herkunft verpflichtetes und mit dem Boden verbundenes Volk. Ein sehr einfacher und lapidarer Satz, allein von gewaltigen Auswirkungen. Es ist notwendig, in diesem Lande die Erkenntnis dahin zu lenken, dass von allen Aufgaben, die uns gestellt sind, die erhabenste und damit für den Menschen heiligste die Erhaltung der von Gott gegebenen blutgebundenen Art und des ihm zustehenden Lebensraums ist. Uns steht mehr zu, als die liberalistischen und jüdischen Schmarotzer uns hier und in der anderen Welt weismachen wollen. Blut, Boden und Wasser waren, sind und werden unser Schicksal bleiben!«

An den Stammtischen im Bergland verfing die Rhetorik des jungen Viktor Schwarz wunderbar. Er glaubte an das, was er sagte. Es ging ihm nicht um Ruhm oder Bereicherung. Darin blieb er berechenbar. Zwar gaben die Sommer noch Wasser ab. Mehr als genug für die Flecken entlang der Berge. Doch war es bereits knapp für das Mittelland mit seinen großen Zentren und zu wenig für die Hügelzüge jenseits. Wie es weiter stromabwärts aussah, war nicht das Problem der Anhänger der Harten.

»Und vor allem mögen besonders Sie, meine Ratskollegen, eines nicht vergessen: dass die Schweiz ein souveräner Staat bleibt, dafür werden in aller Zukunft die Waffen sorgen, die wir schmieden, und nicht die Knebelverträge und Diktate der europäischen Technokraten. Deshalb rufe ich Ihnen zu: Schließen Sie sich uns an. Die inneren Stände sind bereit, sich gegen die Geldzähler und Grauhemden zu wehren. Wir sind bereit …«, seine Stimme versagte.

Man wähnte Schaum in des Redners Mundwinkeln, als der Ratsvorsitzende mit dem Hammer Ruhe gebot. Die Linden hatten längst aufgehört, gegen die radikalen Konservativen zu murren. Unflätiges und lautes Wettern, gar gelegentliche Handgreiflichkeiten standen inzwischen an der Tagesordnung.

»Ich muss Sie bitten, Abgeordneter Schwarz, kommen Sie zur Sache.« Jean-Pierre Nansé verzog keine Miene. Doch wer ihn kannte, wusste, dass er innerlich bebte. Die verbalen Ausfälle des Ewiggestrigen Viktor Schwarz waren ihm zuwider. Er wird uns noch in einen Bürgerkrieg reden, bloß um seine Idee von Unabhängigkeit und Selbstbehauptung durchzusetzen.

»Bitte entschuldigen Sie, Herr Ratsvorsitzender. Ich appelliere an Sie, Abgeordnete, Brüder: Unterstützen Sie die Sezessions-Initiative der Bergkantone, und mobilisieren Sie mit uns zusammen die Armee! Zur Rettung unserer Freiheit. Zur Rettung unseres Landes!«

Über sein Scheitern im Rat machte sich Viktor Schwarz keinerlei Illusionen. Für die Mehrheit der Stände, vor allem für die Grenzkantone, war Isolationismus keine Option. Im Gegenteil, dieser hätte ihrer Ansicht nach in kurzer Zeit zum Untergang geführt. Die Probleme von morgen standen vor ihrer Tür und nicht vor den Scheunentoren der rückwärtig gelegenen Landstriche. Die Ressource Wasser war viel zu wertvoll, um sie dem Gutdünken einer wilden Horde Berglern zu überlassen.

Dabei dümpelte die Schweiz zu diesem Zeitpunkt erst an der Niederschlagsmarke herum, die Wasserknappheit anzeigte.

Die anderen sehen das Land schon wieder als Parasiten und Opportunisten der neuen Weltkrise. Wer weiß, wie lange sie noch bereit sind, uns wenigstens dem Anschein nach souverän zu belassen. Und gegen diese Kräfte will Schwarz doch tatsächlich antreten, mit Morgensternen und Hellebarden. Lächerlich!

Ratsvorsitzender Jean-Pierre Nansé lag wohl richtig, wenn er dieses Ansinnen im besten Fall als schwachsinnig, eher aber als selbstzerstörerisch einstufte. Noch hoffte er, die Harten mit Zuckerbrot und Peitsche auf Kurs zu bringen. Diese Hoffnung stellte sich schneller als befürchtet als falsch heraus.

Kurz nach der geschilderten Ratssitzung trat Viktor Schwarz als Anführer des neuen Sonderbundes in Erscheinung. Seine Botschaft: Wir kehren dem Ausland den Rücken zu und schließen die Grenzen. Der Ansage folgte die Aufstellung von Kampfverbänden. Es lag an den Linden, diese militanten Sezessionsbestrebungen einzudämmen und den Nachbarn zu versichern, dass die Schweiz eine vertrauenswürdige Bündnispartnerin bleiben würde.

»Von Mann zu Mann, ich flehe Sie an, kommen Sie zur Vernunft. Ihre Demagogie ist Gift für dieses Land. In Zeiten wie diesen brauchen wir mehr denn je Zusammenhalt und nicht Entzweiung. Die Zeiten sind vorbei, da wir uns mit Äxten und Tremmel gegen die Welt durchsetzen konnten.«

»Wenn etwas vorbei ist, dann sind es die Zeiten, wo wir uns freikaufen konnten. Begreifen Sie denn nicht? Es gibt kein Zusammen mit der anderen Welt. Wenn wir uns nicht behaupten, verschwinden wir. An ihrem Platz sitzen dann die neuen Vögte aus dem Norden. Wir dürfen den letzten Trumpf nicht verspielen. Nicht jetzt. Sie haben recht, Entzweiung liegt nicht drin! Was muss geschehen, damit Sie sich uns anschließen?«

»Der Trumpf gehört nicht uns.«

»Dann müssen wir Gottfried Stutz erst recht auf die Hinterbeine.«

»Uns unsere Gemeinschaft zerstören?«

»Wenn hier jemand etwas zerstört, dann Sie mit Ihrer romantischen Kontinental-Utopie.«

»Sie haben keine Vorstellung, was Brüssel wirklich umtreibt.«

»Haben Sie? Ich bezweifle es. Denen geht es nur darum zu kriegen, was sie brauchen. Und wenn wir nicht nach ihrer Pfeife tanzen und es gratis geben, dann holen sie es sich. Ist das denn so schwierig zu verstehen?«

Jean-Pierre Nansé beugte sich über den Schreibtisch zu Viktor Schwarz: »Genau das sehe ich. Aber ich bin nicht bereit, dabei alles zu verlieren, was wir über Jahrhunderte aufgebaut haben. Ich will die Grundwerte der Demokratie retten.«

»Und ich werde sie verteidigen, mit Ihnen oder gegen Sie, das ist mir egal.«

Die zwei starrten sich noch einen Augenblick an, bevor sich Viktor Schwarz erhob und das Büro des Ratsvorsitzenden ohne Gruß verließ. Es war die letzte Unterredung der beiden. Die nächste Begegnung verlief wortlos, dafür umso geräuschvoller. Die Harten machten ihre Drohung wahr – und mobil. Sie waren bereit, mit Waffengewalt zu behaupten, was sie als das Ihre betrachteten. Auch gegenüber den eigenen Brüdern.

Die Linden übten sich noch lange im Lamento. Der Druck der Anrainerstaaten auf die Schweiz nahm zu. Und so kam die Zeit, dass sich der unterdessen zum Bundespräsidenten ernannte Jean-Pierre Nansé genötigt sah, seine Generäle auf dem Waffenplatz um sich zu scharen: »Nach meiner Ansicht kann das Land nur noch durch einen Kaiserschnitt gerettet werden, und Bern muss der Operator sein. Wir wollen so wenig Blut wie möglich vergießen. Dieser Krieg ist nicht unsere Wahl. Es ist die Wahl der Sezessionisten und Sonderbündler, die uns zwingt, Recht und Ordnung durchzusetzen. Wir tun das schnell, präzise und schmerzlos.«

Wie anders verlief die Bestätigung Viktor Schwarz’ zum aktiven General: »Wir ziehen an der Seite unserer Vorväter in den Kampf gegen die fremden Richter. Die Linden wollen uns glauben machen, das sei alles nur leeres Geschwätz. Wie falsch sie liegen. Wir erheben uns und erkämpfen uns die Freiheit von allen Vasallen; wie einst Wilhelm Tell.«

Doch die Sage vom Freiheitskämpfer war schon lange aus dem gemeinschaftlichen Fundus getilgt. Ergo bewegte dieser Passus keine Menschenseele. Erst das Bespielen der Blut-Boden-und-Wasser-Ideologie brachte die Gemüter zum Kochen. Es ist unsere heilige Pflicht … die Erhaltung unserer Art … unser Lebensraum … aufrecht stehend, mit der Waffe in der Hand … Schmarotzer, Parasiten, Juden … austreiben … wir sind das Opfer … unser Schicksal … Heldentod … und so weiter und so fort. Mit derlei Hetze erzeugte Viktor Schwarz die Bereitschaft beim Einzelnen, kollektiv für das große Bessere sein Leben hinzugeben.

Der erste Schuss fiel wenige Tage später beim Aufmarsch der Harten vor den Toren der abgeriegelten Hauptstadt. General Viktor Schwarz, in eine schlichte, mit drei Edelweißkränzen geschmückte Uniform gekleidet, hielt sich im Hintergrund. Nicht aus mangelndem Mut. Seine Aufmerksamkeit galt nicht dem Geplänkel vor ihm. Denn mehr als ein erstes Geplänkel würde es an dieser Stelle nicht werden.

Vielmehr haderte er im Geiste mit der altertümlich frankierten Ansichtskarte seiner Vorfahren. Sie waren damals in die freie Schweiz geflüchtet. Vertrieben von den konservativen Kräften Deutschlands, welche die Freiheit fürchteten wie der Teufel das Weihwasser. Und jetzt stehe ich da, als Hinterwäldler klassiert, weil ich meine Freiheit, unsere Freiheit, bis aufs Letzte verteidige? Ich bin Viktor Schwarz, und ich werde keinen Schritt zurückweichen.

1984

Vor dem Wandel

Was die Schweiz im 20. Jahrhundert fabrizierte, habe ich bis heute nicht begriffen. Wie um Himmels willen war es diesem Land möglich, den paradiesischen Zustand, den es erlangt hatte, derart vehement zu ignorieren? Mir ist keine Gesellschaft der neueren Zeit bekannt, in der so viele Menschen über so viel Zeit, Freiheit und freie Ressourcen verfügten und trotzdem so wenig für den Fortbestand und den Fortschritt aller gemacht haben. Zugegeben, die Zeit war, wenn auch für die meisten Menschen im Westen noch feudal, aus wirtschaftlicher Sicht, global, katastrophal.

Das Umschlagen von Konsens und Gemeinsinn in Dissens und Gegeneinander erstarkte um die Jahrtausendwende in der ganzen Welt. Für die Schweiz bestand bis zuletzt keine ersichtliche Notwendigkeit, diesen Wandel ebenfalls zu vollziehen. Schließlich wurde das Land nicht von Flüchtlingen überrollt, und die globalen Wirtschaftskrisen kratzten höchstens am Lack, zehrten aber nicht an der Substanz. Warum stand man nicht zusammen, als sich die dunklen Wolken am Horizont aufzutürmen begannen? Warum bot niemand die Stirn, als die Welt noch heil war?

Natürlich gab es Vereinzelte. Im Archiv des alten Bundes stolperte ich per Zufall über die Festrede eines hochrangigen Beamten, der an einem der früher jährlich stattfindenden Gedenkfest auf der Rütliwiese all das hatte kommen sehen und eindrücklich davor gewarnt hatte – ohne den leisesten Widerhall.

Noch war es nicht die Hochgeschwindigkeitsstrecke, die es wenige Jahre später sein würde, wenn auch nur für eine kurze Dauer. Die ersten Sonnenstrahlen tasteten vergeblich durch den Nebelschleier über den Rebbergen nach dem Lac Léman. Charles Nansé sah nicht hin. Ebenso wenig blickte er zum großartigen Alpenbogen im Osten zurück. Zu sehr war er in seine Zahlen vertieft.

Wir können es noch schaffen, redete sich der Mittvierziger wider besseres Wissen seit Jahren ein. Wenn nur die großen vier die UNO-Charta ratifizieren … Die wunderlichen Reihen und Diagramme vor ihm zeigten besorgniserregende Aussichten – oder auch nicht. Abhängig von deren Interpretation und vor allem vom Willen zum Wandel.

Ohne die Stirnfalten zu glätten, bestellte Charles Nansé einen schwarzen Kaffee beim vorbeischwankenden Kellner. Kurz darauf sagte er pflichterfüllend »Merci« zum Schaffner, der seinen Gedankengang, wie jedes Mal, empfindlich störte.

Wenn er schließlich doch durch das Fenster blickte, dann nur, um seine Argumente vor seinem inneren Auge vorüberziehen zu lassen: »Wenn wir diese drei Maßnahmen global durchsetzen, sind wir ab Mitte des kommenden Jahrhunderts wieder auf Kurs. Fluor-Wasserstoff-Verbot, CO2-Reduktion, Rußpartikel-Emission. Vorausgesetzt, die Zielgrößen werden eingehalten. Sonst drohen Treibhausgaseffekt, steigende Meeresspiegel, zunehmende Wetterextreme.«

Charles Nansé wusste, dass die Chancen, das alles kommende Woche an der UN-Vollversammlung in New York zu erreichen, verschwindend klein waren. Als Professor an der renommiertesten Wirtschaftsuniversität der Schweiz und gleichzeitig Söldner der größten Schweizer Bank war ihm das klar. Aber wenn er etwas nicht war, dann ein Politiker. Der in der Schweiz schleichend einsetzende Umschwung von einer lösungsorientierten Konsens-Filz-Demokratie zu einer wählerzählenden Dissens-Ideologie-Demagokratie passte ihm überhaupt nicht. Ähnliche Verschiebungen waren in allen entwickelten Staaten der westlichen Welt zu beobachten. Die Politik und ihre Repräsentanten verstanden sich ständig besser darauf, die Ängste der Massen zu bewirtschaften, anstatt die anstehenden Probleme anzupacken. Aus Diktatoren wurden Demokratoren. Mit entsprechenden Folgen.

Also hielt sich Charles Nansé weiter an seine Analysen. Paläontologische Untersuchungen zeigten unterdessen zweifelsfrei, dass selbst während der kurzen Menschheitsgeschichte zwei bis drei signifikante Klimaänderungen stattgefunden hatten. Wo die jetzt beobachteten Fluktuationen mündeten, konnte oder wollte dennoch niemand wissen.

Kurz vor Lausanne schweiften seine Gedanken ab. Als Ökonom konnte er routiniert mit Zahlen jonglieren, gleichzeitig sein volatiles Börsenportfolio gewinnbringend bewirtschaften, die Familie managen und sich an sein Ferienhaus an der Côte d’Azur erinnern. Besser gesagt, an seinen letzten Aufenthalt dort. An ausgezeichneter Lage und allzeit gepflegt, war das Anwesen bestens geeignet, ihm eine Quelle der Freude zu sein; selten zusammen mit Frau und Kindern.

»Non, merci«, erwiderte Charles Nansé automatisch dem wiederkehrenden Kellner, der zum letzten Mal vor Genf versuchte, etwas von seinem Trolley abzusetzen. Genève, ma patrie, Rom des Protestantismus, wo wir, die Familie Nansé, einst Schutz erhielten und in den Zenit der Uhrenindustrie aufstiegen. Seine Nansé-Constantin zeigte auf pathetisch Weise fünf vor zwölf an.

Demian Schwarz sagte »Ja, gerne« zur adretten Kellnerin. Ein Bier, das ist genau das Richtige. Er saß, die Beine hochgelagert, unter dem Sonnenschirm auf der Aussichtsterrasse. Frau und Kinder wusste er beim Streichelzoo, und so konnte er unbehelligt in den Nachmittag dösen. Der blaue Himmel über den Bergspitzen präsentierte sich makellos, ebenso der Blick von der Alpwirtschaft ins Tal.

»Danke.«

Die Schweizerfahne flatterte fröhlich im Wind. Das ist es, ging es dem Braungebrannten beim ersten Schluck durch den Kopf. Romantische Bergstimmung, jauchzende Sennen, saubere Kühe. Alles auf der neuen Medikamentenpackung seines neuen Kunden seiner neuen Agentur appliziert, noch nie dagewesen. Der Grafiker griff zu Block und Griffel und skizzierte mit wenigen Strichen Entwürfe. Die mit Bier und Speichel befeuchteten Farbstifte verliehen den Zeichnungen den Status kleiner Kunstwerke.

Der Grafiker liebte den Illustrationsstil, wie ihn die Ansichtskarten um die Jahrhundertwende zelebriert hatten. Überzeichnet und romantisierend, das ewige Paradies versprechend. Er besaß eine der umfangreichsten Sammlungen davon. Entstanden war diese Liebe aufgrund einer alten Karte, eigentlich eines kolorierten Stahlstiches, den er als Kind aus dem Papierkorb des Vaters gefischt hatte. Sie war im Grunde Familiengeschichte: Sein Urururgroßonkel hatte sie seinem Ururgroßvater zugeschickt.

Fasziniert war der Junge von der Vorderseite gewesen: Eine überzeichnete und dadurch umso imposantere Ansicht eines Gletschers. Versandt worden ist sie von einem Berg, den er bestens kannte. Ein Unikat, so wusste Demian Schwarz inzwischen. Der einzige Makel war das Gekritzel über dem Text auf der Rückseite – Familiengeschichte eben.

Wirkungsvoll, bestechend, überzeugend. Erst recht, wenn sein Geschäftspartner in der kommenden Woche die schlagenden Argumente und Geschichten zu einem Konzept verdichtet hinzugefügt haben würde. Dafür bezahlten die Kunden gutes Geld.

»Sie?«

Aus seinen Gedanken gerissen, schaute Demian Schwarz zu dem Mann, der am Nachbartisch saß und ihn angaffte.

»Sind Sie Künstler?«

»Nein«, antwortete er vorschnell, »das heißt, eigentlich schon«, fügte sein Ego an und lächelte aufgesetzt.

»Können Sie davon leben?«

»Wie bitte?«

Bereits war Demian Schwarz dem Tischnachbarn wieder entglitten, oder umgekehrt. Der Mann interessierte ihn nicht. Zu unattraktiv, zu plump, kein möglicher Kunde.

»Ja, Werbung.«

»Ach so«, folgte prompt die Erniedrigung in verräterischem Akzent aus dem nördlichen Nachbarstaat. Damit erlosch auch für den anderen das Interesse, und er widmete sich erneut seiner Gala-Revue. Eingebildeter Möchtegern-Picasso.

Fetter Mittelklassetourist, dachte Demian Schwarz. Der letzte Schliff, und schon steckte er die Zeichnungen ein. Den Rest nicht mehr so erfrischendes Bier musste er hinunterspülen, dann bezahlte er und gesellte sich zu den Seinen. Es lag ein mindestens für die Kleinen anstrengendes Stück Weg vor ihnen, bis sie in der Hütte sein würden. Wie sehr liebte Demian Schwarz die freie Natur am Wochenende und die Stadt während der Woche.

1849

Die Karte

In der Schule haben sie uns eingetrichtert, dass die Schweiz einer Laune der Natur entsprungen sei und aus eigener Kraft zur Selbstständigkeit gefunden hätte. Staatspropaganda. Heute weiß ich, dass es das Kapital der aufstrebenden Industrieellen-Eliten aus ganz Europa war, die im 19. Jahrhundert den Grundstein zu diesem Staat legten. Solcherlei Reichtum bildete den Nährboden für alles, was dieses Land je hervorbrachte.

Geschätzter Neffe Alexander,

Ihr Vater war so freundlich, mir die Weiterreise nach Paris zu finanzieren. Schweren Herzens nehme ich Abschied von Ihrer bereichernden Gesellschaft, die zu genießen mir in dieser kurzen Zeit vergönnt war. Mir bleibt die Zuversicht, Sie bald in meiner neuen Heimat willkommen heißen zur dürfen, ich setze mich an der Akademie der Künste für Ihr Stipendiat ein. Das wird das Erste sein, das ich in Angriff zu nehmen gedenke und mir den Auszug aus diesem geschenkten Paradies, das mich bewahrt und gerettet hat, versüßen. Aus diesem demokratischen und liberalen Hort der Freiheiten, wo, in den Worten unseres geliebten Friedrich Schillers, endlich die Tyrannen bluten!

Seien Sie herzlichst gegrüßt, und richten Sie Ihrem ehrenwerten Vater bitte dasselbe aus.

Wilhelm Schwarz

Der grau melierte Herr mit gepflegtem Backenbart benetzte die Briefmarke und klebte sie sorgfältig auf den zur Ansichtskarte zweckentfremdeten Stich, den er am Vortag von der Wand genommen und dem Hotelier abgerungen hatte. Anschließend ergriff er den Gehstock und verließ den Speisesaal des Berghotels Rigi Kulm. Nicht ohne zuvor der Haushälterin Anweisung und Trinkgeld in die Hand zu drücken. Mit einem für ihn ungewöhnlichen Lächeln kehrte Wilhelm Schwarz dem erwachenden Bergpanorama den Rücken.

Bis zum Erscheinen der ersten Gäste blieb die fein säuberlich geschriebene Karte alleinige Herrin über den Frühstückstisch. Neben ihr scharten sich die Reste von Brot, Ei, Konfitüre, Butter, Kaffee, Käse und Wurstwaren um einfaches Porzellan und Silber. Durch das leicht verzerrende Aussichtsfenster würde gleich das tägliche Schauspiel seinen Lauf nehmen. Die ersten Sonnenstrahlen tauchten den überreichen Alpenfirm in zartes Rosa.

Wie das ewige Eis sich den Weg ins Tal bahnt. Langsam, unbeirrbar, wie das reinste Tuch sich sanft über die schroffen Felsen legend. Oder doch eher einem gespenstigen Leichentuch ähnlich, alles darunter zersetzend und zermalmend, überkam es Wilhelm Schwarz beim frühmorgendlichen Abstieg. So offenbarten – oder verfälschten – seine Künstleraugen ständig die Welt.

Nach und nach erleuchtete das Tagesgestirn die grünen Almen vor ihm, dann die dunklen Tannenwälder, gefolgt von den grausigen Schluchten und Abgründen unter ihm, bis zum Schluss der imposante See im Talgrund zu flimmern begann.

›Schweiz – Das Land unserer Träume‹ hatte der Absender auf die Vorderseite der Ansichtskarte geschrieben. Sie zeigte, einem Vergrößerungsglas gleich, das Bild, an dem sich die verschlafene Gesellschaft, die nach und nach im Lokal oder auf dem Gipfel auftauchte, aus sicherer Entfernung so sehr ergötzte. Ein berauschender Anblick, der in kalkulierbarer Zuverlässigkeit die rußbefleckten Sorgen der reichsten Städter ganz Europas reinwusch. Mehr noch, in solchen Momenten durften sie sogar die ungebremsten Freuden ihrer so ersprießlichen Geldanlagen vergessen. Wilhelm Schwarz war an diesem Tag der einzige Emigrant, der den Gipfel vor dem Schauspiel verlassen hatte.

1900 – 1914

Zwischengesang

Ein aufgeschlossener Zeitgenosse schrieb im August 1914: »Es war ein beschützender, kleiner historischer Moment des Friedens und des Fortschritts, in dem wir aufgewachsen sind. Wir waren Kinder, die in einem Kindergarten aufgezogen wurden, und nun holte uns die Realität ein, die Geschichte nahm ihren blutigen Lauf wieder auf.«

Was lernen wir daraus? Die Zeit zwischen 1900 und 1914 markierte eine offene Zukunft. Welchen Weg sie einschlug, ist bekannt.

Schweizer Erinnerungen an die Zukunft

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