Читать книгу Baron von Dassel ermittelt — Unrühmlicher Tod eines Gardisten - D. C. Mandel - Страница 3

I

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In der neunten Stunde des Heiligen Abends 1810, eines für die Winterzeit viel zu warmen Montags, wird der Stadtgerichtsdirektor Baron von Dassel, der sich wegen der Berichte zum Jahresabschluss noch immer in seinem Bureau verschanzt hat, unsanft aus seiner amtssprachlichen Meditation gerissen. Einer seiner eifrigen Untergebenen, der Polizeiwachtmeister Rübsam, drängt darauf, zum Rapport vorgelassen zu werden, indem er mehrmals penetrant gegen die Tür klopft, obwohl er von drinnen lange keine Antwort erhält.

»Nun kommen Sie endlich rein!«, ruft von Dassel dann doch irgendwann mürrisch, weil er weiß, dass Rübsam keine Ruhe geben wird.

Während sich die Tür widerwillig quietschend öffnet, rollen die Weihnachtslieder, die vom Markt heraufklingen, lauter ins Zimmer und verebben wieder, als Rübsam die Tür so vorsichtig, als dürfe er seinem Vorgesetzten kein natürliches Geräusch zumuten, hinter sich in den Rahmen drückt. Der Polizeiwachtmeister tritt näher und schlägt die Hacken zusammen. Sein Tschako mit Federbusch und großherzoglichem Wappen, einem Greif als Schildhalter, sitzt ihm schief auf dem Schädel. Er wirkt ein wenig derangiert.

»Worum geht’s?«, fragt von Dassel unerwartet leutselig, ohne aufzublicken. »Aber rasch! Meine unvergleichliche Frau Gemahlin wartet mit dem Karpfen.«

Natürlich nicht wirklich seine Gemahlin, das wäre noch schöner, sondern die Minna. Davon abgesehen, meint er es ernst. Er hat den Auftrag pünktlichst daheim zu erscheinen, braucht aber eine Weile bis hinaus auf sein Gut vor der Stadt. Der Zeitplan erklärt sich dadurch, dass er gemeinsam mit seiner besseren Hälfte für den Abend aufs Schloss eingeladen ist, zu irgendeinem romantischen Kerzenspektakel. Das stellt er sich gruselig vor in dieser pittoresken Ruine hoch über der Stadt. Angeblich wollen die französischen Besatzer von den wohlhabenden und einflussreichen Einheimischen Geld sammeln. Es genügt ihnen wohl nicht, das schöne Schloss zerstört zu haben, jetzt schicken sie auch noch jemanden, der es wieder aufbaut. Merkwürdiges Volk. Allerdings hat er bis hierher auch aus einem anderen Grund gezögert, seine zeitweilige Heimkehr unnötig zu beschleunigen. In den Zimmern, die seine werte Gemahlin hat einrichten lassen, erwarten ihn Landschaftstapeten der Firma Zuber & Cie aus dem französischen Rixheim mit erfundenen Motiven aus den Schweizer Alpen, aufreizend blauen Bergen und Hirten in bunten Trachten, die hinter den gemalten Säulen antikisierender Tempel als fingierte Fernblicke zu erspähen sind und ihm regelmäßig Sodbrennen verursachen. Wie angenehm lebt es sich dagegen in seinem spartanisch eingerichteten Bureau, das einzig dem Zweck des Studierens und Amtierens gewidmet ist und mit wenigen schlichten Möbeln aus Kirschbaum auskommt, unter denen sich sein geliebter Schreibtisch und ein mannshoher Wandspiegel mit verziertem Rahmen besonders hervortun.

Als diese drei Gedankenstränge miteinander kollidieren, zurrt der Baron den wollenen Schal, den er seit zwei Wochen auch im Amt nicht abzulegen pflegt, obwohl ihn eine Hitzewelle nach der anderen überschwemmt, fester um den Hals. Das ganze Jahr über ist es ungewöhnlich heiß gewesen und auch jetzt noch gibt das Wetter keine Ruhe. So hat sich von Dassel im Zuge ständiger Fehleinschätzungen der meteorologischen Lage im Wechselspiel mit der jahreszeitüblichen Kleidung und gelegentlichen Außenterminen rettungslos erkältet. Wenn es denn doch einmal, als erbarme sich der liebe Gott, patschnasse Flocken schneit, was selten genug der Fall ist, wird unter den Füßen der Städter gleich alles zu Matsch. Dieses graue, glitschige Leben unter der Wärmedecke macht die Menschen verrückt, die Verbrecher ebenso wie ihre Jäger. Von Dassel sehnt sich nach einem kalten Wind, der ihm mit seiner Eisesklinge klärend über die Stirn rasiert.

Der Polizeiwachtmeister Rübsam mustert seinen in irgendwelche Eingebungen versunkenen Vorgesetzten misstrauisch und ringt nach Worten, um den Schaden für sich als den Überbringer der schlechten Nachricht in Grenzen zu halten. Schließlich kann er doch nicht an sich halten und plautzt heraus:

»Ihre Frau Gemahlin wird den Karpfen wohl alleine verspeisen müssen.«

»Warum sollte sie?«, fragt von Dassel verwundert.

»Weil wir eine Leiche haben«, sagt Rübsam. »Das heißt: nicht ›wir‹, sondern Sie, vielmehr auch nicht Sie, denn schließlich gehört sie Ihnen genauso wenig wie mir, aber sie ist nun mal leider da.«

»Zu Weihnachten?«, entfährt es von Dassel.

Sogleich grämt ihn die Blödigkeit seiner Bemerkung. Rübsam sieht über sie hinweg. Der Polizeiwachtmeister hat sich abgewöhnt zu glauben, seinen Vorgesetzten dürften keine Schwachheiten zugetraut werden.

»Leider«, sagt er. »Die Wache am Neuen Tor hat auf die Hauptwache Meldung machen lassen, dass der Gardist Georg Berger von dem Neuen Tor hereinwärts gegen die Stadt zu bei dem auf dem Fußpfad gegen den Fluss liegenden großen Stein totgeschlagen worden sei.«

Der Stadtgerichtsdirektor richtet sich widerwillig auf, stöhnt und fragt: »Was, bitte, heißt das auf Deutsch?«

»Man hat den Gardisten Georg Berger von den Leibgrenadieren gefunden«, entgegnet der Polizeiwachtmeister, wobei er sich strafft, um die Wörter nicht wieder ungeordnet in die Freiheit zu entlassen. »Am Fluss, wo der große Stein liegt. Er ist tot.«

»Der Stein?«

»Der Gardist, mit Verlaub. Wahrscheinlich erschlagen. Wobei nicht mit diesem Stein, denn das ist ein riesiger Abweisstein und viel zu groß.«

»Jetzt hab ich’s kapiert«, sagt der Stadtgerichtsdirektor erleichtert. »Ist den Wächtern vom Neuen Tor etwas aufgefallen?«

»Sie sagen, sie hätten in der Nacht zwar Lärm gehört, aber nicht geglaubt, dass es so arg ist und darum nicht eingegriffen. Aber dann habe ihnen der Soldat Rupert Clemens einen der Unruhestifter, einen gewissen Johann Antoni, übergeben mit den Worten: ›Der war’s, der hat zugeschlagen.‹«

Von Dassel lehnt sich befriedigt im Lehnstuhl zurück.

»Na also. Dann liegt der Fall doch klar.«

Womit er so viel wie »Was wollen Sie dann noch von mir?« sagen will. Aber Rübsam verdirbt ihm die gute Laune, indem er einwendet:

»Der Antoni bestreitet den Vorwurf unter Tränen.«

»Unter Tränen?«, fragt der Stadtgerichtsdirektor angewidert.

In einem beinahe entschuldigenden Tonfall erklärt der Polizeiwachtmeister: »Er gehört der Mannschaft des Invaliden-Regiments an.«

»Offensichtlich nicht ohne Grund«, bemerkt der Stadtgerichtsdirektor bissig.

»Er behauptet, Clemens, also der, der ihn gebracht hat, sei genauso dabei gewesen. Außerdem ein Soldat namens Gräfe«, sagt der Polizeiwachtmeister Rübsam und fügt nicht ohne Stolz hinzu: »Ich habe alle zwei festgesetzt. Der Antoni saß ja schon. Daraufhin schwärzte Gräfe noch den Fuhrmann Schürer, Matthias, und den Steinhauergesellen Kreuzer, Friedrich, an. Die hätten sich ebenfalls gekloppt.«

Der Stadtgerichtsdirektor seufzt vernehmlich. Natürlich. Warum sollte es ausgerechnet heute unkomplizierter einhergehen, als sonst.

»Folglich habe ich mir den Schürer gegriffen«, setzt der Polizeiwachtmeister seinen Bericht gestenreich fort, »und ebenfalls eingebuchtet. Und ihm bei dieser Gelegenheit einen Prügel abgenommen, der war drei Schuh lang.«

»Die Tatwaffe?«, erkundigt sich der Stadtgerichtsdirektor.

»Woher soll ich das wissen?«, sagt der Polizeiwachtmeister achselzuckend.

Wahrscheinlich hat er seine eher rhetorische Frage gar nicht so despektierlich gemeint, wie sie herauskam, aber der Stadtgerichtsdirektor hält sie pflichtgemäß für eine Insubordination und bedenkt seinen Untergebenen mit einer scharfen Zurechtweisung in Form eines strafenden Blickes.

»Der Prügel wird noch inspiziert, vom Herrn Stadtphysikus Carus«, räumt der Polizeiwachtmeister kleinlaut ein, nachdem er den Schreck überwunden hat.

»Was ist mit dem anderen, dem Kreuzer?« will der Stadtgerichtsdirektor wissen.

»Den habe ich als einzigen nicht erwischt« gesteht der Polizeiwachtmeister, wobei er noch weiter in sich zusammenfällt. »Obwohl ich im Sandsteinbruch sofort nach ihm habe suchen lassen. Der Gerichtsdiener Heldt meinte, jemand habe den Kreuzer auf seinem Neckarschlappen mit einer Ladung Bruchsteine den Fluss abwärts fahren sehen. Zwar hab‘ ich dem Frachtschiff unverzüglich nachgesandt, mit einer offenen Requisition zu Pferd, aber bisher ohne Erfolg.«

»Im Arrest wäre sowieso kein Platz mehr gewesen«, kommentiert der Stadtgerichtsdirektor giftig.

Dieser Rübsam mit seinem kopflosen Diensteifer und dem Kadavergehorsam geht ihm gewaltig auf die Nerven, und das, solange er ihn kennt.

»Was den Prügel anbelangt«, ergänzt der Polizeiwachtmeister, nachdem er kurz die Gemütslage seines Vorgesetzten sondiert hat. »Der Wächter des Holzplatzes, den manche auch dem Zimmerplatz nennen, nicht den Wächter, sondern den Platz, ein gewisser Valentin Unruh, also das ist der Wächter, der hat Anzeige erstattet, dass auf dem Holzplatz, oder dem Zimmerplatz, wie man will, nur er sagt Holzplatz, ein halbes Dutzend Klappern gestohlen worden sei.«

Von Dassel denkt, es sei zum Verrücktwerden. Fortwährend versteht er diesen Krautundrübenkopf nicht, gerade so, als spräche er eine wildfremde hinterozeanische Sprache.

»Was, zum Teufel, sind Klappern?«, fragt er.

»Prügel«, erläutert der Polizeiwachtmeister beflissen und beobachtet, wie seinem Vorgesetzten der Unterkiefer herabsinkt. »Wir nennen die Prügel auch Klappern. Oder die Klappern Prügel, wie man will. Genau genommen Schälklepperle. Weil die Stämme geschält sind. Ihre Rinde geht an die Gerber für die Lohe. Indem die Stämme aber nun geschält sind, trocknen sie rasch aus und werden hart. Deshalb klappern sie beim Verladen. Daher Schälklepperle. Es ist aber dasselbe wie Prügel.«

Dem Stadtgerichtsdirektor schwirrt das Hirn.

»Soll ich raten?«, meckert er. »Haben Sie den Holzplatzwächter festgesetzt?«

Da zeigt sich der Polizeiwachtmeister ehrlich erstaunt und vergisst wieder einmal alle Vorsicht.

»Warum sollte ich?«, fragt er. »Nur einbestellt hab ich ihn, mit Ihrer gütigen Erlaubnis. War das ein Fehler?«

»Keineswegs«, bescheidet ihm der Stadtgerichtsdirektor, der endlich einmal ein Fünkchen von Vernunft in dem Kerl zu erkennen glaubt. »Gleichen die Prügel vom Holzplatz demjenigen, den Sie dem Schürer abgenommen haben?«

»Aufs Haar«, antwortet der Polizeiwachtmeister und schlägt die Hacken zusammen.

Der Stadtgerichtsdirektor denkt: Wenigstens was!, stöhnt innerlich aber ein weiteres Mal bei dem Gedanken, dass ihm jetzt wohl nichts anderes übrigbleiben werde, als ein Informativverfahren einzuleiten, und das über die Feiertage. Andererseits — wenn es hilft, dieser scheußlichen Tapete zu entfliehen ...

»Ist Ihr Zeuge anwesend?«, fragt von Dassel.

»Jawoll!«, entgegnet Rübsam lauter als nötig und schlägt die Hacken zusammen.

»Sagen Sie dem Gerichtsdiener, er soll ihn hereinschicken!«, befiehlt der Stadtgerichtsdirektor.

Rübsam brüllt: »Wird erledigt!«, schlägt die Hacken zusammen, macht eine exakte Kehrtwende auf der Ferse des einen und der Zehenspitze des anderen Fußes und verlässt den Raum wie ein abziehender Gewitterdonner. Wieder allein, sinnt der Stadtgerichtsdirektor dem schnoddrigen Ton nach, den der Polizeiwachtmeister neuerdings am Leib hat, und nicht nur der. Woher er wissen solle, ob es sich um die Tatwaffe handelt. Hat man jemals so etwas schon gehört? Viele der Untergebenen lassen in jüngster Zeit den nötigen Respekt vermissen. ›Das alles verdanken wir dem Franzosen‹, denkt von Dassel. Immer, wenn es irgendwelche Schwierigkeiten gibt, denkt er seit ein, zwei Jahren: ›Das alles verdanken wir dem Franzosen‹. Tatsache ist, dass er den Leuten die Köpfe verdreht. In die deutschen Amtsstuben schlägt eine Siegesmeldung nach der anderen ein wie beim Blitzgewitter. Manche halten es eher für Eingeständnisse von Niederlagen, je nach Blickwinkel. Bayern hat das südliche Tirol an Italien, das zu Frankreich gehört, abgetreten. Mit dem Großherzogtum Würzburg und dem Königreich Württemberg gab es einen Gebietstausch. Im Gegenzug sind für das Fürstentum Bayreuth, das Frankreich dem Königreich Bayern überlässt, fünfzehn Millionen Franc an, wie soll man sagen, Gebühren in Napoleons Taschen geflossen. Der Anführer des Tiroler Bauernaufstandes, ein gewisser Hofer, Andreas, im Zivilberuf Wirt und Viehhändler, ist von einem Judas aus den eigenen Reihen für tausendfünfhundert Gulden verraten, von den Franzosen geschnappt und füsiliert worden. Nachdem der Bruder des Kaisers, Louis, als König von Holland abgedankt ist, hat Bonaparte das Königreich aufgelöst und die Niederlande annektiert. Schweden hat er unter Druck gesetzt, weil es nicht in der Lage oder nicht Willens war, das Handelsembargo gegen Großbritannien durchzusetzen. Vor einem Monat stellte er es vor die Alternative, entweder den Briten den Krieg zu erklären, oder seinerseits von Frankreich samt all seiner Verbündeten mit Krieg überzogen zu werden. Vor zwei Wochen hat sich Napoleon per Dekret einen Haufen Herzogtümer im Norden Deutschlands einverleibt. Und so weiter und so fort ... Der Mann scheint nicht aufzuhalten. Dabei verursacht der Korse ein enormes Wetterleuchten am Himmel der Justiz, dem der Baron von Dassel mehr als skeptisch gegenüber steht. Falls sich nämlich in den deutschen Besatzungsgebieten Napoleons »Code pénal impérial« durchsetzt, sein »Peinliches und Polizey Strafgesetzbuch«, ein Werkzeug übelster Einschüchterung, wird man sich auch an den hiesigen Gerichten auf eine verschärfte Anwendung der Folter einstellen müssen und ihm wird nichts anderes übrig bleiben, als zu lernen, wie man das Halseisen handhabt, Brandmarken setzt und Körper verstümmelt. Das muss er nicht haben, wirklich nicht. Aber vielleicht hülfe es gegen die frechen »Woher-soll-ich-das-wissen?« der unteren Chargen.

Draußen gibt es einen kurzen Tumult, bevor es erneut an der Bureautür klopft. Der Gerichtsdiener Heldt steckt seinen Kopf durch den Spalt und kündigt den Zeugen an, den Wächter vom Holzplatz, einen gewissen Unruh. Der Stadtgerichtsdirektor sagt »Apropos Holz« und beschwert sich bei Heldt, weil er die Öfen so toll eingeheizt habe, dass es ihm den Schweiß austreibe. Heldt, der bei der Einschätzung der Wetterlage mit seinem Vorgesetzten nicht sonderlich konform geht, versteht nicht, worum es dem Herrn Baron geht, weswegen sich von Dassel nach einer halben Minute verständnislosen Schweigens gehalten sieht, den Zeugen hereinzuwinken und den Gerichtsdiener zu entlassen, noch bevor dieser den heiligen Boden seines Bureaus betreten hat. Der Holzplatzwächter ist ein vierschrötiger Kerl, der mit seinem Kreuz beinahe den Türrahmen ausfüllt. Von Dassel bietet ihm den Stuhl vor seinem riesigen Klotz von Schreibtisch an und betet zu Gott, dass das teure Sitzmöbel hält.

»Verbindlichsten Dank, Euer Hochwohlgeboren!«, sagt Unruh, während er sich vorsichtig setzt und eingeschüchtert das Interieur des Raums mustert. »Kirschbaum, nicht wahr?«

Der Stadtgerichtsdirektor geht auf Unruhs Annäherungsversuch nicht ein. Er findet den Widerspruch zwischen der Statur des Zeugen und dessen Verhalten grotesk. Im Grunde müsste es ihn freuen, wenn sich seine Gäste vor dem Gerichtsschreibtisch in willenlose Wesen verwandeln, die wie Schilfrohre in dem Wind, der ihnen unvermittelt entgegenweht, kraftlos einher schwanken. In Wirklichkeit bereitet es ihm Sorge. Er weiß, dass genau wegen dieser Bänglichkeit und Vorsicht selten Verlass auf eine Aussage ist.

»Sie konzedieren«, beginnt er seine Befragung, »dass Ihnen gestern Abend von dem Platz, den Sie zu bewachen haben, Prügel gestohlen worden seien.«

»Bitte, Euer Hochwohlgeboren, was bedeutet ›konzedieren‹?«, fragt der Holzplatzwächter verzagt.

Dem Stadtgerichtsdirektor sträuben sich die Nackenhaare. Da warten zu Hause Weib und Karpfen auf ihn, und im Amt reden alle aneinander vorbei.

»Ob Ihnen gestern Abend vom Holzplatz Prügel gestohlen worden sind, will ich wissen«, insistiert er.

Der Holzplatzwächter bekommt es mit der Angst zu tun. Er gesteht:

»Schon möglich. Ich habe ein bisschen weiter weg gestanden, nahe bei der Brücke. Der Fuhrmann Schürer war bei mir.«

»Aha. Der Schürer«, fährt der Stadtgerichtsdirektor dazwischen. »Hatte er da schon die Waffe bei sich?«

»Welche Waffe?»

»Den Prügel. Die Klapper.«

»Aber er doch nicht!«, sagt der Holzplatzwächter. »So gegen zehn Uhr in der Nacht sind auf einmal sechs oder sieben Burschen an uns vorbei in Richtung Neues Tor gerannt. Sie waren wohl durchs Judentor gekommen. Die meisten hielten Klappern in den Händen. Woher sollte ich wissen, dass die von meinem Holzplatz stammen?«

Er hofft wahrhaftig, der Baron könne sich in die Situation vom gestrigen Abend versetzen.

»Haben Sie jemanden erkannt?«, fragt von Dassel.

Der Holzplatzwächter hebt die Schultern.

»Tut mir leid.«

»Wirklich? Können Sie wenigstens die Kleidung beschreiben?«

»Man trug Uniformen.«

»Auch das noch. Was für welche?«

»Bedaure.«

Der Stadtgerichtsdirektor ist sprachlos.

»Ja, kennen Sie denn die Uniformen nicht?«

»Nö«, beichtet der Holzplatzwächter gesenkten Blicks.

»Unglaublich!«, wettert der Stadtgerichtsdirektor los. »Ich denke, Sie sind Wächter?«

»Vor allem bin ich Zivilist«, wagt der Holzplatzwächter einzuwenden, was ihm offensichtlich viel Mut abverlangt. »Stockfinster war’s außerdem. Ich weiß nicht, ob Sie um diese Jahreszeitschon mal um zehn am Abend draußen am Holzplatz waren ...«

»Das tut hier nichts zur Sache!« wehrt der Stadtgerichtsdirektor brüsk ab. »Ist Ihnen wenigstens ein Dialekt aufgefallen oder eine befremdliche Stimme?«

Der Holzplatzwächter bedauert ein zweites Mal.

»Man hat nichts gesprochen. Keine Silbe. Totenstille.«

»Nichts gehört, nichts gesehen«, resümiert der Stadtgerichtsdirektor. »Ein bisschen wenig, oder was finden Sie? Natürlich werde ich diesen Fuhrmann Schürer fragen, ob Sie wirklich mit ihm zusammen gewesen sind gestern Abend und ob er den Prügel von Ihnen hat.«

»Aber ich sage Ihnen doch: Hat er nicht!«, sagt Unruh gequält.

»Dann ist er ihm wohl zugeflogen wie ein Vögelchen, dieser Prügel vom Holzplatz?«, fragt der Stadtgerichtsdirektor höhnisch.

Der Holzplatzwächter unternimmt einen letzten Rettungsversuch.

»Schürer ist, aus welchen Gründen auch immer, den Burschen hinterher auf Antilopenfüßen. Vielleicht hat er den Prügel einem von den Burschen abgeknöpft.«

Der Stadtgerichtsdirektor mustert sein Gegenüber wie ein Vexierbild, das er entschlüsseln will. Dann notiert er in seinen Block: ».... den Burschen hinterher«.

»Die Antilopenfüße lasse ich weg«, sagt er launig und entlässt den Zeugen.

Kaum hat Unruh den Raum verlassen, bedient sich von Dassel der Handglocke, die griffbereit auf seinem Schreibtisch steht, und ruft nach dem Gerichtsdiener Heldt. Der erscheint geneigten Nackens und traut sich diesmal sogar bis in die Mitte des Bureaus vor.

»Bestellen Sie mir den Kriminalsekretär Bartolini her!«

»Gleich?«, vergewissert sich Heldt.

»Nein, Ostern«, wettert der Stadtgerichtsdirektor. »Was ist das für eine Frage?!«

Der Gerichtsdiener gerät ins Stottern.

»Ich meine nur ... Es verhält sich nämlich so: Der Herr Bartolini ist momentan nicht ganz gegenwärtig.«

»Wie habe ich das zu verstehen?«

»Er befindet sich auf der Jagd.«

»Nach Verbrechern, hoffe ich.«

»Nach Schneehühnern., mit Verlaub.«

Der Stadtgerichtsdirektor traut seinen Ohren nicht.

»Ich hoffe, ich habe mich verhört!«

»Keine Ahnung. Was haben Sie denn gehört?«

Dem Stadtgerichtsdirektor bleibt schier die Spucke weg. Der nun auch noch! Ein Pfuhl der Unbotmäßigkeit unter den Subalternen.

»Ich habe ›Schneehühner‹ verstanden«, klärt von Dassel den Gerichtsdiener auf.

»Dann stimmt’s doch«, sagt der. »Herr Bartolini hat die Erlaubnis, sich wegen dringender Geschäfte entfernen zu dürfen«, sagt der Gerichtsdiener.

›Das passt ins Bild‹, denkt der Stadtgerichtsdirektor. Ohnehin ist ihm dieser Mensch suspekt, alleine schon deswegen, weil er lederne Beinkleider und Stiefel mit gelben Stulpen trägt. Manchmal erscheint er zum Dienst mit Jabots aus Batist, darüber hat er dann meist einen eng anliegenden, blauen Spencer gezogen. Er hat den Kriminalsekretär sogar im Verdacht, Korsetts zu tragen. Man sollte nicht glauben, dass ein solcher Geck zu mehr fähig sei, als zum Blumengießen.

»Meine Beamten beziehen ein Salär, das jedem Stadtrichter zur Ehre gereicht«, räsoniert von Dassel, »sie haben Freiplätze im Theater und dürfen gratis mit der Postkutsche fahren, und zum Dank gehen sie, statt ihren Pflichten nachzukommen, Schneehühner jagen.«

»Nicht ausschließlich«, wendet der Gerichtsdiener ein, womit er zweifellos Recht hat. »Außerdem ist Heiligabend.«

»Wen interessiert das?«, tobt der Stadtgerichtsdirektor. »Treiben Sie den Herrn auf und biegen Sie ihm bei, dass er die Untersuchung des Vorfalls um den Gardisten Berger übernehmen soll, und zwar ein bisschen plötzlich!«

Unbeschadet dessen will sich von Dassel einen Teil der Beteiligten selbst vorknöpfen, um die Sache zu beschleunigen.

»Bartolini soll die erforderlichen Notifikationen weiterreichen«, ruft er dem Gerichtsdiener, der bereits im Abmarsch ist, hinterher, »sowohl an die Regimenter, von denen Soldaten involviert sind, als an das Kommando der Leibgarde!«

Der Gerichtsdiener hat keine Mühe, den Kriminalsekretär aufzutreiben. Er weiß, dass er ihn nach der Jagd regelmäßig im »Zwipfischen Bierhaus« findet, einem der Tatorto von gestern. Tatsächlich sitzt der junge Spund dort mit dem altgedienten Aktuar Trettau zusammen, einem begnadeten Protokollanten und dienstbaren Geist der Gerichte, der vom vielen Dokumentenstudium einen krummen Rücken und schwache Augen bekommen hat. Nachdem er Bartolini zum Baron geschickt hat, gesellt sich Heldt zu seinem Collega an den Stammtisch, stopft sich seine Porzellanpfeife, ein schönes Stück mit schlankem, hohem Kopf und Silbermontur, bestellt einen Humpen und schüttet sein Herz aus, aber weniger, um es zu erleichtern, als mehr, um in Erfahrung zu bringen, warum der Stadtgerichtsdirektor in jüngster Zeit so auffällig unausgeglichen ist und so dienstbeflissen, dass er sogar am Heiligen Abend im Bureau herumsitzt.

»Seit Serenissimus das Polizeipräsidium eingerichtet haben, will von Dassel sein Präsident werden«, erwidert Trettau. »Immerhin ist er jetzt auch schon um die fünfzig. Ein alter Mann. Ihm bleibt nicht mehr viel.«

Der Gerichtsdiener ist überrascht.

»Wenn ich mich nicht irre, gibt es bereits einen Polizeipräsidenten«, sagt er.

»In der Tat«, sagt der Aktuar. »Aber der hat sich gründlich in die Nesseln gesetzt. Er glaubte, sich mit ein paar hohen Herrschaften anlegen zu müssen, weil er seine Mannschaft der Zuständigkeit des Criminal=Gerichts entziehen wollte. Das darf er aber nicht. Das Landrecht verbietet es. Jetzt geht das Gerücht, er solle nach oben weggelobt und Geheimer Staatsrat werden. In diesem Fall würde sein Posten frei. Davon hat der Baron Wind bekommen.«

»Ein Hoch auf Recht und Gerechtigkeit!«, sagt der Gerichtsdiener Heldt salbungsvoll, erhebt seinen Humpen Bieres und stößt mit dem Aktuar an.


Baron von Dassel ermittelt — Unrühmlicher Tod eines Gardisten

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