Читать книгу Söhne und Liebhaber (Band 1&2) - D. H. Lawrence - Страница 6

Drittes Kapitel.
Morel abgeschüttelt – William ans Herz geschlossen

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Inhaltsverzeichnis

Während der nächsten Woche war Morels Stimmung beinahe unerträglich. Wie alle Bergleute liebte er Arzneien sehr, für die er seltsamerweise häufig selbst bezahlte.

»Mußt mich 'n Droppen Viterjollösung holen,« sagte er; »putzig, det wer nie'n Droppen in'n Hause haben können.«

Also kaufte Frau Morel ihm Vitriollösung, seine besonders bevorzugte Arznei. Und er selbst machte sich einen Krug Wermuttee zurecht. Auf dem Boden hatte er große Bündel getrocknete Kräuter hängen: Wermut, Raute, Andorn, Erlenblüten, Petersilienwurzel, Eibisch, Ysop, Löwenzahn, Tausendgüldenkraut. Gewöhnlich stand ein Krug mit einer oder der andern Abkochung auf dem Fender, aus dem er gehörig trank.

»Jroßartig!« sagte er und schmatzte mit den Lippen nach einem Wermut. »Jroßartig!« Und er ermahnte die Kinder, auch mal zu versuchen.

»Det schmeckt ville besser als irjend so'n Tee oder Kakao,« behauptete er. Aber sie ließen sich nicht in Versuchung führen. Diesmal aber konnten weder Pillen noch Vitriol noch alle seine Kräuter die häßlichen Schmerzen vertreiben. Er erkrankte an einem Anfall von Gehirnentzündung. Er war nie recht wohl gewesen, seit er auf seinem Gang nach Nottingham mit Jerry auf der Erde geschlafen hatte. Von der Zeit an hatte er getrunken und getobt. Nun wurde er ernstlich krank, und Frau Morel hatte ihn zu pflegen. Er war einer der schlimmsten Kranken, die man sich vorstellen kann. Aber trotz allem, und ganz abgesehen davon, daß er der Brotbeschaffer war, wünschte sie nie ernstlich, er möge sterben. Ein Teil ihrer selbst wünschte ihn immer noch für sich zu erhalten.

Die Nachbarn waren sehr gut gegen sie: ein paar holten gelegentlich die Kinder zum Essen herum, andere nahmen ihr mal die Hausarbeit ab, eine wartete mal einen Tag lang den Kleinen. Aber trotz alledem war es doch eine mächtige Anstrengung. Nicht alle Tage halfen die Nachbarn ihr. Dann mußte sie den Kleinen und den Mann warten, waschen und kochen, die gesamte Arbeit tun. Sie kam sehr herunter, aber sie machte alles, was von ihr verlangt wurde.

Und das Geld reichte grade aus. Sie hatte siebzehn Schilling von ihren Vereinen, und jeden Freitag legten Barker und sein anderer Kumpel einen Teil vom Gewinn des Stollens für Morels Frau beiseite. Und die Nachbarn machten ihr Brühe, brachten ihr Eier und ähnliche Krankenkost. Hätten sie ihr in diesen Zeiten nicht so freigebig beigestanden, Frau Morel wäre nie durchgekommen, ohne Schulden zu machen, die sie gänzlich zu Boden gerissen hätten.

Die Wochen liefen hin. Fast gegen alle Erwartung wurde Morel besser. Er hatte eine starke Körperbeschaffenheit, so daß er, erst nur einmal auf dem Wege der Besserung, auch noch der Gesundung entgegenschritt. Bald pütjerte er wieder unten herum. Während seiner Krankheit hatte seine Frau ihn etwas verzogen. Nun sollte sie damit fortfahren. Oft legte er die Hand an den Kopf, zog die Mundwinkel herunter und schützte Schmerzen vor, die er gar nicht hatte. Aber er konnte sie nicht betrügen. Zuerst lächelte sie bei sich. Dann schalt sie ihn scharf aus.

»Liebe Güte, Mann, sei doch nicht so 'n Tränentier.«

Das verwunderte ihn etwas, aber er fuhr fort, den Kranken zu spielen.

»Ich möchte doch nicht so 'n Heulbalg sein,« sagte seine Frau kurz.

Dann ärgerte er sich und fluchte leise vor sich hin, wie ein Junge. Er sah sich gezwungen, seinen richtigen Tonfall wieder aufzunehmen und mit seinem Heulen aufzuhören.

Bei alledem herrschte eine Zeitlang Frieden im Hause. Frau Morel war nachsichtiger gegen ihn, und er war von ihr fast wie ein Kind abhängig, gradezu glücklich. Keiner von beiden wußte, daß sie nachsichtiger gegen ihn war, weil sie ihn nicht mehr so lieb hatte. Bis jetzt war er doch trotz allem ihr Gatte und Mann gewesen; sie hatte gefühlt, daß, mehr oder weniger, was er sich selbst antäte, er auch ihr antat. Nun, mit der Geburt des dritten Kindes, wandte sich ihr Ich in seiner Hilflosigkeit nicht länger ihm wieder zu, sondern war wie eine kaum sich erhebende Flutwelle, sie lief wieder ab von ihm. Jetzt sehnte sie sich kaum mehr nach ihm. Und indem sie sich ihm ferner hielt, ihn nicht mehr so sehr als Teil ihrer selbst empfand, sondern mehr als Bestandteil ihrer Umgebung, da machte sie sich nicht länger so viel aus dem, was er tat, konnte ihn mehr sich selbst überlassen.

Es war die Stille, das Vorausdenken an das Ende des Jahres, das wie der Herbst im Menschenleben ist. Seine Frau schüttelte ihn ab, halb bedauernd, aber unnachgiebig; schüttelte ihn ab und wandte sich um Liebe und Leben den Kindern zu. Von nun an wurde er mehr oder weniger eine leere Schale. Und halb gab er sich damit zufrieden, wie so viele Männer, wenn sie ihren Platz den Kindern einräumen.

Während seiner Erholungszeit, als tatsächlich bereits alles zwischen ihnen aus war, strengten sie sich beide an, um in gewisser Weise wieder zu den alten Beziehungen der ersten Monate ihrer Ehe zu kommen. Er saß zu Hause, und wenn die Kinder zu Bett waren und sie saß und nähte – sie machte ihre ganze Näharbeit mit der Hand, nähte alle Hemden und alles Kinderzeug –, dann pflegte er ihr aus der Zeitung vorzulesen, mit langsamer Aussprache und die Worte hervorbringend, wie ein Mann, der Scheiben wirft. Zuweilen trieb sie ihn vorwärts und legte ihm einen Satz in den Mund. Und dann nahm er ihre Worte demütig hin.

Die Pausen zwischen ihnen waren merkwürdig. Da war das rasche, leichte ›Kluck‹ ihrer Nadel, das scharfe ›Pop‹ seiner Lippen, wenn er den Rauch ausstieß, die Wärme, das Zischen an den Eisenstangen, wenn er ins Feuer spuckte. Dann wandten ihre Gedanken sich William zu. Der wurde bereits ein großer Junge. Er war schon der Erste in der Klasse, und der Lehrer sagte, er wäre der schlauste Junge der ganzen Schule. Sie sah ihn als Mann, jung, voller Lebenskraft, die Welt für sie zum Glühen bringend.

Und da saß Morel, ganz allein, und weil er an nichts zu denken hatte, in einem Gefühl unbestimmten Unbehagens. Seine Seele mußte auf ihre blinde Weise nach ihr fasten und merken, daß sie fort war. Er empfand eine Art Leere, fast eine Luftleere in seiner Seele. Er war unsicher und rastlos. Bald konnte er in dieser Luft nicht länger leben und sehnte sich nach seiner Gattin. Beide fühlten sie einen Druck beim Atmen, wenn sie so eine Zeitlang allein blieben. Dann ging er zu Bett, und sie ließ sich nieder, um sich allein an ihrer Arbeit, ihren Gedanken, ihrem Leben zu erfreuen.

Inzwischen kam ein neues Kind, die Frucht dieser kurzen Spanne Friedens und Zärtlichkeit zwischen den beiden sich trennenden Gatten. Paul war siebzehn Monate alt, als dies neue Kleine geboren wurde. Er war damals ein dickes, blasses Kind, ruhig, mit schweren, blauen Augen, und immer noch dem sonderbaren leichten Runzeln seiner Stirne. Das letzte Kind war auch ein Junge, hübsch und hell. Frau Morel tat es leid, als sie merkte, sie habe wieder ein Kind, sowohl aus wirtschaftlichen Gründen, als weil sie ihren Gatten nicht länger liebte; aber nicht des Kindes wegen.

Sie nannten den Kleinen Arthur. Er war sehr niedlich, mit einem Schopf goldener Haare, und liebte seinen Vater von Anfang an. Frau Morel war froh, daß dies Kind seinen Vater liebte. Sobald er den Schritt des Bergmanns hörte, streckte der Kleine die Arme aus und begann zu krähen. Und wenn Morel guter Stimmung war, rief er sofort zurück, in seiner frischen, weichen Stimme:

»Wat denn, mein Schönster? Jleich komm ick zu dich.«

Und sowie er seinen Grubenrock aus hatte, pflegte Frau Morel immer eine Schürze um das Kind zu schlagen und es seinem Vater zu geben.

»Wie der Junge wieder aussieht!« konnte sie zuweilen sagen, wenn sie den Kleinen wieder zu sich nahm, der sich das Gesicht bei seines Vaters Küssen und Scherzen eingeschmiert hatte. Dann lachte Morel vergnügt.

»En richtiger kleener Bergmann, Jott segne seine kleenen Hammelbeene!« rief er aus.

Und dies waren nun Augenblicke des Glücks in ihrem Leben, wenn die Kinder in ihrem Herzen den Vater mit einschlossen.

Mittlerweile wurde William immer größer und stärker und tätiger, während Paul, eher zart und ruhig, immer dünner wurde und hinter seiner Mutter wie ihr Schatten hertrottete. Für gewöhnlich war er in Bewegung und nahm an allem teil, zuweilen hatte er aber auch Schauer von Niedergeschlagenheit. Dann konnte die Mutter den drei- oder vierjährigen Jungen weinend auf dem Sofa finden.

»Was ist los?« fragte sie und bekam keine Antwort.

»Was ist los?« fragte sie dringender und wurde ärgerlich.

»Ich weiß nicht,« seufzte das Kind.

Dann versuchte sie ihm das verstandesmäßig auszureden oder ihn zu unterhalten, aber ohne Erfolg. Dann geriet sie ganz außer sich. Der Vater, immer ungeduldig, pflegte dann aus seinem Stuhle aufzuspringen und zu rufen: »Wenn er nu nich aufhört, hau ich ihn, bis ers aufjiebt.«

»Das wirst du wohl nicht tun,« sagte die Mutter kalt. Und dann nahm sie das Kind mit auf den Hof, ließ es dort in seinen kleinen Stuhl fallen und sagte: »Da heul, du Jammerlappen!«

Und dann fesselte schließlich ein Schmetterling auf den Rhabarberblättern sein Auge, oder er heulte sich am Ende in Schlaf. Diese Anfälle kamen nicht häufig, aber sie warfen einen Schatten über Frau Morels Herz, und sie behandelte Paul anders als die übrigen Kinder.

Eines Morgens, als sie den Gang im ›Grunde‹ nach dem Hefemann hinuntersah, hörte sie plötzlich, wie eine Stimme sie anrief. Es war die dünne, kleine Frau Anthony im braunen Samt.

»Hier, Frau Morel, ich muß Ihnen was erzählen von Ihrem Willie.«

»Oh, so dringend?« erwiderte Frau Morel. »Wieso, was ist denn los?«

»En Junge, der 'nen andern zu packen kriegt und ihm die Sachen von'n Leibe reißt,« sagte Frau Anthony, »dem muß mans mal zeigen.«

»Ihr Alfred ist doch grade so alt wie mein William,« sagte Frau Morel.

»Mag wohl sein, aber det jiebt ihm doch noch kein Recht, ihn an'n Kragen zu packen und 'n ihn jlatt abzureißen.«

»Ja,« sagte Frau Morel, »ich haue meine Kinder nicht, und selbst wenn ich es täte, möchte ich doch erst mal ihre Ansicht der Sache auch hören.«

»Sie würden sicher etwas besser werden, wenn sie mal eine ordentliche Tracht kriegten,« entgegnete Frau Anthony. »Wenn et so weit kommt, det se den andern den Kragen mutwillig von'n Halse reißen ,...«

»Mutwillig hat er das sicher nicht getan,« sagte Frau Morel.

»Sagen Se ooch noch, ich lüje!« rief Frau Anthony.

Frau Morel ging weg und schloß ihr Gitter. Ihre Hand mit dem Hefekrug zitterte.

»Ick wers aber Ihrem Meester erzählen,« rief Frau Anthony hinter ihr her.

Beim Essen, als William seinen Teller fertig hatte und wieder nach draußen wollte – er war damals elf Jahre alt –, sagte seine Mutter: »Warum mußtest du denn Alfred Anthonys Kragen zerreißen?«

»Wann hab ich den zerrissen?«

»Wann, weiß ich nicht; seine Mutter sagt aber, du hättest es getan.«

»Ja wieso, gestern war es – un er war ja schon kaputt.«

»Aber du hast ihn noch mehr zerrissen.«

»Ja, aber ich hatte doch 'n Piekser, der schon siebzehn gewonnen hatte – un Alfi An't'ny sagte:

›Adam un Eva un Kniep-mi

Gingen zum Fluß ins Bad,

Adam un Eva ertranken,

Wer woll gerettet wa'd?‹

Un denn sag ich: ›Oh, Kniep-di‹, und da kniff ich ihn, und er wurde so wütend, un er nahm meinen Piekser un lief damit weg. Un da lief ich hinter ihm her, un als ich ihn zu fassen kriegte, bog er aus, un da riß sein Kragen ab. Aber meinen Piekser hab ich wieder ,...«

Er zog eine alte schwarze Roßkastanie an einem Bindfaden aus der Tasche. Dieser alte Piekser hatte siebzehn andere an ähnlichen Bindfäden ›gepiekst‹ – getroffen und zerschmettert. Daher war der Junge so stolz auf seinen Altbewährten.

»Ja,« sagte Frau Morel, »du weißt aber doch, du darfst ihm nicht den Kragen abreißen.«

»Ja, Mutter!« antwortete er. »Das wollt ich ja auch gar nich – un es war ja bloß so'n alter Gummikragen, un schon kaputt.«

»Ein anderes Mal«, sagte seine Mutter, »bist du vorsichtiger. Ich möchte es auch nicht, wenn du mit zerrissenem Kragen nach Hause kämst.«

»Das ist mir einerlei, Mutter; ich hab es ja auch nicht mit Willen getan.«

Dem Jungen war ganz jämmerlich zumute wegen dieses Tadels.

»Nein – schön, dann sei nun vorsichtiger.«

William flog von dannen, froh darüber, freigesprochen zu sein. Und Frau Morel, die alle Schwierigkeiten mit ihren Nachbarn haßte, nahm sich vor, sie wollte Frau Anthony die Sache erklären, und dann würde sie beigelegt sein.

Aber abends sah Morel bei seiner Rückkehr aus der Grube sehr sauer aus. Er stand in der Küche und sah sich rund um, sagte aber ein paar Minuten lang nichts. Dann fragte er: »Wo's der Willy?«

»Was willst du denn von dem?« fragte Frau Morel, die das schon ahnte.

»Det werr ick ihm schonst wissen lassen, wenn ick'n habe,« sagte Morel und haute seine Blechflasche auf die Anrichte.

»Ich glaube, Frau Anthony hat dich wohl zu fassen gekriegt und hat dir was über Alfreds Kragen vorgejault,« sagte Frau Morel ziemlich spöttisch.

»Kümmer du dich nich drum, wer mich zu fassen jekriegt hat,« sagte Morel. »Wenn ick ihn zu fassen krieje, sollen ihm die Knochen klappern.«

»Jämmerlich,« sagte Frau Morel, »daß du sofort dich mit jedem hinterlistigen alten Fuchs einläßt, der dir was über deine eigenen Kinder vorerzählt.«

»Ick werr ihm schon lernen,« sagte Morel. »Wen sein Junge er is, jeht mir nischt an; aber er soll nich man so alles zerreißen un zerfetzen, wie's ihm jrade Spaß macht.«

»Zerreißen und zerfetzen!« wiederholte Frau Morel. »Er ist hinter Alfi hergewesen, der ihm seinen Piekser weggenommen hatte, und hat ihn unglücklicherweise beim Kragen zu fassen gekriegt, weil der ausbog – wie so'n richtiger Anthony.«

»Weiß ich!« schrie Morel drohend.

»Natürlich, ehe man es dir erzählt,« erwiderte seine Frau beißend.

»Da kümmer du dich man nich drum,« wütete Morel. »Ick weeß all, wat ick zu tun habe.«

»Das ist mir mehr als zweifelhaft,« sagte Frau Morel; »wenn man bedenkt, daß so'n großschnauziges Wesen dich dazu kriegen kann, deine eigenen Kinder zu schlagen.«

»Ick weeß all,« wiederholte Morel.

Und er sagte nichts weiter, sondern saß da und fraß seinen Grimm in sich hinein. Plötzlich flog William herein und rief: »Kann ich meinen Tee kriegen, Mutter?«

»Du kannst ooch noch mehr kriejen,« brüllte Morel.

»Mach nicht so 'nen Lärm, Mann,« sagte Frau Morel; »und mach nicht so'n lächerliches Gesicht.«

»Er soll 'n lächerliches Gesicht machen, ehe ick mit'n fertig bin,« brüllte Morel aufstehend und seinen Sohn anstarrend.

William, der für seine Jahre ein sehr großer Junge war, aber sehr empfindlich, war blaß geworden und blickte ganz erschreckt auf seinen Vater.

»Geh hinaus!« befahl Frau Morel ihrem Sohn.

William besaß nicht Besinnung genug, sich vom Flecke zu rühren. Plötzlich ballte Morel die Faust und kauerte sich zusammen.

»Ick werr ihn schon hinausjehn machen,« brüllte er wie ein Irrsinniger.

»Was!« schrie Frau Morel keuchend vor Wut. »Du sollst ihn nicht anrühren wegen der ihren Geschichten, nein!«

»Soll ick nich?« brüllte Morell. »Soll ick nich?«

Und mit einem Wutblick auf den Jungen sauste er auf ihn zu. Frau Morel sprang mit erhobener Faust zwischen sie.

»Daß du's nicht wagst!« schrie sie.

»Wat?« brüllte er, für den Augenblick ganz verdutzt. »Wat?«

Sie drehte sich nach dem Jungen um.

»Mach, daß du rauskommst!« herrschte sie ihn wütend an.

Der Junge, wie von ihr bezaubert, drehte sich um und war weg. Morel flog zur Tür, kam aber zu spät. Er wandte sich um, blaß vor Wut unter seinem Grubenschmutz. Aber nun war seine Frau auf der Höhe.

»Wag es nur!« sagte sie mit lauter, schallender Stimme; »wag es nur, Herr Graf, und leg einen Finger an den Jungen! Ewig sollte dir das leid tun.«

Ihm war bange vor ihr. In höchster Wut setzte er sich nieder.

* * *

Als die Kinder alt genug waren, sich selbst überlassen zu bleiben, trat Frau Morel in die Frauengilde ein. Es war das ein kleiner Verein, der ›Allgemeinen Gegenseitigen Genossenschaft‹ eingegliedert, der sich Montagabends in dem langen Raum über dem Kramladen der Bestwood ›A-Ge-Ge‹ traf. Es hieß, die Frauen unterhielten sich hier über die ihnen aus dem Genossenschaftswesen zufließenden Vorteile und andere gesellschaftliche Fragen. Zuweilen las Frau Morel mal einen Aufsatz vor. Es war den Kindern ganz merkwürdig, wenn sie ihre Mutter, die immer so geschäftig im Hause war, dasitzen und in ihrer raschen Weise schreiben sahen, nachdenken, in Büchern nachschlagen und dann wieder weiterschreiben. Bei solchen Gelegenheiten fühlten sie tiefste Hochachtung vor ihr.

Aber die Gilde liebten sie. Sie war das einzige, dem sie ihre Mutter nicht neideten – und das teils, weil sie ihre Freude dran fand, teils wegen der Bewirtungen, die sie dort erhielten. Von ein paar feindseligen Ehemännern, denen ihre Frauen zu unabhängig wurden, war die Gilde der Klatsch-Pup-Laden genannt worden – d. h. der Klatschladen. Es war richtig, von der Grundlage der Gilde aus konnten die Frauen einen Überblick über ihr Heim gewinnen, über ihre Lebensbedingungen, und was daran auszusetzen war. Daher fanden die Bergleute, ihre Frauen gewännen dort eigene Lebensanschauungen, und zwar ziemlich wirre. Auch hatte Frau Morel Montagabends immer einen Haufen Neuigkeiten, so daß die Kinder es gern sahen, wenn William dann zu Hause war, weil sie ihm immer davon erzählte. Als der Junge dann dreizehn war, erhielt sie eine Stellung für ihn in der ›A-Ge-Ge‹-Schreibstube. Er war ein sehr kluger Junge, offen, mit ziemlich rohen Zügen und echten blauen Wikingsaugen.

»Wat, willst de so'n Schemelhocker aus'n machen?« sagte Morel. »Alles, wat er fertig bringt, is doch, det er sich de Hosen hinten durchscheuert un nischt davor kriejt. Wat kriejt er denn für den Anfang?«

»Das ist ja ganz einerlei, was er für den Anfang kriegt,« sagte Frau Morel.

»Janz un jar nich. Steck ihn mit mich in de Jrube, un er kann leichte zehn Schilling de Woche machen von Anfang an. Aber sechs Schilling un sich det Hinterviertel abtragen auf 'nen Schemel is natürlich besser, als mit mich in de Jrube jehn, det weeß ick woll.«

»In die Grube geht er nicht, und das ist das Ende vom Lied,« sagte Frau Morel.

»For mich war't jut jenug, aber for ihn is et det natierlich nich.«

»Wenn deine Mutter dich mit zwölf in die Grube steckte, dann ist das kein Grund, daß ich das mit meinem Jungen auch tun sollte.«

»Zwölfe! ville früher war et.«

»Und wenns das auch war,« sagte Frau Morel.

Sie war sehr stolz auf ihren Jungen. Er ging zur Abendschule und lernte Kurzschrift, so daß er zur Zeit, als er sechzehn war, der beste Kurzschriftschreiber und Buchhalter am Platze war außer einem anderen. Dann gab er Unterricht in der Abendschule. Aber er war so feurig, daß nur seine Gutmütigkeit und seine Größe ihn schützten.

William tat alles, was Männer tun – alles Anständige. Er konnte rennen wie der Wind. Als er zwölf war, gewann er in einem Wettrennen den ersten Preis – ein gläsernes Tintenfaß, wie ein Amboß geformt. Es stand stolz auf der Anrichte und machte Frau Morel viel Vergnügen. Der Junge lief nur ihr zuliebe. Atemlos flog er mit seinem Amboß nach Hause, mit einem »Sieh, Mutter!« Das war der erste, ihr wirklich entrichtete Zoll. Sie nahm ihn hin, stolz wie eine Königin. »Wie hübsch!« rief sie aus.

Dann fing er an ehrgeizig zu werden. All sein Geld gab er seiner Mutter. Als er vierzehn Schilling die Woche verdiente, gab sie ihm zwei für sich selber, und da er niemals trank, kam er sich reich vor. Er verkehrte mit den Bürgern von Bestwood. Das Städtchen besaß keinen Höheren als den Geistlichen. Dann kam der Bankleiter, dann die Ärzte, dann die Kaufleute und hierauf die Scharen der Bergleute. William begann sich mit den Söhnen des Apothekers, des Lehrers und der Kaufleute abzugeben. Er spielte Billard in der Maschinistenhalle. Er tanzte auch – allerdings gegen den Willen seiner Mutter. Er genoß alles Leben, das Bestwood zu bieten hatte, von den Fünfgroschenhopsern unten in der Kirchstraße bis zu Leibesübungen und Billard.

Paul wurde mit flammenden Schilderungen aller möglichen blütengleichen Damen unterhalten, von denen die meisten kurze vierzehn Tage wie abgeschnittene Blumen in Williams Herzen fortlebten.

Zuweilen kam auch mal eine seiner Flammen auf der Suche nach ihrem fahrenden Ritter. Frau Morel fand dann ein unbekanntes Mädchen auf der Schwelle an der Tür und roch sogleich, woher der Wind wehte.

»Ist Herr Morel zu Hause?« fragte das Dämchen dann bittend.

»Mein Mann ist zu Hause,« erwiderte Frau Morel.

»Ich – ich meine den jungen Herrn Morel,« wiederholte die Maid dann kläglich.

»Welchen? es gibt mehrere.«

Worauf die Schöne heftig ins Erröten und Stottern geriet.

»Ich – ich habe Herrn Morel bei Ripley getroffen,« erklärte sie.

»Oh – beim Tanzen?«

»Jawohl.«

»Ich will von den Mädchen, die mein Sohn beim Tanzen trifft, nichts wissen. Und er ist nicht zu Hause.«

Dann kam er nach Hause, ärgerlich darüber, daß seine Mutter das Mädchen so grob weggeschickt hatte. Er war ein sorgloser und doch eifrig aussehender Bursche, der beim Gehen weit ausholte, zuweilen die Stirne gerunzelt, oft die Mütze vergnügt auf den Hinterkopf geschoben. Nun kam er mit gerunzelter Stirne herein. Er warf seine Mütze aufs Sofa und nahm sein starkes Kinn in die Hand, indem er auf seine Mutter niederstierte. Sie war klein, das Haar glatt aus der Stirn nach hinten gestrichen. Sie hatte etwas Ruhig-Überlegenes und doch selten Warmes. Da sie wußte, ihr Junge wäre ärgerlich, zitterte sie innerlich.

»Hat mich gestern eine Dame besuchen wollen, Mutter?« fragte er.

»Von einer Dame weiß ich nichts. Ein Mädchen war da.«

»Und warum hast du mir nichts davon gesagt?«

»Weil ichs vergessen habe, lediglich.«

Er brummte noch ein wenig.

»Ein hübsches Mädchen, mehr wie eine Dame?«

»Ich hab sie mir nicht angesehen.«

»Große braune Augen?«

»Ich hab sie mir nicht angesehen. Und sag deinen Mädchen, mein Sohn, wenn sie hinter dir herrennen, müßten sie nicht zu deiner Mutter kommen und nach dir fragen. Sag ihnen das – den frechen Geschöpfen, die du in deinen Tanzstunden triffst.«

»Ganz sicher, sie war ein nettes Mädchen.«

»Und ich bin ganz sicher, daß sie das nicht war.«

Damit endete die Auseinandersetzung. Über das Tanzen gab es einen gewaltigen Kampf zwischen Mutter und Sohn. Der Kummer erreichte seinen Höhepunkt, als William erzählte, er ginge zu einem Maskenball nach Hucknell Torkard – das für ein gewöhnliches Nest galt. Er sollte einen Hochländer vorstellen. Er konnte einen Anzug leihen, den einer seiner Freunde gehabt hatte und der ihm vollkommen paßte. Der Hochländeranzug wurde gebracht. Frau Morel nahm ihn kalt entgegen und wollte ihn nicht auspacken.

»Mein Anzug da?« rief William.

»Da liegt ein Packen vorne.«

Er stürzte hin und zerschnitt den Bindfaden.

»Wie findest du deinen Jungen dadrin?« sagte er hochentzückt und zeigte ihr den Anzug.

»Du weißt ja, ich mag dich mir gar nicht dadrin vorstellen.«

An dem Abend des Maskenballes, als er nach Hause kam, um sich umzuziehen, legte Frau Morel ihren Umhang und Hut an.

»Willst du nicht warten und mich mal ansehen, Mutter?« fragte er.

»Nein; ich mag dich nicht ansehen,« erwiderte sie.

Sie war sehr blaß und ihr Gesicht verschlossen und hart. Sie fürchtete, ihr Sohn möchte denselben Weg einschlagen wie sein Vater. Er zögerte einen Augenblick, und sein Herz stand still vor Angst. Dann fiel sein Blick auf die Hochlandsmütze mit ihren Bändern. Glücklich nahm er sie auf und vergaß seine Mutter. Sie ging aus.

Als er neunzehn war, verließ er plötzlich die ›A-Ge-Ge‹-Schreibstube und nahm eine Stellung in Nottingham an. In seiner neuen Stellung bekam er dreißig Schilling anstatt achtzehn die Woche. Das war in der Tat ein Zuwachs. Mutter und Vater liefen über vor Stolz. Jedermann pries William. Es schien, er mache rasche Fortschritte. Frau Morel hoffte, mit seiner Hilfe die jüngeren Söhne weiter bringen zu können. Annie bereitete sich nun auf die Lehrerin vor. Paul, auch sehr gescheit, kam gut in seinem französischen und deutschen Unterricht vorwärts, den er von seinem Paten, dem Geistlichen, erhielt, der immer noch mit Frau Morel befreundet war. Arthur, ein verzogener, sehr hübscher Junge, ging in die Kostschule; aber es wurde davon geredet, er versuche eine Stelle auf der Hochschule in Nottingham zu erringen.

Ein Jahr blieb William in seiner neuen Stellung in Nottingham. Er lernte hart und wurde ernst. Er schien einen Kummer zu haben. Dabei ging er aber doch zu Tanzgesellschaften und Flußfahrten. Er trank nicht. Die Kinder waren alle wilde Alkoholgegner. Er kam sehr spät des Abends nach Hause und saß dann noch lange über seinen Arbeiten. Seine Mutter flehte ihn an, vorsichtig zu sein, eins oder das andere vorzunehmen.

»Tanze, wenn du tanzen mußt, mein Junge; aber glaube nicht, du könntest im Geschäft arbeiten, und dann noch deinen Vergnügungen nachgehen und dann obendrein noch lernen. Das kannst du nicht; das hält die menschliche Kraft nicht aus. Tu eins oder das andere – vergnüge dich oder lerne Latein; aber versuche nicht beides auf einmal.«

Dann bekam er seine Stellung in London, mit einhundertundzwanzig Pfund im Jahr. Das erschien eine fabelhafte Summe. Seine Mutter wußte nicht recht, sollte sie sich freuen oder grämen.

»Montag in acht Tagen soll ich in Lime Street sein, Mutter,« rief er, seine Augen strahlend, als er den Brief las. Frau Morel fühlte, wie ihr ganzes Innere verstummte. Er las den Brief vor: ›Und wollen Sie bis Donnerstag antworten, ob Sie die Stelle annehmen. Hochachtungsvoll ,...‹ Sie wollen mich für hundertundzwanzig haben, Mutter, und wollen mich gar nicht erst mal sehen. Hab ich dir nicht gesagt, ich brächte es fertig! Denk mal, ich in London! Und dann kann ich dir zwanzig Pfund im Jahr geben, Mater. Wir wälzen uns noch alle im Golde.«

»Sicher, mein Junge,« sagte sie traurig.

Es kam ihm nie in den Sinn, daß sie sich eher gekränkt fühlte durch sein Fortgehen, als froh über seinen Erfolg. Tatsächlich zog sich mit dem Näherkommen des Tages seiner Abreise ihr Herz zusammen und wurde trostlos bis zur Verzweiflung. Sie hatte ihn so lieb. Mehr als das, sie hatte so auf ihn gehofft. Sie hatte fast ganz in ihm gelebt. Sie arbeitete so gern für ihn: es freute sie, ihm seine Teetasse hinzusetzen oder seine Kragen zu plätten, auf die er so stolz war. Ihr war es eine Freude, ihn so stolz auf seine Kragen zu sehen. Eine Wäscherei gab es nicht. So rieb sie dann immer tüchtig drauflos mit ihrem kleinen, runden Eisen und glättete sie, bis sie nur vom Drucke ihres Armes glänzten. Nun würde sie das nicht mehr für ihn tun. Nun würde er fortgehen. Es kam ihr beinahe so vor, als schiede er auch aus ihrem Herzen. Ihr war es, als bliebe er nicht in ihrem Innern als Bewohner zurück. Das war ihr Kummer, ihr Schmerz. Er nahm fast sein ganzes Dasein mit fort.

Ein paar Tage vor seiner Abreise – er war grade zwanzig – verbrannte er seine Liebesbriefe. Sie hatten an einem Bügel oben auf dem Küchenschrank gehangen. Aus einigen hatte er seiner Mutter Auszüge vorgelesen. Ein paar hatte sie sich die Mühe genommen selbst zu lesen. Aber die meisten waren zu albern. Nun, an diesem Sonnabendmorgen, sagte er: »Komm hier, Postel, wollen mal meine Briefe durchgehen, und du kannst die Vögel und die Blumen kriegen.«

Frau Morel hatte ihre Sonnabendsarbeit bereits am Freitag erledigt, weil er seinen letzten freien Tag hatte. Sie machte ihm einen Reiskuchen zum Mitnehmen. Er wurde kaum gewahr, wie elend sie war.

Er nahm den ersten Brief vom Bügel. Er war malvenfarben und hatte purpurne und grüne Disteln. William roch an dem Blatt.

»Feiner Geruch! Riech mal!«

Und er hielt Paul den Bogen unter die Nase.

»Hm!« sagte Paul, die Luft einziehend. »Wie heißt das? Riech mal, Mutter.«

Seine Mutter neigte ihre kleine, feine Nase über das Papier.

»Ich will denen ihren alten Kram gar nicht riechen«, sagte sie schnuppernd.

»Dem Mädchen sein Vater«, sagte William, »ist reich wie Krösus. Endlosen Landbesitz hat er. Sie nennt mich Lafayette, weil ich Französisch kann. ›Sie werden sehen, ich habe Ihnen verziehen‹ – nett, sie hat mir verziehen. ›Ich habe Mutter heute morgen von Ihnen erzählt, und sie würde sich sehr freuen, wenn Sie Sonntag zum Tee kommen würden, aber sie muß erst Vaters Zustimmung haben. Ich hoffe aufrichtig, er wird sie geben. Ich werde Sie wissen lassen, wie es durchsickert. Wenn Sie jedoch ,...‹«

»Wissen lassen, wie es was?«

»Durchsickert – o ja!«

»Durchsickert!« wiederholte Frau Morel spöttisch. »Ich dachte, sie wäre so fein gebildet.«

William fühlte sich etwas unbehaglich und ließ diese Maid fahren, während er Paul die Ecke mit den Disteln gab. Er fuhr fort, Auszüge aus den Briefen vorzulesen, von denen ein paar seiner Mutter Spaß machten, andere sie aber betrübten und mit Sorge um ihn erfüllten.

»Mein Junge,« sagte sie, »die sind sehr klug. Sie wissen, sie brauchen nur deiner Eitelkeit zu schmeicheln, und du drängst dich an sie wie ein Hund, dem man den Kopf kraut.«

»Na, sie können ja nun nicht in alle Ewigkeit krauen,« erwiderte er, »und wenn sie fertig sind, trabe ich weiter.«

»Eines Tages aber wirst du eine Leine am Halse spüren, die du nicht abstreifen kannst,« antwortete sie.

»Ich nicht! Ich bin ihnen allen gewachsen, Mater, die brauchen sich nichts weiszumachen.«

»Du machst dir was weis,« sagte sie ruhig.

Bald lag da ein Haufen verkrümmter schwarzer Blätter, alles was von dem Bündel duftender Briefe übriggeblieben war, abgesehen davon, daß Paul dreißig oder vierzig hübsche Ecken von dem Briefpapier hatte – Schwalben und Vergißmeinnicht und Efeuzweige. Und William ging nach London, um einen neuen Bügel anzulegen.

Söhne und Liebhaber (Band 1&2)

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