Читать книгу Söhne und Liebhaber (Band 1&2) - D. H. Lawrence - Страница 7

Viertes Kapitel.
Pauls Jugend

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Inhaltsverzeichnis

Pauls Körperbau versprach seiner Mutter nachzuarten; zart und ziemlich klein. Sein helles Haar wurde rötlich und dann dunkelbraun; seine Augen waren grau. Er war ein blasses, ruhiges Kind, mit Augen, die zu lauschen schienen, und mit einer vollen, herabhängenden Unterlippe.

Meistens machte er einen alten Eindruck für seine Jahre. Er hatte ein ganz eigenartiges Verständnis für die Gefühle anderer Menschen, besonders seiner Mutter. Hatte sie Kummer, so merkte er das und hatte dann auch selbst keine Ruhe. Seine Seele schien voll besonderer Aufmerksamkeit für sie.

Mit zunehmendem Alter wurde er stärker. William stand ihm zu fern, um ihn als Genossen anzunehmen. Daher gehörte der Kleinere zunächst beinahe ganz Annie. Sie war ein richtiger Junge, und ein ›Flüg-up‹, wie ihre Mutter sie nannte. Sie liebte ihren zweiten Bruder zärtlichst. So wurde Paul hinter Annie hergeschleppt und nahm an ihren Spielen teil. Zusammen mit den andern jungen Wildkatzen des ›Grundes‹ tobte sie wie toll beim Kriegenspielen. Und stets flog Paul neben ihr her, wenn schon er selbst noch keinen Teil daran hatte. Er war ruhig und unauffällig. Aber seine Schwester betete ihn an. Er bekümmerte sich anscheinend um alles, sobald sie es wünschte.

Sie besaß eine große Puppe, auf die sie furchtbar stolz war, wenn sie sie auch nicht besonders liebte. So hatte sie die Puppe einst aufs Sofa gelegt und mit einem Schoner bedeckt, damit sie schlafen solle. Dann hatten sie sie vergessen. Nun mußte Paul sich grade darin üben, von der Sofalehne herunterzuspringen. Und krach! sprang er natürlich der verborgenen Puppe mitten ins Gesicht. Mit lautem Jammergeschrei eilte Annie herbei und setzte sich zur Totenklage nieder. Paul verhielt sich ganz still.

»Man konnte ja nicht sehen, daß sie da war, Mutter; man konnts doch nicht sehen, daß sie da war,« wiederholte er immer wieder. Solange Annie um ihre Puppe weinte, saß er in hilflosem Jammer dabei. Ihr Kummer nahm aber ab. Sie verzieh ihrem Bruder – er war ja so unglücklich. Aber einen oder zwei Tage später bekam sie einen großen Schrecken: »Wir wollen Arabella opfern,« sagte er, »wir wollen sie verbrennen.« Sie war entsetzt, aber doch auch ein klein wenig bezaubert. Sie wollte gern sehen, was der Junge anstellen würde. Er baute einen Altar aus Backsteinen, zog ein paar Hobelspäne aus Arabellas Innern hervor, legte die Wachsstückchen wieder in das eingedrückte Gesicht, goß ein wenig Paraffin darüber und zündete das Ganze an. Mit niederträchtiger Genugtuung beobachtete er, wie das Wachs tropfenweise von Arabellas zerschmetterter Stirn herabschmolz und in die Flammen sickerte. Solange die dicke dumme Puppe brannte, schwelgte er in stiller Freude. Schließlich stocherte er mit einem langen Stock in der Asche herum, fischte Arme und Beine hervor, ganz geschwärzt, und zerschmetterte sie zwischen ein paar Steinen.

»Das ist der Opfertod der Frau Arabella,« sagte er. »Und ich bin heilsfroh, daß nichts von ihr übriggeblieben ist.« Was Annie innerlich etwas beunruhigte, obwohl sie nichts sagen konnte. Er schien die Puppe so ganz besonders zu hassen, weil er sie selbst zerbrochen hatte.

Alle Kinder, aber Paul ganz besonders, waren mit der Mutter ausgesprochen gegen den Vater. Morel fuhr fort zu trinken und sie zu quälen. Er hatte Zeiten, manchmal Monate hintereinander, wo er das Leben der ganzen Sippe wahrhaft jammervoll machte. Paul vergaß nie, wie er eines Montagabends aus der ›Hoffnungsgesellschaft‹ nach Hause gekommen war und seine Mutter mit einem geschwollenen Auge und ganz farblos, seinen Vater aber mit gespreizten Beinen auf der Herdmatte stehend gefunden hatte, den Kopf gesenkt, und William, grade von der Arbeit kommend, seinen Vater anstarrend. Alles schwieg, als die Kleinen eintraten, aber keiner der Älteren sah sich um.

William war weiß bis in die Lippen, und seine Fäuste waren geballt. Er wartete, bis die Kinder stille waren und mit kindlichem Haß und Wut zusahen; dann sagte er: »Du Feigling, wenn ich zu Hause gewesen wäre, hättest du's nicht gewagt.«

Aber Morels Blut war in Siedehitze. Er fuhr gegen seinen Sohn herum, William war größer, aber Morel besaß harte Muskeln und war wahnsinnig vor Wut.

»Hätte ick nich?« brüllte er. »Hätte ick nich? Blaff noch 'n bißken länger, du junger Hansdampf, un ick laß dich mal meine Faust um de Ohren klappern. Jawoll, det werr ick, siehste.«

Morel beugte sich in den Knien und zeigte seine Faust, in häßlicher, beinahe tierischer Art. William war weiß vor Wut. »Möchtst de?« sagte er ruhig und gedehnt. »Dann wärs jedenfalls zum letzten Male.«

Zusammengekauert tanzte Morel etwas näher auf ihn zu, mit der Faust zum Schlage ausholend. William hielt die Fäuste bereit. Ein Licht trat in seine blauen Augen, fast wie ein Lachen. Er beobachtete seinen Vater. Noch ein Wort, und die Männer hätten eine Schlägerei angefangen. Paul hoffte, sie kämen soweit. Die drei Kinder saßen blaß auf dem Sofa.

»Halt! alle beide,« schrie Frau Morel mit harter Stimme; »für einen Abend haben wir wohl genug davon. Und du,« sagte sie, sich zu ihrem Manne wendend, »sieh dir deine Kinder an!«

Morel blickte nach dem Sofa. »Sieh dir die Kinder an, du widerliche kleine Hure!« höhnte er. »Wieso, wat hab ick die Kinder jetan, möcht ick woll wissen? Aber se sind jenau so wie du; du hast se ja alle deine Kniffe un Jemeinheiten beijebracht – du hast se sie ja jelernt, jawoll.«

Sie verzichtete darauf, ihm zu antworten. Keiner sprach. Nach einer Weile schleuderte er seine Stiefel unter den Tisch und ging zu Bett.

»Warum ließest du mich nicht mit ihm anfangen?« sagte William, als sein Vater oben war. »Ich hätte ihn mit Leichtigkeit verhauen können.«

»Das wäre hübsch gewesen – deinen eigenen Vater.«

»Vater!« wiederholte William. »Den soll ich meinen Vater nennen?«

»Na, das ist er doch – und deshalb ,...«

»Aber warum läßt du mich ihn nicht mal zur Ordnung bringen? Ich könnte es mit Leichtigkeit.«

»Der Gedanke!« rief sie. »Soweit sind wir doch noch nicht.«

»Nein,« sagte er, »aber bei was Schlimmerem. Sieh dich mal an. Warum ließest du's mich ihm nicht mal geben?«

»Weil ich es nicht ausgehalten hätte, und deshalb laß uns nie daran denken,« rief sie rasch.

Und die Kinder gingen zu Bett, voll Jammers.

* * *

Während William aufwuchs, zog die ganze Gesellschaft aus dem ›Grunde‹ in ein Haus oben auf dem Hügel, mit freiem Blick über das ganze Tal, das wie eine hohle Herz- oder Venusmuschel vor ihnen lag. Vor dem Hause stand ein riesiger alter Eschenbaum. Der aus Derbyshire herüberfegende Wind packte das Haus mit aller Macht, und der Baum pfiff. Morel mochte das gern.

»Det's Musike,« sagte er. »Det macht mir schlafen.«

Paul und Annie und Arthur aber haßten es. Für Paul war es ein gradezu spukhaftes Geräusch. Den Winter des ersten Jahres in ihrem neuen Hause war ihr Vater sehr böse. Die Kinder spielten auf der Straße, am Rande des weiten, dunklen Tales bis acht Uhr. Dann gingen sie zu Bett. Die Mutter saß unten und nähte. Daß ein so großer Baum vor dem Hause war, verursachte den Kindern ein Gefühl der Nacht, der Weite und des Schreckens. Der Schrecken rührte von dem Pfeifen des Baumes und der Angst vor der häuslichen Zwietracht her. Oft pflegte Paul aufzuwachen, nachdem er schon ganz lange geschlafen hatte, von Schlägen unten. Sofort war er völlig wach. Erst hörte er dann das dröhnende Gebrüll seines Vaters, der wieder fast betrunken nach Hause gekommen war, dann die scharfen Antworten seiner Mutter, dann das bums! bums! von seines Vaters Faust auf dem Tisch, und das häßliche Geknurre in der immer höher werdenden Männerstimme. Und dann ging alles in einem durchdringenden, tobenden Schreien und Pfeifen des großen, windgepeitschten Eschenbaumes unter. In stummem Hangen und Bangen lagen die Kinder wach und warteten auf ein Abflauen des Windes, um zu hören, was ihr Vater begänne. Er könnte am Ende ihre Mutter wieder schlagen. Ein Gefühl von Angst, von Haarsträuben lag in der Finsternis und eine Ahnung von Blut. Die Herzen in den Krallen drückender Angst lagen sie da. Der Wind fuhr wilder und wilder durch den Baum. Sämtliche Saiten der großen Harfe summten, pfiffen und kreischten. Und dann kam die Angst vor einer plötzlichen Stille, Stille ringsum, draußen und unten. Was war das? War es ein blutiges Schweigen? Was hatte er gemacht?

Die Kinder lagen da und atmeten die Finsternis ein. Und dann, zu guter Letzt, hörten sie den Vater seine Stiefel hinwerfen und auf Socken nach oben trampen. Und doch horchten sie noch. Schließlich vernahmen sie dann, wenn der Wind es zuließ, das Wasser aus dem Hahn in den Kessel trommeln, den ihre Mutter für den Morgen füllte, und dann konnten sie in Frieden einschlafen.

Am Morgen waren sie daher glücklich – glücklich, sehr glücklich, und abends tanzten sie in der Dunkelheit um den einsamen Laternenpfahl. Aber in den Herzen hatten sie eine enge Kammer der Angst, in den Augen eine Dunkelheit, die ihr ganzes Leben lang sichtbar blieb.

Paul haßte seinen Vater. Als Junge hatte er seinen ganz ihm eigenen feurigen Gottesglauben. »Laß ihn doch das Saufen aufgeben!« betete er jeden Abend. »Herr, laß meinen Vater sterben!« betete er sehr oft. »Laß ihn nicht in der Grube totgeschlagen werden!« betete er nach dem Tee, wenn sein Vater von der Arbeit nicht nach Hause kam.

Das war wieder so eine Zeit, in der die Hausgenossen schwer litten. Die Kinder kamen aus der Schule und bekamen ihren Tee. Auf dem Fender zischte der große schwarze Topf leise, der Fleischtopf stand für Morels Essen fertig im Bratofen. Um fünf wurde er erwartet. Aber Monate lang kehrte er erst ein und trank jeden Abend auf seinem Heimwege.

An Winterabenden, wenn es kalt war und früh dunkel wurde, pflegte Frau Morel einen Messingleuchter auf den Tisch zu setzen und eine Talgkerze anzustecken, um Gas zu sparen. Die Kinder aßen ihr Brot mit Butter oder Schmalz und waren dann fertig, wieder hinaus an ihr Spiel zu gehen. Wenn Morel aber nicht kam, zögerten sie. Das Gefühl, daß er nun in all seinem Grubendreck nach einem langen Tagewerk dasäße und tränke, nicht heimkäme, um sich zu waschen und zu essen und zu trinken, sondern dasäße und sich auf den leeren Magen betränke, machte Frau Morel unfähig, länger mit sich fertig zu werden. Von ihr ging dies Gefühl auf die Kinder über. Sie war nie mehr allein mit ihrem Leid: die Kinder litten mit ihr.

Paul ging mit den andern hinaus, um zu spielen. Unten in dem großen dämmernden Troge brannten dort, wo die Gruben waren, winzige Lichterhäufchen. Ein paar letzte Bergleute mühten sich den Feldweg hinan. Der Laternenanzünder kam. Bergleute kamen nicht mehr. Die Dunkelheit schloß sich über dem Tale zusammen, die Arbeit war vorüber. Es war Nacht.

Dann lief Paul ängstlich in die Küche. Die eine Kerze brannte noch auf dem Tisch, das mächtige Feuer glühte rot. Frau Morel saß allein. Der Topf auf dem Herde dampfte; der Teller stand wartend auf dem Tisch. Das ganze Zimmer war voller Erwartung, Erwartung des Mannes, der ohne Essen in seinem Grubendreck meilenweit von Hause irgendwo jenseits der Dunkelheit saß und trank, bis er betrunken war. Paul stand in der Tür.

»Ist Vater da?« fragte er.

»Du siehst ja, noch nicht,« sagte Frau Morel, ärgerlich über die Zwecklosigkeit der Frage.

Dann machte der Junge sich langsam an seine Mutter heran. Sie hatten ja teil an derselben Angst. Nun stand Frau Morel auf und goß die Kartoffeln ab.

»Die sind hin, sie sind ganz schwarz,« sagte sie; »aber was liegt daran?«

Nicht viele Worte wurden gesprochen. Paul haßte seine Mutter beinahe, weil sie darunter litt, daß der Vater nicht von der Arbeit nach Hause kam.

»Was quälst du dich denn deshalb? Wenn er einkehren und sich betrinken will, warum läßt du ihn nicht?«

»Warum läßt du ihn nicht!« sprühte Frau Morel. »Das kannst du wohl sagen, »warum läßt du ihn nicht'!«

Sie wußte, der Mann, der auf dem Heimweg einkehrt und trinkt, ist auf dem gradesten Wege, sich und sein Heim zugrunde zu richten. Die Kinder waren doch noch jung und hingen noch von dem Brotverdiener ab. William verursachte ihr ein Gefühl der Erlösung, indem er ihr wenigstens jemand darstellte, an den sie sich wenden konnte, sobald Morel versagen würde. Aber der gespannte Dunstkreis im Zimmer war an diesen Abenden der Erwartung immer der gleiche.

Die Minuten tickten dahin. Um sechs Uhr lag das Tischtuch noch auf dem Tisch, stand das Essen noch wartend da, herrschte im Zimmer noch immer dasselbe Gefühl von Angst und Erwartung. Der Junge konnte es nicht länger aushalten. Hinausgehen und spielen konnte er nicht. Er lief daher zu Frau Inger herum, im zweiten Haus neben ihnen, damit sie zu ihm spräche. Sie hatte keine Kinder. Ihr Mann war gut gegen sie, aber in einem Laden tätig und kam daher spät nach Hause. Als sie daher den Jungen an der Tür sah, rief sie: »Komm herein, Paul.«

Die zwei saßen eine Zeitlang und redeten, als der Junge plötzlich aufstand und sagte: »Ja, denn will ich nun mal gehen und sehen, ob Mutter nicht auch eine Besorgung für mich zu machen hat.« Er tat so, als wäre er ganz vergnügt, und erzählte seiner Freundin nicht, was ihm fehlte. Dann lief er wieder ins Haus.

Morel kam jetzt immer knurrig und gehässig nach Hause.

»Das ist ja 'ne nette Zeit zum Nachhausekommen,« sagte Frau Morel.

»Wat jeht denn dir det an, wenn ick nach Hause komme?« brüllte er.

Und alles im Hause war still, weil er nun gefährlich war. Er aß seinen Teil so roh wie möglich, und sobald er damit fertig war, schob er sämtliche Töpfe in einen Haufen zusammen von sich weg, um die Arme aus den Tisch legen zu können. Dann schlief er ein.

Paul haßte seinen Vater so. Der kleine gemeine Kopf des Bergmannes, mit seinem schwarzen, jetzt leicht mit Grau durchzogenen Haar, lag auf den bloßen Armen, und das Gesicht, schmutzig und entzündet, mit seiner fleischigen Nase und den dünnen, kümmerlichen Augenbrauen war zur Seite gewendet, eingeschlafen infolge von Bier und Kummer und Verdrossenheit. Kam irgend jemand plötzlich herein, oder wurde irgendwelches Geräusch gemacht, so sah der Mann auf und brüllte: »Meine Faust wird dich mal ufn Kopp kommen, sag ich dich, wenn du mit deinen Lärm nich aufhörst! Hast es jehört?« Und die letzten beiden Worte, in drohendem Tone, meistens gegen Annie herausgebrüllt, ließen die Hausgenossen sich vor Haß gegen den Mann zusammenkrümmen.

Von allen Hausangelegenheiten war er ausgeschlossen. Keiner erzählte ihm etwas. Waren die Kinder mit ihrer Mutter allein, so erzählten sie ihr die Tagesereignisse, alles. Nichts gelangte in ihrem Innern zu Wirklichkeit, ehe es nicht der Mutter berichtet war. Aber sobald der Vater hereintrat, hörte alles auf. Er war gleichsam der Sperrkeil in der glücklichen, glattlaufenden Maschine des Hauses. Und er bemerkte dies bei seinem Hereinkommen eintretende Schweigen jedesmal, den Abschluß alles Lebens, das Unwillkommene. Aber nun war das zu weit gediehen, um sich noch ändern zu lassen.

Zu gern hätte er die Kinder zu sich sprechen hören, aber sie vermochten es nicht. Zuweilen sagte Frau Morel wohl mal: »Das solltest du Vater erzählen.«

So gewann Paul einen Preis in einer Kinderzeitung. Alle waren aufs höchste entzückt.

»Das solltest du doch lieber Vater erzählen, wenn er nach Hause kommt,« sagte Frau Morel. »Du weißt doch, wie ers immer macht und behauptet, ihm würde nie etwas erzählt.«

»Schön,« sagte Paul. Aber er hätte fast lieber auf den Preis verzichtet, als daß er es seinem Vater erzählt hätte.

»Ich habe einen Preis gewonnen in einem Wettbewerb, Vater,« sagte er.

Morel wandte sich nach ihm um. »Wirklich, mein Junge? Wat denn für 'ne Art Wettbewerb?«

»Och, nichts – über berühmte Frauen.«

»Un wie hoch is der Preis denn, den de jekriegt hast?«

»Es ist ein Buch.«

»Och so!«

»Über Vögel.«

»Hm – hm!«

Und das war alles. Eine Unterhaltung zwischen dem Vater und einem andern der Hausgenossen war unmöglich. Er war Außenseiter. Er hatte den Gott in sich verleugnet.

Die einzigen Zeiten, an denen er wieder in das Leben der Seinigen hineingeriet, waren die Stunden, wenn er arbeitete und bei seiner Arbeit glücklich war. Zuweilen flickte er abends ihre Schuhe, oder besserte den Kessel aus oder seine Blechflasche. Dann brauchte er immer ein paar Helfer, und das machte den Kindern Spaß. Sie vereinten sich mit ihm in seiner Arbeit zu wirklichem Tun, wenn er so wieder einmal er selbst war.

Er war ein guter Arbeiter, geschickt, und einer, der, wenn er guter Laune war, stets sang. Er hatte lange Zeiten, Monate, fast Jahre von Reizbarkeit und übler Laune. Dann war er aber zuweilen auch wieder vergnügt. Es war nett, ihn zu sehen, wie er mit einem Stück glühendem Eisen in die Spülküche lief und rief: »Aus'n Weje – aus'n Weje!«

Dann hämmerte er das weiche, rotglühende Stück auf seinem Plätteisen und brachte es in die gewollte Form. Oder er saß einen Augenblick ganz von seiner Lötarbeit hingerissen. Dann paßten die Kinder voll Vergnügen auf, wie das Zinn plötzlich geschmolzen zusammensank und über die Nase des Lötkolbens gestrichen wurde, während das ganze Zimmer voll vom Geruch von Harz und geschmolzenem Zinn war und Morel eine Minute lang stumm und aufmerksam dasaß. Wenn er Stiefel ausbesserte, sang er immer wegen des fröhlichen Zusammenklanges mit dem Hämmern. Und er war gradezu glücklich, wenn er große Flicken Maulwurfsfell auf seine Grubenhosen setzen mußte, was er oft zu tun hatte; denn er hielt sie für zu schmutzig und den Stoff für zu hart, als daß seine Frau sie hätte ausbessern können.

Aber die schönste Zeit war für die Kinder, solange sie jung waren, wenn er Lunten machte. Dann holte Morel ein Büschel heiler, langer Weizenstrohhalme vom Boden. Die machte er mit der Hand sauber, bis jeder einzelne wie ein Goldstab glänzte, worauf er das Stroh in etwa fünfzehn Zentimeter lange Stücke schnitt und dabei, wenn möglich, unten in jedem Stück immer eine Kerbe ließ. Er hatte ein wundervoll scharfes Messer, das Stroh schneiden konnte, ohne es zu zerbrechen. Dann schüttete er mitten auf den Tisch einen Haufen Schießpulver, einen kleinen Haufen schwarzer Körner auf die weißgescheuerten Bretter. Er schnitt die Strohhalme und bereitete sie zu, während Paul und Annie sie füllten und stopften. Paul mochte zu gern die schwarzen Körner seitwärts aus seiner Handfläche in die Mündung des Halms hineingleiten sehen, wie sie lustig hineinpfefferten, bis der Halm voll war. Dann verschloß er die Mündung mit etwas Seife – die er sich von einem Stück auf einem Tassenschälchen auf den Daumen nahm –, und der Halm war fertig.

»Sieh, Vater!« sagte er.

»Recht, mein Allerschönster,« antwortete Morel, der gegen seinen Zweiten besonders freigebig mit Zärtlichkeiten war. Paul warf den Halm in die Pulverdose, fertig für den nächsten Morgen, wo Morel ihn mit in die Grube nehmen und einen Schuß damit abfeuern würde, um die Kohle loszusprengen.

Währenddessen pflegte Arthur, der seinen Vater noch lieb hatte, sich gegen die Armlehne von Morels Stuhl zu lehnen und zu sagen: »Erzähl uns doch mal 'n bißchen von unter Tage, Vatting.«

Das tat Morel zu gern.

»Na, da is so'n kleenes Pferdeken, wir nennen ihn Taffy,« pflegte er zu beginnen. »Un det is'n janzer Schlaukopp.«

Morel hatte eine sehr warme Art, Geschichten zu erzählen. Er machte einem Taffys Schlauheit ordentlich fühlbar.

»'t is 'n Brauner,« fuhr er fort, »un nich sehr hoch. Na, der kommt denn in den Stollen rinjeklappert, un denn hörste, wie er niest. ›Hallo, Taff, wat niest de denn?‹ sagste dann. ›Haste 'ne Prise genommen?‹ Und denn niest er wieder. Denn schleicht er sich so ran und schiebt dich seinen Kopp entjejen, janz zahm. ›Wat willste denn, Taff?‹ sagste denn.«

»Und was will er denn?« fragte Arthur jedesmal.

»En bißken Tobak will er, mein Küken.« Diese Geschichte von Taffy lief unentwegt weiter, und jedermann liebte sie, oder zuweilen war es auch mal eine neue Geschichte.

»Un wat meenste, mein Liebling? Als ich mittags meinen Rock anziehen will, wat kommt da woll meinen Arm rauf jelaufen, als 'ne Maus? ›He, du da oben!‹ ruf ick. Un jrade hatte ick noch Zeit, ihr beim Schwanz zu kriejen.«

»Und hast du sie tot gemacht?«

»Jewiß, denn se sind 'ne Plage. Da unten is et einfach beschneit mit se.«

»Un wovon leben sie denn?«

»Von den Hafer, den die Pferde fallen lassen – un denn kriechen se eenen in die Tasche un fressen eenen det Friehstick uff, wenn du se zufrieden läßt – janz ejal, wo de deinen Rock hinhängst – die kriechende, nibbelnde kleene Landplage, die se sind.«

Diese glücklichen Abende konnten aber nur stattfinden, wenn Morel etwas zu tun hatte. Und dann ging er immer sehr früh zu Bett, oft früher als die Kinder. Es war ja nichts mehr da, weswegen er hätte aufbleiben sollen, wenn er mit seiner Klempnerei fertig war und die Überschriften in der Zeitung überflogen hatte.

Und die Kinder fühlten sich sicher, wenn der Vater im Bette lag. Dann lagen sie und redeten noch leise eine Zeitlang. Dann fuhren sie in die Höhe, wenn sich plötzlich ein Lichtschein über die Decke breitete von den Lampen in den Händen der Bergleute, die draußen auf dem Wege zur Neun-Uhr-Schicht vorbeitrabten. Sie lauschten auf die Stimmen der Männer, und stellten sie sich vor, wie sie in das dunkle Tal niedertauchten. Zuweilen traten sie auch wohl mal ans Fenster und beobachteten, wie die drei oder vier Lampen winziger und winziger wurden und über die Felder in die Dunkelheit hinunterschwankten. Dann war es ein Vergnügen, wieder ins Bett zu jagen und sich in der Wärme eng zusammenzukauern.

Paul war ein recht zarter Junge und neigte sehr zu Halsentzündung. Die andern waren alle ganz kräftig; daher lag hier wieder ein neuer Grund, weswegen seine Mutter ihm gegenüber anders empfinden sollte. Eines Tages kam er zur Essenszeit nach Hause und fühlte sich unwohl. Aber viele Umstände wurden bei ihnen nicht gemacht.

»Was ist denn mit dir los?« fragte seine Mutter scharf.

»Nichts,« antwortete er. Aber er aß nichts.

»Wenn du nichts ißt, gehst du morgen nicht zur Schule,« sagte sie.

»Warum nicht?« fragte er.

»Darum nicht.«

So legte er sich nach dem Essen aufs Sofa, auf die warmen Kattunkissen, die die Kinder so liebten. Dann verfiel er in eine Art Träumerei. Frau Morel plättete den Nachmittag. Sie horchte während ihrer Arbeit auf das leise, fortwährende Geräusch, das der Junge in seiner Kehle hervorbrachte. Wieder stieg in ihrem Herzen jenes alte, fast Verdrossenheit zu nennende Gefühl gegen ihn empor. Sie hatte nie erwartet, er werde am Leben bleiben. Und doch besaß er in seinem jungen Körper eine große Lebenskraft. Vielleicht wäre es ihr eine kleine Erlösung gewesen, wäre er gestorben. Stets fühlte sie ihrer Liebe zu ihm eine gewisse Angst beigemischt.

Er wurde in seinem halbwachen Schlummer undeutlich das Klappern des Eisens auf dem Ständer gewahr, des schwachen wup, wup auf dem Plättbrett. Einmal wach geworden, öffnete er die Augen, um seine Mutter mit dem heißen Eisen an ihrer Wange auf der Herdmatte stehen zu sehen, als lausche sie auf die Hitze. Ihr stilles Gesicht, mit dem durch Leid und Enttäuschung und Selbstentsagung eng verschlossenen Munde und der ein ganz klein wenig nach einer Seite herüberstehenden Nase und ihren blauen Augen, so jung, rasch, und warm, ließen sein Herz sich zusammenkrampfen vor Liebe. Wenn sie so ruhig war, sah sie tapfer und reich an Leben aus, aber als wäre sie um ihr Recht betrogen worden. Es tat dem Jungen schmerzlich weh, dies Gefühl, daß sie niemals zur Erfüllung ihres Lebens gekommen sei; und seine eigene Unfähigkeit, sie dies entgelten zu lassen, schmerzte ihn in dem Bewußtsein seiner Ohnmacht; jedoch machte es ihn innerlich geduldig bis zur Verbissenheit. Das war sein kindliches Streben.

Sie spuckte auf das Eisen, und eine kleine Kugel ihres Speichels sauste von der dunkeln, glänzenden Oberfläche herab. Dann kniete sie nieder und rieb das Eisen kräftig auf dem Sackfutter der Herdmatte ab. Sie sah so warm aus in dem rötlichen Feuerschein. Paul hatte die Art, in der sie sich zusammenkauerte und den Kopf auf eine Seite neigte, zu gern. Ihre Bewegungen waren leicht und rasch. Es war immer ein Vergnügen, sie zu beobachten. Nie tat sie etwas, keine Bewegung führte sie jemals aus, mit der ihre Kinder nicht zufrieden gewesen wären. Der Raum war warm und voll vom Geruche heißen Leinens. Später kam der Geistliche und redete leise mit ihr.

Paul mußte mit einem Anfall von Halsentzündung im Bette bleiben. Er machte sich nicht viel daraus. Was geschah, mußte geschehen, und es nützte nichts, wider den Stachel zu lecken. Er liebte die Abende, nach acht Uhr, wenn das Licht ausgemacht wurde und er die Flammen beobachten konnte, wie sie aus der Dunkelheit hervor über Wände und Decke sprangen; wenn er die mächtigen Schatten wogend hin und her fahren sah, bis der Raum voll stumm kämpfender Männer zu sein schien.

Auf seinem Wege zu Bett pflegte der Vater ins Krankenzimmer zu treten. Er war immer sehr sanft, wenn jemand krank war. Aber er brachte Unruhe für den Jungen mit sich.

»Schläfste, mein Liebling?« fragte Morel leise.

»Nein; kommt Mutter bald?«

»Sie ist jrade bei dem Zusammenlegen der Wäsche. Wolltest du etwas?« Morel sprach selten gewöhnlich mit seinem Jungen.

»Ich brauche nichts. Aber wie lange dauert es noch?«

»Nicht mehr lange, mein Kücken.«

Unentschieden wartete der Vater einen oder zwei Augenblicke auf der Herdmatte. Er fühlte, sein Sohn hatte ihn nicht gern um sich. Dann ging er oben an die Treppe und sagte zu seiner Frau:

»Det Kind frägt nach dich; wie lange dauert et denn noch?«

»So lange, bis ich fertig bin, mein Gott! Sage ihm, er soll schlafen.«

»Sie sagt, du möchtest man schlafen,« wiederholte der Vater Paul ganz sanft.

»Ja, ich möchte aber, daß sie kommt,« drängte der Knabe.

»Er sagt, er kann nich, ehe du nicht kömmst,« rief Morel wieder nach unten.

»I, du lieber Gott! Es dauert nicht mehr lange. Und hör du mit deinem Gerufe auf. Die andern Kinder sind auch noch da ,...«

Dann kam Morel wieder herein und kauerte sich vor dem Feuer nieder. Ein Feuer hatte er zu gern.

»Se sagt, et dauert nich mehr lange,« sagte er.

Endlos bummelte er dann noch herum. Der Junge begann vor Erregung ganz fiebrig zu werden. Des Vaters Gegenwart schien seine krankhafte Ungeduld nur zu verschlimmern. Schließlich, nachdem er noch eine Zeitlang neben seinem Jungen gestanden hatte, sagte Morel leise: »Gute Nacht, mein Liebling.«

»Gute Nacht,« erwiderte Paul, während er sich umdrehte, ganz erlöst, allein zu sein.

Paul schlief zu gern bei seiner Mutter. Allen Gesundheitspredigern zum Trotz ist der Schlaf am vollkommensten, wenn er mit einem geliebten Wesen geteilt wird. Die Wärme, die Sicherheit, der Seelenfrieden, das äußerste Behagen infolge der Berührung mit dem andern vertieft den Schlaf so, daß er Körper und Seele vollkommen gesunden macht. So lag Paul an ihrer Seite und schlief, und wurde besser; während sie, die immer eine schlechte Schläferin war, späterhin in tiefen Schlaf fiel, der ihr Glauben zu verleihen schien.

Während seiner Genesung pflegte er im Bett aufzusitzen und die struppigen Pferde aus den Trögen auf dem Felde futtern zu sehen, wobei sie ihr Heu über den zertretenen gelben Schnee verstreuten; oder er beobachtete die heimwärts trottenden Bergleute – kleine, schwarze Gestalten, die langsam in Trupps über das weiße Feld dahinzogen. Dann stieg die Nacht in dunkelblauen Dünsten vom Schnee empor.

Während der Genesung war alles wundervoll. Die plötzlich gegen die Scheiben fahrenden Schneeflocken blieben dort einen Augenblick wie Schwalben hängen und waren dann wieder fort, und ein Wassertropfen kroch die Scheibe hinab. Die Schneeflocken wirbelten um die Hausecke wie vorbeistiebende Tauben. Weit drüben jenseits des Tales kroch ein kleiner schwarzer Zug unentschlossen durch die große Weiße.

Solange sie so arm waren, waren die Kinder immer entzückt, wenn sie irgendeine wirtschaftliche Beihilfe leisten konnten. Annie und Paul und Arthur gingen frühmorgens aus, im Sommer, und suchten Pilze; sie durchstöberten das feuchte Gras, aus dem Lerchen emporstiegen, nach den weißhäutigen, wunderbaren nackten Körpern, die sich so geheimnisvoll im Grünen verbargen. Und brachten sie ein halbes Pfund zusammen, so fühlten sie sich überglücklich; es war die Freude, etwas gefunden zu haben, die Freude, etwas unmittelbar aus der Hand der Natur zu empfangen, und die Freude, etwas zum allgemeinen Besten beizusteuern.

Die bedeutendste Ernte aber, nach der Nachlese beim Korn, waren die Brombeeren. Sonnabends mußte Frau Morel Früchte für ihren Pudding kaufen. Daher durchstreiften Paul und Arthur die Dickichte und Gehölze und alten Steinbrüche, solange noch eine Brombeere zu finden war, und gingen jeden Wochenschluß auf die Suche. In jener Bergmannsdörfergegend wurden Brombeeren verhältnismäßig etwas Seltenes. Aber Paul suchte weit und breit. Er liebte den Aufenthalt draußen auf dem Lande zwischen den Büschen. Doch konnte er es auch nicht ertragen, seiner Mutter mit leeren Taschen heimzukommen. Das, fühlte er, würde ihr eine Enttäuschung sein, und er wäre lieber gestorben.

»Guter Gott!« pflegte sie auszurufen, wenn die Jungens spät todmüde und hungrig nach Hause kamen, »wo seid ihr denn bloß wieder gewesen?«

»Ja,« sagte Paul, »es waren keine da, deshalb gingen wir nach den Misthügeln hinüber. Und sieh mal, Mutter!«

Sie blickte in den Korb. »Ja, die sind aber auch wirklich schön!« rief sie aus.

»Und über zwei Pfund sinds. Sind das nicht mehr als zwei Pfund?«

Sie wog den Korb prüfend. »Ja,« sagte sie, etwas zweifelhaft.

Dann fischte Paul einen kleinen Blütenzweig hervor. Er brachte ihr immer einen Zweig mit, den schönsten, den er finden konnte.

»Wie hübsch!« sagte sie in sonderbarem Tonfall, wie eine Frau, die ein Liebeszeichen entgegennimmt.

Den ganzen Tag lief der Junge, lief Meilen über Meilen eher, als daß er sich geschlagen bekannt hätte und mit leeren Händen nach Hause gekommen wäre. Das wurde ihr nie recht klar, solange er noch klein war. Sie war eine Frau, die bei ihren Kindern darauf wartete, daß sie erwachsen wären. Und William beschäftigte sie besonders.

Als aber William nach Nottingham ging und nicht mehr so viel zu Hause war, da nahm die Mutter sich Paul zum Gefährten. Dieser war, ohne es zu wissen, eifersüchtig auf seinen Bruder, und William war eifersüchtig auf ihn. Gleichzeitig waren sie jedoch gute Freunde.

Frau Morels Vertraulichkeit mit ihrem zweiten Jungen war zarter und feiner, wenn auch vielleicht nicht so leidenschaftlich wie die mit ihrem ältesten. Es war die Regel, daß Paul Freitagnachmittags das Geld abholte. Die Bergleute der fünf Gruben wurden Freitags ausbezahlt, aber nicht persönlich. Die Einkünfte jedes Stollens wurden dem Obersteiger ausgehändigt, als dem Unternehmer, und der verteilte die Löhne wieder entweder im Wirtshause oder in seinem eigenen Heim. Damit die Kinder das Geld abheben konnten, wurde Freitagnachmittags die Schule früh geschlossen. Jedes von Morels Kindern – William, dann Annie, dann Paul – hatte das Geld Freitagnachmittags abgehoben, bis sie selbst zur Arbeit gingen. Paul pflegte um halb vier loszuziehen, mit einem kleinen Kattunsack in der Tasche. Über sämtliche Pfade konnte man Frauen, Mädchen, Kinder und Männer zu den Geschäftsräumen hinunterziehen sehen.

Diese Geschäftsräume waren ganz hübsch: ein neuer, roter Backsteinbau, fast wie ein Wohnhaus, auf einem abgetrennten, wohlgehaltenen Grundstück am Ende der Greenhill-Lane. Warteraum war der Vorplatz, ein langer, kahler Raum, mit blauen Klinkern ausgelegt, und einer Sitzbank rundherum an der Wand entlang. Hier saßen die Bergleute in ihrem Grubenschmutz. Sie waren frühzeitig aufgefahren. Die Frauen und Kinder lungerten gewöhnlich draußen auf den roten Kieswegen herum. Paul untersuchte immer die Graseinfassungen und die großen Grasflächen, weil auf ihnen winzige Stiefmütterchen und Vergißmeinnicht blühten. Der Lärm vieler Stimmen ertönte. Die Frauen hatten ihre Sonntagshüte auf. Die Mädchen schwatzten laut drauflos. Hier und da liefen kleine Hunde umher. Die grünen Büsche in der Runde waren stumm.

Dann ertönte von drinnen der Ruf: »Spinney-Park! Spinney-Park!« Alles zu Spinney-Park gehörige Volk trabte hinein. Sobald die Zeit zum Auszahlen an Bretty kam, machte Paul sich unter die Menge. Der Zahlraum war recht klein. Ein Zahltisch lief quer hindurch und teilte ihn in zwei Hälften. Hinter dem Zahltisch standen zwei Männer – Herr Braithwaite und sein Gehilfe, Herr Winterbottom. Herr Braithwaite war groß, im Äußern ein wenig der gestrenge Erzvater, mit seinem ziemlich dünnen, weißen Bart. Für gewöhnlich war er in ein riesiges seidenes Halstuch eingewickelt, und bis mitten in den Sommer hinein brannte in der offenen Feuerstelle ein gewaltiges Feuer. Kein Fenster war offen. Im Winter versengte die Luft den Leuten zuweilen die Kehle, wenn sie aus der Kälte hereinkamen. Herr Winterbottom war ziemlich klein und fett und sehr kahl. Er machte durchaus witzlose Bemerkungen, während sein Vorgesetzter erzväterliche Ermahnungen an die Bergleute ergehen ließ.

Der Raum war angefüllt mit Bergleuten in ihrem Grubenschmutz, mit Männern, die schon zu Hause gewesen waren und sich umgezogen hatten, Frauen, ein oder zwei Kindern und gewöhnlich einem Hund. Paul war recht klein, und so war es häufig sein Schicksal, hinter den Beinen der Männer dicht vor dem Feuer eingeklemmt zu werden, das ihn röstete. Er kannte die Reihenfolge der Namen – sie liefen nach der Stollennummer.

»Holliday!« ertönte die schallende Stimme des Herrn Braithwaite. Dann trat Frau Holliday schweigend vor, wurde ausgezahlt und trat zur Seite.

»Bower – John Bower!«

Ein Junge trat an den Zahltisch. Herr Braithwaite, großmächtig und leicht erzürnt, sah ihn wütend über seine Brille an.

»John Bower!« wiederholte er.

»Det bin ick,« sagte der Junge.

»Wieso, du hattest doch sonst eine ganz andere Nase,« meinte der witzige Herr Winterbottom, über den Tisch herüberblinzelnd. Die Leute gnickerten und dachten an den älteren John Bower.

»Warum kommt dein Vater nicht?« sagte Herr Braithwaite in vollen, obrigkeitlichen Tönen.

»Et jeht'n schlecht,« piepte der Junge.

»Sage ihm nur, er sollte lieber mit dem Saufen aufhören!« ließ sich der große Kassenwart vernehmen.

»Un denn kümmer dir man nich drum, wenn er seinen Fuß durch dir durchsteckt,« sagte eine spöttische Stimme im Hintergrunde.

Die Männer lachten alle. Der große, gewichtige Kassenwart sah auf seinen nächsten Bogen nieder.

»Fred Pilkington!« rief er ganz gleichgültig.

Herr Braithwaite besaß bedeutende Anteile am Geschäft.

Paul wußte, er käme als übernächster dran, und sein Herz fing an zu klopfen. Er war ganz gegen den Kamin gedrängt. Seine Waden wurden ihm versengt. Aber er hatte keine Hoffnung, den Wall von Männern zu durchdringen.

»Walter Morel!« kam die schallende Stimme.

»Hier!« piepte Paul, winzig und unzulänglich.

»Morel – Walter Morel!« wiederholte der Kassenwart, Finger und Daumen auf der Rechnung, bereit weiterzugehen.

Pauls Selbstbewußtsein krampfte sich schmerzhaft zusammen, aber er konnte und wollte nicht schreien. Die Rücken der Männer machten ihn unsichtbar. Da kam ihm Herr Winterbottom zu Hilfe.

»Er ist hier. Wo ist er denn? Morels Junge?«

Der fette, rote, kahlköpfige kleine Mann blickte mit scharfen Augen umher. Er wies auf den Kamin. Die Bergleute sahen sich um, drückten sich zur Seite und machten ihm Platz.

»Hier ist er!« sagte Herr Winterbottom.

Paul trat an den Zahltisch.

»Siebzehn Pfund elf Schilling und fünf Pence. Warum meldest du dich nicht, wenn du gerufen wirst?« sagte Herr Braithwaite. Er bumste einen Sack mit fünf Pfund Silber auf die Rechnung, dann nahm er mit einer feinen, hübschen Handbewegung eine kleine Zehn-Pfund-Rolle Gold auf und ließ sie neben das Silber fallen. In leuchtendem Strome lief das Gold über das Papier. Der Kassenwart kam mit der Abzählung des Geldes zu Ende; der Junge schleifte das Ganze den Tisch entlang zu Herrn Winterbottom, dem die Abzüge für Miete und Werkzeug bezahlt werden mußten. Hier fing sein Leiden wieder an.

»Sechzehn Schilling fünf Pence,« sagte Herr Winterbottom.

Der Junge war zu aufgeregt, um zählen zu können. Er schob aufs Geratewohl etwas Silber und ein Zehnschillingstück hin.

»Was meinst du, wieviel hast du mir wohl gegeben?« fragte Herr Winterbottom.

Der Junge sah ihn an, sagte aber nichts. Er hatte nicht die leiseste Ahnung.

»Hast du keine Zunge im Munde?«

Paul biß sich auf die Lippen und schob noch mehr Silber vorwärts.

»Bringen sie euch kein Zählen bei in der Schule?« fragte er.

»Nischt als Algibbra un Französisch,« sagte ein Bergmann.

»Un Frechheit un Unverschämtheit,« sagte ein anderer.

Paul hielt jemand anders auf. Mit zitternden Fingern steckte er sein Geld wieder in den Sack und schlüpfte hinaus. Bei derartigen Gelegenheiten litt er alle Qualen der Verdammten.

Als er draußen war und die Mansfieldstraße hinunterging, war seine Erlösung unendlich. Auf der Parkmauer war das Moos so grün. Unter den Apfelbäumen eines Obstgartens pickte goldiges und weißes Geflügel herum. Die Bergleute zogen in einem Strome heimwärts. Der Junge hielt sich voller Selbstbewußtsein an der Mauer. Er kannte manche von ihnen, aber unter ihrem Schmutz konnte er sie nicht erkennen. Und das war für ihn eine neue Qual.

Als er zum Neuen Wirtshause in Bretty kam, war sein Vater noch nicht da. Frau Wharmby, die Wirtin, kannte ihn. Seine Großmutter, Frau Morels Mutter, war eine Freundin Frau Wharmbys gewesen.

»Dein Vater ist noch nicht da,« sagte die Wirtin in dem halb verächtlichen, halb bemutternden Tone einer Frau, die überwiegend mit Erwachsenen spricht. »Setz dich man.«

Paul setzte sich auf die Kante der Bank im Schenkraum. Ein paar Bergleute »rechneten ab« – verteilten ihr Geld in einer Ecke; andere kamen herein. Alle sahen sie den Jungen ohne ein Wort an. Zuletzt kam Morel; frisch und mit einem gewissen Hochmut, selbst unter seiner Schwärze.

»Hallo!« sagte er beinahe zärtlich zu seinem Sohn. »Hast de mich jeholfen? Willste irjendwas trinken?«

Paul und alle übrigen Kinder waren als wilde Schnapsgegner erzogen; doch vor all diesen Männern Zitronenwasser zu trinken hätte ihm mehr Qual bereitet, als wenn ihm ein Zahn gezogen wäre.

Die Wirtin sah ihn vom Scheitel bis zur Sohle an, ziemlich mitleiderfüllt, und zu gleicher Zeit doch geärgert durch seine kalte, stolze Sittlichkeit. Paul zog wütend nach Hause. Freitag war Backtag, und gewöhnlich war ein heißes Brötchen für ihn da. Seine Mutter legte ihm eins hin.

Plötzlich wandte er sich wie rasend, mit blitzenden Augen, ihr zu: »Ins Geschäft geh ich nicht wieder,« erklärte er.

»Wieso, was ist denn los?« fragte seine Mutter überrascht. Seine plötzlichen Wutanfälle machten ihr immer Spaß.

»Da gehe ich nicht wieder hin,« erklärte er.

»Na schön, denn sags deinem Vater.«

Er kaute an seinem Brötchen, als haßte er es.

»Ich – ich hole das Geld nicht wieder.«

»Dann kann ja eins von Carlins Kindern gehen; die werden sehr froh sein über die sechs Pence,« sagte Frau Morel.

Diese sechs Pence waren Pauls einzige Einkünfte. Sie gingen fast gänzlich für den Einkauf von Geburtstagsgeschenken drauf; aber sie waren doch ein Einkommen, und er schätzte sie. Aber ,...

»Denn laß sie se doch kriegen!« sagte er. »Ich will sie gar nicht.«

»Oh, sehr gern,« sagte die Mutter. »Aber deshalb brauchst du mich doch nicht anzuschnauzen.«

»Ekelhaft und gemein und widerlich sind sie, und ich gehe nicht wieder hin. Herr Braithwaite kann nicht ordentlich Englisch, und Herr Winterbottom sagt: ›Du hast woll jewesen‹.«

»Und deshalb willst du nicht wieder hin?« lächelte Frau Morel.

Der Junge war eine Zeitlang stumm, sein Gesicht war bleich, seine Augen dunkel und wütend. Seine Mutter machte sich mit ihrer Arbeit zu schaffen, ohne ihn zu beachten.

»Immer stehen sie so vor mir, daß ich nicht durchkommen kann,« sagte er.

»Ja, mein Junge, dann brauchst du sie doch nur zu bitten,« erwiderte sie.

»Un denn sagt Alfred Winterbottom: ›Was bringen sie euch denn in der Schule bei?‹«

»Ihm haben sie niemals viel beigebracht,« sagte Frau Morel, »das ist sicher – weder Anstand noch Witz –, und seine Schlauheit war ihm angeboren.«

So besänftigte sie ihn auf ihre eigene Art und Weise. Seine lächerliche Überempfindlichkeit tat ihrem Herzen weh. Und zuweilen machte die Wut in seinen Augen sie nachdenklich, ließ ihre schlummernde Seele einen Augenblick überrascht ihr Haupt erheben.

»Wie hoch war die Anweisung?«

»Siebzehn Pfund, elf Schilling und fünf Pence, und sechzehneinhalb Schilling Abzüge,« antwortete der Junge. »Is 'ne gute Woche; und bloß fünf Schilling Abzüge für Vater.«

Auf die Art war sie imstande zu berechnen, wieviel ihr Mann verdient hatte, und ihn zur Rechenschaft zu ziehen, wenn er ihr zu wenig Geld ablieferte. Morel hielt seinen Wochenverdienst immer geheim.

Freitag war Back- und Marktabend. Es war die Regel, daß Paul zu Hause blieb und backte. Er blieb gern zu Hause und las und zeichnete; zeichnen mochte er sehr gern. Annie »scherbelte« immer Freitagabends; Arthur ergötzte sich wie gewöhnlich. So blieb der Junge allein.

Frau Morel ging gern zu Markte. Auf dem kleinen Marktplatze ganz oben auf dem Hügel, wo sich vier Straßen, von Nottingham, Derby, Ilkeston und Mansfield, trafen, waren viele Stände aufgeschlagen. Leichtes Fuhrwerk aus den umliegenden Dörfern kam herbei. Der Marktplatz war voller Frauen, die Straßen gestopft voll von Männern. Es war ganz erstaunlich, überall auf den Straßen so viel Männer zu sehen. Frau Morel kabbelte sich gewöhnlich mit der Spitzenfrau, bezeigte dem Obstmann ihr Mitgefühl – er war ein Dummkopf, aber seine Frau war schlecht –, lachte mit dem Fischmann, der ein Herumtreiber war, aber sehr spaßhaft –, setzte den Linoleummann zurecht, war kalt gegen den Restermann und ging zu dem Geschirrmann nur, wenn sie gezwungen war – oder durch die Kornblumen auf irgendeiner kleinen Schüssel hingezogen wurde; dann war sie von höflicher Kälte.

»Ich möchte wohl wissen, wieviel die kleine Schüssel kostet,« sagte sie.

»Für Sie sieben Pence.«

»Danke.«

Sie setzte die Schüssel wieder hin und ging weiter; aber ohne sie konnte sie den Markt nicht verlassen. Wieder ging sie an der Stelle vorbei, wo das Geschirr kalt am Boden lag, und blickte verstohlen nach der Schüssel, tat aber so, als nehme sie sie nicht.

Sie war ein kleines Frauchen, in schwarzem Hut und Kleid. Ihr Hut ging ins dritte Jahr; er war ein großer Kummer für Annie.

»Mutter!« flehte das Mädchen sie an, »trag doch den knubbeligen kleinen Hut nicht mehr.«

»Was soll ich denn sonst wohl tragen,« erwiderte die Mutter scharf. »Und ich bin sicher, er ist noch gut genug.«

Anfänglich hatte er eine kleine Spitze gehabt; dann hatte er Blumen bekommen; jetzt war er auf schwarze Spitze und ein bißchen Jett gesetzt.

»Er sieht ziemlich heruntergekommen aus,« sagte Paul. »Kannst du ihm nicht mal so 'nen kleinen Wuppdich geben?«

»Ein paar an die Ohren werde ich dir geben für deine Unverschämtheit,« sagte Frau Morel und band sich die Bänder ihres schwarzen Hütchens tapfer unter dem Kinn fest.

Wieder blickte sie nach der Schüssel. Sie sowohl wie ihr Feind, der Geschirrmann, hatte ein unbehagliches Gefühl, als stände etwas zwischen ihnen. Plötzlich rief er: »Wollen Sie se für sechs Pence?«

Sie fuhr zusammen. Ihr Herz wurde hart; aber dann bückte sie sich und nahm ihre Schüssel auf. »Ich nehme sie,« sagte sie.

»So, wollen Sie mich den Jefallen tun?« sagte er. »Spucken Se man lieber hinein, als wenn Sie se jeschenkt jekriegt hätten!«

Kalt bezahlte Frau Morel ihm seine sechs Pence.

»Ich finde gar nicht, daß Sie sie mir schenken,« sagte sie; »Sie würden sie mich nicht für sechs Pence haben lassen, wenn Ihnen nicht dran läge.«

»In det borstige Höllennest hier muß man sich ja noch für jlücklich halten, wenn man bloß seine Sachen verschenken kann,« brummte er.

»Ja; es gibt schlechte Zeiten und gute,« sagte Frau Morel. Aber sie hatte dem Geschirrmann vergeben. Sie waren Freunde. Nun wagte sie, sein Geschirr zu berühren. Sie war so glücklich.

Paul wartete auf sie. Er liebte ihr Heimkommen. Dann war sie immer ganz auf der Höhe – siegesfroh, müde, beladen mit Packen, fühlte sich reich im Geiste. Er hörte ihren raschen, leichten Schritt im Eingang und sah von seiner Zeichnung auf.

»Oh!« seufzte sie, während sie ihm von der Tür her zulächelte.

»Wahrhaftig, du hast aber auch 'ne Ladung!« rief er und legte seinen Pinsel hin.

»So!« pustete sie. »Annie, die freche, wollte mich treffen. So 'ne Ladung!« Sie ließ ihr Netz und ihre Packen auf den Tisch fallen.

»Ist das Brot fertig?« fragte sie, auf den Ofen zugehend.

»Das letzte geht erst auf,« erwiderte er. »Du brauchst nicht nachzusehen, ich habe es nicht vergessen.«

»O dieser Geschirrmann!« sagte sie, die Ofentür schließend; »du weißt doch noch, wie ich ihn immer für einen Ekel erklärte? Na, ich glaube, er ist doch nicht ganz so eklig.«

»Nein?«

Der Junge hörte aufmerksam zu. Sie nahm ihren kleinen schwarzen Hut ab.

»Nein. Ich glaube, der kommt nicht zu Gelde – na ja, das sagen sie heute alle – und das macht ihn so eklig.«

»Mich würde es das jedenfalls,« sagte Paul.

»Na ja, man kann sich auch nicht drüber wundern. Und er hat sie mir für – was meinst du, für wieviel hat er mir die gegeben?«

Sie wickelte die Schüssel aus ihrem Stück Zeitungspapier und blieb dann stehen, sie voller Freude betrachtend.

»Zeig mal!« sagte Paul.

Selig über ihre Schüssel standen die beiden nebeneinander.

»Ich habe zu gern Kornblumen auf so Sachen,« sagte Paul.

»Ja, und ich dachte an den Teetopf, den du mir gekauft hast ,...«

»Einen Schilling dreißig,« sagte Paul.

»Einen halben Schilling!«

»Das ist nicht genug, Mutter.«

»Nein. Weißt du, ich habe mich auch gradezu mit ihr weggedrückt. Aber es wäre reine Verschwendung gewesen, ich hätte nicht mehr geben können. Und er hätte sie mir ja nicht zu geben brauchen, wenn er nicht gewollt hätte.«

»Nein, das hätte er nicht, gewiß nicht,« sagte Paul, und die beiden redeten sich gegenseitig die Furcht aus, sie hätte den Geschirrmann beraubt.

»Da können wir Backobst drin haben,« meinte Paul.

»Oder Eierstich, oder Sülze,« sagte seine Mutter.

»Oder Radieschen und Salat,« sagte er.

»Vergiß das Brot nicht,« sagte sie, ihre Stimme hell vor Freude.

Paul sah in den Ofen; er klopfte das Brot auf die Unterseite.

»'s ist fertig,« sagte er und reichte es ihr.

Sie beklopfte es ebenfalls.

»Ja,« sagte sie und ging an das Auspacken ihres Netzes. »Oh, was für'n böses, verschwenderisches Frauenzimmer ich bin. Ich weiß bestimmt, ich komme noch mal in Not.«

Eifrig hüpfte er an ihre Seite, um ihre neueste Verschwendung kennen zu lernen. Sie entfaltete ein anderes Stück Zeitungspapier und enthüllte ein paar Stiefmütterchen- und Marienblümchenpflanzen.

»Vier Pence!« seufzte sie.

»Wie billig!« rief er.

»Ja, aber grade diese Woche hätte ich sie mir nicht leisten können.«

»Aber wie entzückend!« rief er wieder.

»Nicht!« rief auch sie und ließ ihrer Freude freien Lauf.

»Sieh mal, dies gelbe hier, Paul, ist das nicht – und ein Gesicht genau wie ein alter Mann!«

»Genau!« rief Paul und bückte sich, um dran zu riechen.

»Und riecht so wunderschön! Aber er ist ein bißchen schmutzig.«

Er lief in die Spülküche, kam mit einem Wolläppchen wieder und wusch das Stiefmütterchen vorsichtig.

»Nun sieh ihn dir mal an, nun er naß ist!« sagte er.

»Ja!« sagte sie, übervoll von Befriedigung.

* * *

Die Kinder der Scargill-Straße hielten sich für etwas ganz Auserlesenes. An dem Ende, wo die Morels lebten, gab es nicht viel Jugend. Daher hielten die wenigen noch mehr zusammen. Jungens und Mädchen spielten zusammen; die Mädchen nahmen an den Prügeleien und ruppigen Spielen der Jungens teil, die Jungens beteiligten sich an den Tänzen, Ringspielen und kleinen Aufführungen der Mädchen.

Annie, Paul und Arthur liebten die Winterabende, wenn es nicht naß war. Sie blieben dann drinnen, bis alle Bergleute zu Hause waren, bis es ganz dunkel war und die Straßen menschenleer sein würden. Dann banden sie sich ihre Halstücher um, denn Mäntel verachteten sie wie alle Bergmannskinder, und gingen hinaus. Der Eingang war sehr dunkel, und vor ihm erschloß sich die ganze große Nacht in einer Höhlung, mit einem kleinen Lichterbüschel drunten, wo die Mintongrube lag, und noch einem anderen weiter weg, drüben bei Selby. Die entferntesten winzigen Lichter schienen die Dunkelheit bis in die Unendlichkeit auszurecken. Gespannt blickten die Kinder die Straße hinunter nach dem einen Laternenpfahl, der am Ende des Feldwegs stand. War der kleine erleuchtete Platz leer, so fühlten sich die beiden Jungens wahrhaft verlassen. Mit den Händen in den Taschen standen sie unter der Laterne, den Rücken der Nacht zugekehrt, ganz jämmerlich, und beobachteten die dunklen Häuser. Plötzlich wurde eine Schürze unter einem kurzen Mantel sichtbar, und ein langbeiniges Mädchen kam herbeigeflogen.

»Wo 's Billy Pillins un eure Annie un Eddie Dakin?«

»Weiß nich.«

Aber darauf kam es auch gar nicht so sehr an – sie waren nun zu dritt. Sie fingen ein Spiel um den Laternenpfahl an, bis auch die andern kreischend herbeistürzten. Dann ging das Spiel rasch und wild.

Es gab nur diesen einen Laternenpfahl. Dahinter lag der große Kessel der Dunkelheit, als läge dort die ganze Nacht. Vor ihm erschloß sich ein anderer, weiter, dunkler Weg über den Gipfel des Hügels. Gelegentlich kam einmal jemand aus diesem Wege heraus und schritt in das tiefer liegende Feld hinunter. Nach einem Dutzend Schritte hatte die Nacht ihn verschlungen. Die Kinder spielten weiter.

Durch ihre Einsamkeit wurden sie einander besonders nahegebracht. Kam es zu einem Krach, so war das ganze Spiel hin. Arthur war sehr empfindlich, und Billy Pillins, eigentlich Philipps, noch mehr. Dann mußte Paul sich auf Arthurs Seite schlagen, und auf Pauls Seite trat Alice, während Billy Pillins immer Emmi Limb und Eddie Dakin hinter sich hatte. Dann prügelten sich die sechse, haßten sich mit aller Wut und flogen voller Schrecken nach Hause. Paul vergaß nie, wie er nach einer dieser wilden mörderischen Schlachten einen großen roten Mond sich erheben sah, langsam, mitten auf der weiten Straße über den Gipfel des Hügels empor, gleichmäßig rasch, wie ein großer Vogel. Und er dachte an die Bibel, wie der Mond zu Blut verwandelt werden würde. Und am nächsten Tage wurde er schleunigst wieder gut Freund mit Billy Pillins. Und dann nahmen die wilden, hastigen Spiele um den Laternenpfahl wieder ihren Fortgang, umgeben von all der Dunkelheit. Wenn Frau Morel in ihr Wohnzimmer trat, konnte sie die Kinder singen hören:

»Von span'schem Leder sind meine Schuh,

Seide deckt mir die Waden,

Am Finger trag ich einen Ring,

In Milch kann ich mich baden.«

Es klang, als gingen sie vollständig in ihrem Spiele auf, wie ihre Stimmen so durch die Nacht tönten, daß etwas darin lag, als sängen Wilde. Es regte die Mutter förmlich auf; und kamen sie um acht Uhr rotbackig mit glänzenden Augen und raschen, leidenschaftlichen Reden herein, so verstand sie sie.

Sie alle liebten das Haus in der Scargill-Straße wegen seiner freien Lage, wegen der großen Weltmuschel, die vor seinen Blicken ausgebreitet lag. An Sommerabenden pflegten die Frauen sich gewöhnlich bei ihrem Klatsch gegen den Zaun zu lehnen, den Blick nach Westen zu, und den Sonnenuntergang rasch emporflammen zu sehen, bis die Zackenkrone der Derbyhügel sich gegen das brennende Rot wie der Kamm eines Wassermolches abhob.

In dieser Sommerzeit arbeiteten die Gruben niemals die volle Zeit, besonders die für weiche Kohle nicht. Dann konnte Frau Dakin, die neben Morels wohnte, wenn sie nach dem Feldzaun hinüberging, um ihre Herdmatte auszuschütteln, ein paar Männer ausfindig machen, die langsam den Hügel hinantrabten. Sie sah sofort, es waren Bergleute. Dann wartete sie, ein langes, dünnes, bösartig aussehendes Frauenzimmer, oben auf dem Hügel stehend, fast wie eine Drohung gegen die armen Bergleute, die sich den Hügel heraufquälten. Es war erst elf Uhr. Auf den fernen bewaldeten Hügeln hatte sich der Dunst, der einem schönen Sommermorgen wie ein feiner schwarzer Schleier nachhängt, noch nicht zerstreut. Der erste Mann kam an den Übergang. »Klapp-klapp!« ging das Gatter unter seinem Stoß.

»Wat, habt'r schon ufjehört?« rief Frau Dakin.

»Jawoll, Frau.«

»'n Jammer, det se euch wegschicken,« sagte sie spöttisch.

»Ja, det is't,« erwiderte der Mann.

»Na, ihr wißt ja, ihr seid fix wieder dabei,« meinte sie.

Und der Mann zog weiter, Frau Dakin aber erspähte, während sie ihren Hof durchschritt, Frau Morel, die ihre Asche zur Aschengrube brachte: »Ick jloobe, Minton hat ufjehört, Frau,« rief sie.

»Ist es nicht zum Übelwerden!« rief Frau Morel zornig.

»Ha! Ich habe jrade Jont Hutchby jesehen!«

»Dann hätten sie auch ihr Schuhleder sparen können,« sagte Frau Morel. Und beide Frauen gingen entrüstet hinein.

Die Bergleute trabten mit kaum geschwärzten Gesichtern heim. Morel haßte es, nach Hause zu gehen. Er liebte einen sonnigen Morgen. Aber er war zur Arbeit nach der Grube gegangen, und wieder nach Hause geschickt zu werden verdarb ihm die Laune.

»Guter Gott, um diese Zeit?« rief seine Frau bei seinem Eintritt aus.

»Kann ick det helfen, Frau?« schrie er.

»Und ich habe nicht halb genug Mittagessen.«

»Denn eß ick det bißken, wat ick mich mitjenommen habe,« grölte er feierlich. Er schämte sich und fühlte sich zerschlagen.

Und wenn die Kinder aus der Schule nach Hause kamen, wunderten sie sich, ihren Vater zum Mittagessen die beiden dicken und schon recht trocknen Scheiben Butterbrot essen zu sehen, die den Weg zur Grube und zurück gemacht hatten.

»Warum ißt Vatter denn nun sein Frühstück?« fragte Arthur.

»Det würde mich ja noch an den Kopp jeschmissen, wenn ick et nich äße,« schnaubte Morel.

»Was für Geschichten!« rief seine Frau aus.

»Kommts denn vielleicht um?« sagte Morel. »Ick bin keen so'n ausschweifendes Wesen wie ihr alle zusammen, mit eure Verschwendung. Wenn ick mal in die Jrube en Stückchen Brot fallen lasse, in all den Staub und Dreck, denn heb ick et fein wieder uf und esse et.«

»Sonst äßen es die Mäuse,« sagte Paul. »Es käme schon nicht um.«

»Jutes Brot un Butter is aber nich für Mäuse,« sagte Morel. »Dreckig oder nich dreckig, ick esse et lieber, als det ick et umkommen lasse.«

»Du könntest es auch für die Mäuse liegen lassen und es aus deinem nächsten Halben bezahlen,« sagte Frau Morel.

»So, könnt' ich det?« rief er.

* * *

Diesen Herbst waren sie sehr arm. William war grade nach London gegangen, und seine Mutter vermißte sein Geld sehr. Er schickte ein- oder zweimal zehn Schilling, aber zunächst hatte er vielerlei zu bezahlen. Seine Briefe kamen regelmäßig einmal die Woche. Er schrieb seiner Mutter recht ausführlich, erzählte ihr sein ganzes Leben, wie er Freundschaften schlösse, und sich mit einem Franzosen gegenseitig Unterricht gebe, und welche Freude ihm London mache. Nun fühlte seine Mutter wieder, er sei für sie doch derselbe geblieben, der er zu Hause gewesen war. Jede Woche schrieb sie ihm ihre schlichten, recht witzigen Briefe. Den ganzen Tag dachte sie an ihn, während sie das Haus reinmachte. Er war in London: ihm würde es schon gut gehen. Er kam ihr fast wie ihr Ritter vor, der ihre Farben in die Schlacht trug.

Weihnachten sollte er auf fünf Tage kommen. Noch nie hatte es solche Vorbereitungen gegeben. Paul und Annie durchforschten das Land nach Stechpalmen und Immergrün. Annie machte hübsche Papierreifen nach altväterischer Weise. Und in der Speisekammer herrschte eine ganz unerhörte Üppigkeit. Frau Morel backte einen großen, prächtigen Kuchen. Dann zeigte sie Paul, mit den Gefühlen einer Königin, wie man Mandeln bleicht. Ganz ehrfürchtig zog er die langen Kerne ab und zählte alle, damit auch ja keiner verloren ging. Es hieß, Eier ließen sich am besten in der Kälte zu Schaum schlagen. Daher stand der Junge in der Spülküche, wo die Luft beinahe auf den Gefrierpunkt heruntergegangen war, und schlug und schlug, und flog dann ganz aufgeregt zu seiner Mutter, als das Eiweiß schneeiger und steifer wurde.

»Sieh doch mal, Mutter! Ist das nicht reizend?«

Und er ließ ein Stückchen auf seiner Nase tanzen und blies es dann in die Luft.

»Nun, laß ja nichts umkommen!« sagte die Mutter.

Jedermann war verrückt vor Aufregung. William sollte am Weihnachtsabend kommen. Frau Morel überblickte ihre Speisekammer. Da lag ein großer Pflaumenkuchen und ein Reiskuchen, Fruchttorten, Zitronentorten, und Fleischpastete – zwei Riesenschüsseln. Sie kam mit ihrer Kocherei zu Ende – spanische Törtchen und Käsekuchen. Überall wurde Schmuck angebracht. Der Küssezweig aus Stechpalmen mit Beeren dran, mit glänzenden und leuchtenden Sachen durchwunden, drehte sich langsam über Frau Morels Haupte, während sie ihre kleinen Törtchen in der Küche zurechtmachte. Ein großes Feuer brauste. Es roch nach backendem Teig. Um sieben sollte er kommen, aber er würde wohl Verspätung haben. Die drei Kinder waren ihm entgegengegangen. Sie war allein. Aber um ein Viertel nach sieben kam Morel wieder nach Hause. Weder Mann noch Frau sagte ein Wort. Er setzte sich in seinen Armstuhl, ganz wunderlich vor Aufregung, und sie fuhr ruhig mit ihrem Backen fort. Nur aus der sorgfältigen Art und Weise, wie sie die Sachen anfaßte, hätte man schließen können, wie aufgeregt sie war. Die Uhr tickte weiter.

»Wat sagste, wieviel Uhr kommt er?« fragte Morel zum fünften Male.

»Der Zug kommt um halb sieben,« antwortete sie mit Nachdruck.

»Denn is er zehn Minuten nach sieben hier.«

»I bewahre, auf der Mittelland hat er stundenlange Verspätung,« sagte sie gleichgültig. Aber dadurch, daß sie ihn erst spät erwartete, hoffte sie ihn bald herbeizubringen. Morel ging zum Eingang, um nach ihm auszusehen. Dann kam er wieder.

»Meine Güte, Mann, du bist ja wirklich wie 'ne Klucke, die nicht sitzen will.«

»Wär et nich besser, du machtest ihn en bißken zu essen fertig?« fragte der Vater.

»Dazu ist noch viel Zeit,« antwortete sie.

»Kann ick nich finden,« antwortete er und drehte sich verdrießlich in seinem Stuhle um. Sie begann den Tisch frei zu machen. Der Kessel summte. Sie warteten und warteten.

Währenddessen standen die Kinder auf dem Bahnsteig zu Sethley-Brücke, an der Mittelland-Hauptstrecke, drei Meilen vom Hause. Sie warteten eine Stunde. Ein Zug kam – er war nicht drin. Die Strecke entlang glänzten rote und grüne Lichter. Es war sehr dunkel und sehr kalt.

»Frag ihn mal, ob der Zug von London schon da ist,« sagte Paul zu Annie, als sie einen Mann mit einer Dienstmütze sahen.

»Fällt mir nicht ein,« sagte Annie. »Sei man ruhig, sonst jagt er uns noch weg.«

Paul hätte sein Leben drum gegeben, den Mann wissen zu lassen, sie erwarteten jemand mit dem Zuge von London: es klang so großartig. Er war indessen viel zu verschüchtert, sich an einen Mann heranzumachen, und noch dazu einen mit einer Schirmmütze, und ihn etwas zu fragen. In den Warteraum mochten die drei Kinder kaum gehen, weil sie fürchteten weggeschickt zu werden, und außerdem könnte sich doch etwas ereignen, während sie nicht auf dem Bahnsteig wären. So warteten sie in Dunkelheit und Kälte weiter.

»Anderthalb Stunden Verspätung hat er,« sagte Arthur ganz feierlich.

»Ja,« sagte Annie, »es ist aber auch Weihnachtsabend.«

Sie verstummten alle drei. Er würde nicht kommen. Sie sahen durch die Dunkelheit die Strecke hinab. Dort lag London! Das erschien ihnen die allerweiteste Entfernung. Sie dachten, wenn jemand von London käme, könnte ihm alles mögliche zustoßen. Sie waren viel zu unruhig, um zu reden. Kalt, unglücklich, stumm drängten sie sich auf dem Bahnsteig aneinander.

Endlich, nach mehr als zwei Stunden, sahen sie die Lichter einer Maschine um die Ecke blinzeln, weit weg in der Dunkelheit. Ein Kofferträger kam herausgerannt. Mit klopfenden Herzen drängten die Kinder sich rückwärts. Zwei Türen öffneten sich, und aus einer trat William. Sie flogen auf ihn zu. Fröhlich übergab er ihnen ein paar Pakete und begann ihnen sofort zu erklären, der große Zug habe nur seinethalben auf einer so kleinen Stelle wie Sethley-Brücke gehalten: nach dem Fahrplan brauchte er das nicht.

Inzwischen wurden die Eltern ängstlich. Der Tisch war gedeckt, das Rippenstück gebraten, alles war fertig. Frau Morel band ihre schwarze Schürze vor. Sie hatte ihr bestes Kleid an. Dann setzte sie sich und tat, als lese sie. Jede Minute war ihr eine Qual.

»Hm!« sagte Morel. »Nu is et anderthalb Stunden.«

»Und die Kinder warten da!« sagte sie.

»Der Zug kann noch nich da sein,« sagte er.

»Ich sag dir ja, Weihnachtsabend haben sie stundenlange Verspätung.«

Sie waren beide etwas kratzig gegeneinander, so nagte die Angst an ihnen. Draußen seufzte der Eschenbaum im kalten, rauhen Winde. Und die ganze lange Nachtstrecke von London bis nach Hause! Frau Morel litt. Das leichte Ticken des Uhrwerks reizte sie. Es wurde so spät; es wurde allmählich unerträglich.

Schließlich ertönte das Geräusch von Stimmen und ein Schritt im Eingang.

»Da is er!« rief Morel und sprang auf.

Dann trat er zurück. Die Mutter lief ein paar Schritte auf die Tür zu und wartete. Dann kam ein Sturm und das Klappern von Fußtritten, die Tür flog auf. William war da. Er ließ seine Handtasche fallen und schloß seine Mutter in die Arme.

»Mater!« sagte er.

»Mein Junge!« rief sie.

Und zwei Sekunden lang, nicht länger, umhalste und küßte sie ihn. Dann trat sie zurück und sagte, mit einem Versuch, sich ganz wie sonst zu benehmen: »Aber wie spät du kommst!«

»Ja, nicht wahr?« rief er, sich zu seinem Vater wendend.

»Na, Vater?«

Die beiden Männer schüttelten sich die Hand.

»Na, mein Junge?«

Morels Augen waren feucht.

»Wir dachten schonst, du kämst jar nich mehr,« sagte er.

»Oh, ich wäre schon gekommen!« rief William.

Dann wandte der Sohn sich wieder seiner Mutter zu.

»Aber du siehst wohl aus!« sagte sie mit stolzem Lachen.

»Wohl!« rief er. »Das sollt ich meinen – wenn man nach Hause fährt.«

Er war ein hübscher Bursche, groß, aufrecht und mit furchtlosem Ausdruck. Er sah sich nach dem Immergrün und dem Kußstrauße um, und den kleinen Törtchen, die in ihren Formen auf dem Herde lagen.

»Bei Gott, Mutter, alles wie sonst!« sagte er wie erlöst.

Alle schwiegen eine Sekunde. Dann sprang er plötzlich vorwärts, ergriff eins der Törtchen vom Herde und steckte es ganz in den Mund.

»Nanu, haste schon mal so 'nen Backofen jesehen!« rief der Vater.

Er hatte ihnen endlose Geschenke mitgebracht. Jeden Groschen, den er besaß, hatte er dafür ausgegeben. Ein Gefühl von Prachtliebe überflutete das Haus. Für seine Mutter war da ein Regenschirm mit Gold an dem blassen Handgriff. Sie behielt ihn bis an ihren Sterbetag und hätte lieber alles andere verloren als ihn. Jeder bekam etwas Prächtiges, und außerdem kamen noch pfundweis unbekannte Süßigkeiten: türkischer Honig, eingezuckerte Ananas und ähnliche Dinge, die, wie die Kinder glaubten, nur der Glanz Londons herbeischaffen könne. Und Paul prahlte mit diesen Süßigkeiten vor seinen Freunden.

»Richtige Ananas, in Scheiben geschnitten und dann zu Eis gemacht – einfach großartig!«

Sämtliche Hausgenossen waren verrückt vor Glücksgefühl. Ihr Heim war ihr Heim, und sie liebten es mit wahrer Leidenschaft, einerlei welcher Art ihre Leiden gewesen waren. Nun gabs Gesellschaften und Freudenfeste. Leute kamen, um William zu besuchen und zu sehen, wie London ihn wohl verändert habe. Und alle fanden sie, »er wäre so'n feiner Herr und so'n hübscher Kerl, aufs Wort«.

Als er wieder fortging, zogen die Kinder sich jedes in eine Ecke zurück, um sich dort auszuweinen. Morel ging ganz jämmerlich zu Bett, und Frau Morel kam es vor, als sei sie durch irgendein Schlafmittel betäubt, als seien ihre Gefühle gelähmt. Sie liebte ihn leidenschaftlich.

Er war im Geschäft eines Rechtsanwalts, der mit einer großen Reederei in Verbindung stand, und um Mittsommer bot sein Vorgesetzter ihm eine Reise durchs Mittelmeer auf einem ihrer Schiffe an, für sehr wenig Geld. Frau Morel schrieb: »Geh, geh, mein Junge. Du hast vielleicht nie wieder Gelegenheit dazu, und ich möchte dich mir beinahe lieber im Mittelmeer herumkreuzend vorstellen als dich hier zu Hause haben.« Aber William kam für seine vierzehn Tage Freiheit doch nach Hause. Selbst das Mittelmeer, das an all seinen Jünglingswünschen nach Reisen zerrte und an seiner Armen-Manns-Erwartung von der Farbenpracht des Südens, vermochte nicht ihn davon abzuhalten, nach Hause zu gehen, sobald er es konnte. Das entschädigte seine Mutter für vieles.

Söhne und Liebhaber (Band 1&2)

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