Читать книгу Alte Anker rosten nicht - Dagmar Maria Toschka - Страница 8
3. Untergehende Fische
Оглавление»Schon eingelebt?« Mit lautem Seufzen setzte sich Kapitän Krappmann neben mich. Er roch nach Minze und Tabak. Seine Stimme klang, als würde sie ganz tief aus dem Bauch kommen und durch seinen ganzen Körper strömen. Wie ein Brummen. Er war ein Mann der kurzen Sätze. Für jeden schien er tief Luft zu holen und sie dann mit dem Satz zusammen auszustoßen. Endete der Atem, endete der Satz.
»Man schreibt bereits Gedichte über mich«, berichtete ich.
»Oh.« Er legte seinen Kopf ein wenig schief und sah mich streng von der Seite an. Dann gab er der Crew an der Bar, die etwa 20 Meter hinter uns stand, ein Zeichen. Dort reagierte man sofort. Es dauerte nicht lange, und eine junge Frau kam mit einem Tablett auf uns zu. Darauf zwei Kaffees und für mich ein orangefarbener Drink. Er prostete mir mit seiner Tasse zu.
Der letzte Strohhalm, an den ich mich gerade klammerte, steckte also in einem Cocktail. Der schmeckte bitter und süß zugleich.
»Die Sache mit dem Gedicht missfällt Ihnen?«, fragte ich.
»Kommt darauf an, wer es schreibt.«
Ich schaute auf seine Hand, die seine Tasse hielt. Sie war groß und kräftig, so wie er selbst, und längst nicht so gepflegt wie die von Behorn. Johannes Krappmann war ein rustikaler, handfester Mann. Hinter uns hörte ich Gäste, die vom Essen kamen. Sie verteilten sich in die Sessel und begannen Unterhaltungen. Eine Durchsage lud alle Passagiere in den Salon zu einer Sicherheitsübung ein. Krappmann klopfte mir sanft auf den Oberschenkel, er müsse wieder. Schon stand er auf, um zu gehen, was ich schade fand, denn seine Gegenwart beruhigte mich. Ich war so frei, ihm unverhohlen auf den Po zu schauen, als ich ihm nachsah. Etwas, was ich vor Jahrmillionen, kurz nach Erkalten der Erdmasse, das letzte Mal getan hatte. Bei Adi.
Ich blieb auf meinem Sofa, harrte der Dinge, die da sicherheitstechnisch auf mich zukommen sollten, und stopfte mir eins der Kissen unter den Kopf, während sich der Salon hinter mir langsam füllte. Die hellen Holzrahmen der Fenster und das frische Blau der Möbel gaben der Lounge etwas Freundliches, auch wenn das Wetter draußen grau wirkte. Eine kleine Gruppe schob sich zwei Meter von mir entfernt ein paar Sessel zurecht. Einer von ihnen, ein Herr im dunkelgrauen Pullunder, war mir schon in der Mittagessensschlange aufgefallen. Er hörte nicht auf, sich zu beklagen, und sprach wie in einer Dauerschleife mit jedem, der sich in Hörweite befand. Allerdings trat nun ein anderer Mann hinzu, der so laut redete, dass er nicht nur den Dauerredner zum Verstummen brachte, sondern den halben Salon unterhielt. Er wolle nichts Negatives mehr hören, damit solle der Herr Dauerredner jetzt mal aufhören, es wäre Urlaub, und dieses schwimmende Luxuszuhause sei super. Der Lautredner trug eine Goldkette mit riesigen Gliedern um den Hals, in seinem Haar steckte eine bunt verspiegelte Sonnenbrille, und seine kräftigen Oberschenkel schienen seine zerlöcherten Jeans fast zu sprengen. Auf seinem schwarzen T-Shirt stand in goldenen Lettern »SAUNABOY«. Darunter ein paar Tropfen, ebenfalls in Gold, die offenbar Schweiß symbolisierten. Wo er sich positionierte, unterhielt man sich entweder mit ihm oder gar nicht. An seiner Hand zappelte eine zierliche Endzwanzigerin mit blondem Pferdeschwanz, die nicht viel sagte, dafür aber nach jedem seiner Sätze lachte. Auch sie trug eine bunt verspiegelte Sonnenbrille im Haar. Man fragte sich, wo die beiden bei dieser Wetterlage Sonne erwarteten, aber vielleicht wussten sie da mehr als ich. Er gehörte zu dem Typ Mann, der sich offensichtlich nicht unterhalten wollte. Der wollte einem nur etwas sagen. Wäre ich nicht so erledigt und vielleicht auch angetrunken gewesen, hätte ich schnell das Weite gesucht, zumindest so weit, dass ich ihm nicht mehr hätte zuhören müssen. Ich schloss die Augen.
Irgendwann spürte ich meinen Rücken. Mühsam richtete ich mich auf. Ein junger Steward räumte Schwimmwesten weg, die Passagiere drängelten sich an der Bar. Ich musste eingeschlafen sein und wusste nun nichts darüber, wie ich zu retten war. Mist, gerade dieses Wissen hätte ich so gut gebrauchen können. Herr Behorn näherte sich mit ausgebreiteten Armen und einem strahlenden Lächeln. Seine Bräune erinnerte an sonnigere Zeiten.
»Da sind Sie ja noch, wie schön.«
Er stellte sich vor mich hin, schaute mir einen Moment lang schweigend in die Augen und lud mich dann zu einem Champagner ein. Während er zur Bar lief, um den zu holen, kam Maike zu mir aufs Sofa. Sie schwärmte von den tollen Drinks an der Bar und von Herrn Behorn.
»Das ist ein richtig netter Mann. So gepflegt. Ich glaube, der ist sehr belesen.«
Er selbst kam nicht zurück. Aber Enni mit einer lila Nylontasche. Aus der zog sie ihre Plastikdose hervor, um uns etwas aus ihrem Fundus von Selbstgebackenem anzubieten. Etwas umständlich schob sie sich einen Sessel, der schwerer war, als er aussah, zu unserem Sofa. »Nachtisch, Mädels. Der ist besser als das Zeug vom Buffet. Und das ist schon nicht schlecht.«
Um nicht unhöflich zu sein, aber auch, weil ich inzwischen Hunger hatte, nahm ich ein paar Plätzchen. Zu dritt knabberten wir ihr Gebäck und schauten unseren Mitreisenden beim Leben zu, wie sie sich mit Getränken versorgten, lachten, miteinander plauderten und trotz der grauen Nieselsoße draußen aus den großen Fenstern fotografierten.
Enni schleckte eines ihrer Schokoplätzchen ab. »Der Behorn, Mädels, der isses. Wie der mich ansieht, da wird mir alles feucht. So was wie den an meiner Seite traut mir niemand zu. Aber ich sage euch«, wieder streckte sie ihre Zunge heraus, um genüsslich an ihrem Plätzchen zu lecken, »den habe ich verdient nach all den Pleiten.«
Rein äußerlich konnten die beiden kaum unterschiedlicher wirken. Behorn sah mit seiner Eleganz aus, als wäre er einer Vorabendserie entsprungen. Enni wirkte dagegen ungepflegt und wenig stilvoll. Obwohl mein letzter Drink eine Weile her war, fühlte ich mich angeheitert. Ich erhob einen Finger in Richtung Bar, und tatsächlich reagierte man darauf. Ohne dass ich mit jemandem sprach, brachte man mir einen Cocktail in Türkis. Dabei wollte ich nur Wasser. Die Alkoholversorgung lief hier wie am Schnürchen. Als Nächstes verlegte man sicher bald eine Pipeline direkt in meinen Mund. Ich wünschte Enni viel Glück mit Herrn Behorn. Es war immer schön, wenn sich jemand verliebte. Ich hatte erst mal ausgeliebt. Mein Drink schmeckte nach Curacao. Dort wollte ich immer schon einmal hin.
»Auf nach Curacao!«, hörte ich mich rufen und griff erneut in Ennis rote Dose. Ich fing an, mich an ihre etwas herb schmeckenden Plätzchen zu gewöhnen.
»Nicht so hastig, nimm vielleicht nicht so viele auf einmal.« Sie klang ermahnend wie eine Mutter, die verhindern wollte, dass man sich den Magen verdarb.
Krappmann kam, und ich wollte aufstehen, um diesen aparten Mann, der die Geschicke unseres Schiffes lenkte, zu begrüßen. »Hallo, Herr Krappitän«, sagte ich, als mich unerwartet ein blauer Fisch ansprang. Nein, ich fiel ihm entgegen. Es roch plötzlich ein wenig nach Turnhalle. Ich lag auf dem Boden, Auge in Auge mit den Fischen auf dem Teppichmuster. Dieser Geruch mischte sich mit Pfefferminze und Tabak, als Krappmann sich zu mir herunter beugte. Vorsichtig versuchte er mich aufzurichten. Er rief nach einem Wasser.
Ich schlang meine Arme um seinen Hals und zog seinen Kopf nah an mich heran. »Ich weiß leider nicht, wie man mich rettet. Habe die Einweisung verschlafen. Ist das nicht verboten?«
»Oh ja, das ist strengstens untersagt, aber vielleicht pausieren wir mal kurz mit den Cocktails.«
»Warum?«
»Duschen Sie kalt.«
»Mit Ihnen?«
Hatte ich das wirklich gesagt? Das sah mir gar nicht ähnlich. Ich versuchte aufzustehen. Beim Versuch zu gehen flog mir jedoch einer dieser schlecht riechenden Fische wieder entgegen. Schwammen die hier überall herum? Sanken wir? Ach, was machte das schon. Dann ging ich eben unter. Adieu, Adi. Ich tauche ab. Krappmann half mir wieder hoch.
»Ich zeige Ihnen jetzt mal, wo die Dusche ist«, sagte er.
»Oh ja! Zeigen Sie mir, wo der Frosch die Locken hat.«
Der Mann trug mich. Gab’s hier eine Türschwelle? Nein, nein, falscher Film. Bei jedem Schritt wippte die Welt. Hatte Adi mich seinerzeit eigentlich über eine Schwelle getragen? Ich erinnerte mich nicht mehr, aber ich war da schon sehr schwanger und wahrscheinlich viel zu schwer. Krappi machte seine Sache gar nicht schlecht. Heidewitzka, Herr Krappitän. Eine Welle, nein, eine Treppe. Der Mann war stark, ich wog jetzt auch ohne Kind im Bauch so viel wie damals. Vor allem mein Kopf war sehr schwer geworden, der wog bestimmt zehn Kilo mehr als noch heute Morgen.
»Fliegen wir nach Curacao?«, fragte ich.
»Aber ja.«
»Jetzt?«
»Gleich morgen früh.«
»Dann muss ich packen.«
»Nach dem Duschen.«
»Ist gut.« Er trug mich durch das Flussbett, den Kabinengang entlang. »Ach Krappi, haust du Adi eine runter?«
»Mach ich.«
»Wann?«
»Gleich morgen früh.«
»Gut.«
Er ließ mich herunter, meine Knie knickten ein. Maike tauchte auf, öffnete die Tür. Die beiden legten mich auf mein Bett. Da würde ich liegen bleiben bis ans Ende meiner Tage und konnte die Fische essen, die hier überall herumsprangen. Ich müsste nicht mal aufstehen dafür. Sollte sich die Welt ruhig ohne mich weiterdrehen. Es wurde leise.
Ich hörte Wasser rauschen und rief nach Adi, bevor mir dämmerte, wo ich mich befand.
Barfuß und mit tropfenden Haaren tapste Maike, in ein Handtuch gewickelt, aus dem Bad ins Zimmer.
»Ich bin’s nur. Hast du gut geschlafen?«
»Meine Zunge wiegt ’ne Tonne.«
»Am besten kombinierst du nicht so viel Alkohol mit Ennis Plätzchen.«
Maike machte sich fertig für den Volkssport hier an Bord: essen. In diesem Fall Abendessen.
Krappmann wollte, dass ich kalt dusche. Hatte ich? Hatten wir zusammen? Ich sah an mir herunter und war nicht nur bekleidet, sondern auch trocken. Wohl nicht. Oder ich war komplett vertrocknet. Meinen Kopf anzuheben fiel schwerer als gedacht. Auch die Beine spielten nicht so richtig mit. Die paar Meter bis zum Badezimmer erschienen mir recht weit. Einmal links um die Ecke, die freundlicherweise angeschrägt war, so kam man besser um sie herum. Dies war eigentlich der Ort der kurzen Wege. Liegend zog ich mich aus. Maike half mir auf und führte mich vorsichtig ins Bad, während ich mich an der abgeschrägten Ecke entlang abstützte. Wie konnte man nur so schnell altern? Ich fühlte mich wie hundert und ließ das Wasser in der Dusche auf mich herunterregnen. Ich schlief sonst nie am Tage. Saufen bekam mir nicht. Es half auch nicht. Maike brachte mir einen der weißen Bordbademäntel. Ein wenig erschöpft nach diesem Ausflug ins Bad setzte ich mich zu ihr aufs Bett. Sie sah mich an.
»Willst du mir nicht sagen, was wirklich los ist? Ich hatte Adi ein Dutzend Mal auf meiner Mailbox. Der schien ganz durcheinander und will dringend, dass du ihn zurückrufst.«
Mit noch immer schwerer Zunge wollte ich jenes Fiasko vor ihr ausbreiten, das meine Welt seit einer Woche aus den Fugen riss. Ich begann mit der Frau im ananasgelben Mantel vor meiner Haustür, als es an unserer Kabinentür Sturm klopfte.
Maike öffnete, und Enni, unsere liebestolle Nachbarin, brauste herein. Sie war sichtlich erregt, hatte doch der schöne Herr Behorn angekündigt, an unserem Tisch hinter der Dessertabteilung auf uns zu warten, damit wir zusammen zu Abend aßen. Maike ließ sich von Ennis Freude darüber anstecken. Man war gleich der Meinung, sich beeilen zu müssen, damit sich keine anderen Frauen zu ihm setzten, das ging gar nicht. Enni wollte nur noch kurz Make-up und Haare machen und in zehn Minuten zum Tisch eilen. Maike, nun ebenfalls ganz aufgekratzt, schloss die Tür hinter ihr und verfiel in Hektik. Dass ich nun meine Geschichte nicht erzählen musste, war mir recht. Sie zog mich zu sehr runter.
»Linda, hilf mir, ein schönes Tuch für meinen Turban auszusuchen, du hast doch Sinn für Farben.«
»Dieser Sinn sagt mir, du solltest es mal mit deinen eigenen Haaren versuchen.«
»Die taugen nicht zu einer Frisur.«
Ich deutete auf ein graues Tuch. Das schien mir am unauffälligsten. Zum ersten Mal in meinem Leben war es mir egal, wie ich aussah. Wieder drängte sich mir das Bild von der Frau in Gelb auf, wie bei einer Schallplatte, die festhing und ständig dieselbe Stelle abspielte. Maike aber ließ nicht locker und zog eine weiße Bluse mit schwarzer Hose samt grünem Seidenschal, den Flori mir Freitag zum Geburtstag geschenkt hatte, aus meinem Koffer. Beides legte sie aufs Bett, und ich zog mich schließlich an. Den Schal zu tragen fiel mir schwer. Ich hängte ihn an die Garderobe, die sich gleich rechts von der Kabinentür befand.
Seit einer Afrikareise im vorigen Jahr trug Maike diese Kaftane. Bodenlange Hängekleider, die sie verhüllten und in unseren Breitengraden etwas sonderbar wirkten. Sicher waren sie bequem. Schön fand ich sie nicht. Dazu trug sie Turbane, die sie aus Tüchern wickelte. Ich fand, man hatte das Recht, im Alter ein wenig sonderbar zu werden und sich auch so zu kleiden. Sie war jetzt Mitte 50. Der Gedanke, mir könnte es ähnlich ergehen, ließ mich schaudern. Sonderbar. Wie das schon klang. Das kam kurz vor aussortiert.
Maike legte ordentlich Make-up auf, schlang sich das graue Tuch um den Kopf und hielt sich für ausgehfertig. Als wir um kurz vor 17.30 Uhr auf den Gang traten, öffnete sich die Tür einer Nachbarkabine.
»Mama, jetzt komm, ich hab Hunger«, hörte ich eine tiefe Männerstimme. Es trat ein stämmiger Herr Anfang 40 auf den Gang mit einer älteren Dame, die nicht mehr gut zu Fuß war. Ungeduldig trottete er hinter ihr her. Freundlicherweise ließen sie uns an sich vorbei, während ich mich fragte, wie es sich wohl für einen Mann anfühlte, in diesem Alter noch das Bett mit der Mutter zu teilen. Vermutlich besser, als es für den Rest seines Lebens mit niemandem mehr zu teilen. Dagegen war Maike als Bettgenossin ein richtiges Schnäppchen.
Kurz vor der Rezeption kam uns eine ernst dreinschauende Dame in dunkelblauer Uniform entgegen. In ihrem kastanienbraunen Pagenkopf steckte eine Lesebrille. Sie ergriff meine Hand, schaute mir tief in die Augen und stellte sich als die Hoteldirektorin dieses Schiffes, Heike Hurter, vor. Für eine Sekunde hellte sich ihr Blick auf, und sie schenkte mir ein freundliches Lächeln, dann senkten sich ihre Gesichtszüge wieder herab. Wenn es mir an etwas fehlen würde, solle ich sie ansprechen, sie sei für das Wohlergehen der Passagiere an Bord zuständig und immer für mich da. Was für ein schönes Versprechen, dachte ich. Hier wollte man bleiben. Jetzt ergriff sie Maikes Hand, und alles wiederholte sich. Sie bat uns zu warten, damit sich die Crew den Gästen vorstellen konnte. Deshalb blieben wir im Gang vor dem bereits gut gefüllten Restaurantbereich stehen, der jetzt mit einer Kette abgesperrt war. Durch den Raumteiler aus Holzstreben sahen wir, wie man sich an den Tischen angeregt unterhielt. Vor uns sammelten sich Mannschaftsmitglieder in Uniform. Manche sprachen russisch, ein untersetzter Herr mit Ziegenbart plapperte ein paar Brocken nach und brachte damit den Rest der Truppe zum Lachen. Bei ihm klemmte etwas im Bart, was ich nicht einordnen konnte. Als er bemerkte, wo ich hinsah, kam er auf mich zu und zeigte es mir aus der Nähe.
Ein lachender Totenkopf aus Silber klemmte seinen bereits ergrauenden Bart in der Mitte zusammen. »Das ist eine Bartperle«, erklärte er. »Fassen Sie sie ruhig an.«
Das ging mir dann doch zu weit. Tatsächlich hatte ich so etwas noch nie gesehen. Er reichte mir seine Hand und stellte sich vor. »Ladislaus Stapetke, Erster Technischer Offizier an Bord.«
Sein kugelrunder Bauch war das Einzige, was zwischen uns stand, und der zog ihn leicht vornüber, sodass mir sein Gesicht recht nahe kam. Ich beugte mich zurück und stellte mich als einfache Passagierin vor.
»Für uns sind Sie alle etwas Besonderes«, war seine Reaktion, bevor er in die Reihe seiner Kollegen zurücktrat. Bei jedem neuen Gast unterbrachen sie ihre persönliche Unterhaltung für ein »Guten Abend« mit kurzem Lächeln. Alle trugen Uniformen mit und ohne Streifen. Auf ein Zeichen stellten sie sich hintereinander auf wie bei einer Polonaise. In dieser Stellung verharrten sie noch kurz, bis Krappmann, jetzt in blauer Kapitänsuniform, angerannt kam und sich an die Spitze dieses Zuges stellte. »Los, du Sonnensittich«, drängte ihn der Bartperlenträger. Es erklang festliche Musik, und alle marschierten in Reih und Glied ins Restaurant, wo die Gäste bereits Platz genommen hatten und schlagartig still wurden. Krappmann sprach einige Sätze der Begrüßung, gab dann das Mikro weiter an die Hoteldirektorin und verschwand wieder.
Wir Zuspätkommer standen noch immer im Gang und sahen alles durch die Holzstreben von hinten. Es duftete nach Fleisch und leckerem Gemüse. Enni kam in Stöckelschuhen, auf denen sie so unsicher lief, dass man ihr Krücken reichen wollte. Dazu trug sie ein knielanges hochzeitskleidweißes Glitzershirt und sah aus wie eine Braut, die man aus dem Wasser gefischt hatte. Ihre Haare standen hochtoupiert vom Kopf ab. Ein Anblick zum Davonlaufen.
Endlich durften wir zu unserem vereinbarten Tisch hinter den Desserts. In blütenweißem Hemd und lila Samtjackett saß dort bereits Herr Behorn. Er lächelte, deutete an, sich zu erheben, als wir uns an den Tisch setzten, und sagte ansonsten nichts. Er wirkte in allem, was er tat, jungenhaft und auf eigentümliche Weise unbeschwert. Auch hier am Tisch vermochte er es, die Laune seiner Umgebung positiv zu beeinflussen. Selbst einer durchhängenden Trauermaus wie mir tat er irgendwie gut.
Noch bevor einer von uns zum Buffet aufbrach, kam eine Kellnerin mit einem Gruß aus der Küche für jeden von uns. »Lorena« stand auf ihrem Namensschild. Ich schätzte sie kaum älter als 18. Im Haar trug sie lauter bunte Plastikspängchen, mit denen sie auch die letzte Strähne am Kopf fixierte. Jedem von uns servierte sie eine kleine Pastete. Während ich sie etwas fade fand, verzog Herr Behorn sein Gesicht, lief rot an und produzierte Schweißperlen auf seiner Stirn. Hektisch griff er nach seinem Wasserglas, trank es aus, dann Wein, Sekt, was immer er in die Finger bekam. Ich machte mir Sorgen um ihn, denn er bekam kaum Luft und lief rot an. Hustend stand er auf und kam erst nach einer ganzen Weile, immer noch mit rotem Gesicht, wieder zurück. Enni hörte nicht auf, mit Anzüglichkeiten um sich zu werfen. Ich war knapp davor, mich vor Scham aus dem Fenster zu stürzen. Dieses hier ließ sich allerdings nicht öffnen. Kurz schloss ich die Augen. Als ich am Morgen dieses Tages unser Haus verließ, wäre ich nie auf die Idee gekommen, dass ich nicht zurückkehren konnte. Jetzt war ich hier gefangen. Zumindest bis zum nächsten Hafen.
Ich öffnete die Augen wieder und schaute auf die kleinen, rundlichen Wellen des Wassers. Allmählich stellte sich eine Art Grundmüdigkeit ein. Vieles wurde einem einfach egal. Dieser dösige Zustand war nicht gut und auch nicht schlecht. Ich fühlte mich merkwürdig getrennt vom Rest der Welt, der da an Land geschäftig seinen Angelegenheiten nachging. So wie ich. Sonst.
Es wurde immer dunkler draußen, hier und da waren noch Lichter an Land zu sehen, aber es wurde immer anstrengender, etwas erkennen zu wollen, bis meine Augen schließlich müde aufgaben und alles zur grau-schwarzen Einheitsbrühe erklärten.
Der Club anonymer Steuerberaterinnen, wie ich das Vierertrüppchen Frauen im Twinset getauft hatte, ließ sich an einem der Nachbartische nieder. An ihnen sah man edle Perlen, teure Uhren und perfekte Frisuren. Ich seufzte. Meine Haare machten gerne, was sie wollten. Meine Naturkrause stand bei Regen in alle Richtungen ab, man bekam sie kaum gebändigt. Struwwelpeter war mein zweiter Vorname. Vielleicht sollte ich auch auf Maikes Turbankonzept zurückgreifen. So musste man sich nicht mehr um eine Frisur kümmern.
Ein Paar besetzte den Tisch gegenüber. Er sehr akkurat im Strickpullunder und grauer Stoffhose mit Bügelfalte. Die junge Frau mit wallender Mähne und blutrotem Lippenstift, ein südländischer Typ mit dunkler, makelloser Haut, um einiges jünger als er. Als sie ihr kleines Jäckchen auszog, entblößte sie zarte Schultern und ein Dekolleté so tief wie der Vesuv. Sie griff mit der Hand eine Haarsträhne und strich mit einer langsamen, lasziven Bewegung an dieser herunter bis auf die Spitze ihres Busens. Dann ließ sie die Hand wie in Zeitlupe weiter an sich hinuntergleiten in den Schoß. Eine der aufreizendsten Gesten, die ich bis dahin je in der Öffentlichkeit gesehen hatte. Seitlich vom Tisch schlug sie nackte Endlosbeine übereinander. Die war niemals seine Ehefrau. Ich dachte an Adi, und mir explodierte fast das Herz.
In diesem Moment wandte sich Herr Behorn an mich. »Endlich allein mit Ihnen.«
Enni und Maike liefen zum Buffet. Gunnar Behorn legte seine Hand auf meinen Oberschenkel.
»Ich bin ganz verrückt nach Ihnen«, flüsterte er.
Für einen Moment war ich geneigt, mich umzudrehen, um zu schauen, ob noch jemand hinter mir saß, der gemeint sein könnte. Ich hatte keine Ahnung, wie ich reagieren sollte, starrte ihn nur an. Hektische Flecken breiteten sich in Windeseile über meinen Körper aus. Auch an Stellen, an denen ich sie sonst nicht kannte.
»Sie müssen nichts sagen, ich spüre Ihr Herz«, meinte er.
Ich spürte es auch. Es schlug Alarm. Schon schlenderte Enni unserem Tisch mit einem Haufen Pommes auf dem Teller entgegen. Behorn zog seine Hand zurück und schob mir einen Zettel zu: »Treffen Sie mich um sieben Uhr, dann zeige ich Ihnen, was ich fühle. Hier steht, wo und wann. Ich ersehne Sie.«
So schnell und eindeutig hatte mich in meinem ganzen Leben noch niemand angebaggert.
Er stand auf und verschwand. Seinen Zettel steckte ich schnell in meine Hosentasche, auf keinen Fall durfte Enni ihn sehen. Ich wollte ihr nicht den Traummann ausspannen. Das hätte ich ihm gleich sagen sollen. Hastig trank ich meinen Wein. Dolores’ gelber Mantel poppte wie ein Tennisball gegen meinen Kopf. Als Enni mir eins ihrer Plätzchen zum Nachtisch anbot, griff ich zu und orderte bei Spangen-Lorena einen Sex on the Beach für uns alle drei. Mit den Cocktails in der Hand zogen wir zum Musikbingo in den Salon der tausend Sessel. Ein junger Mann in Borduniform und weißem Hütchen tippte mit dem Finger ans Mikro, der Auftakt für einen wilden Unterhaltungsabend, wie er versprach. »Sie haben nur eine Pflicht: Lassen Sie die Bude brennen.« Schon dröhnte laut Oktoberfestmusik. Mitten im April. Irgendwie war alles aus dem Takt.
Der erste Gast klatschte, zog aber sein Engagement sofort zurück, als er merkte, dass er damit alleine blieb. Ein älteres Paar in Pantoffeln nahm sich an den Händen und floh. Unser Vergnügungsoffizier tanzte wie ein Derwisch und winkte den Gästen zu, die ungerührt in ihren Sesseln saßen. Dann legte er eine Pause ein, wollte gleich mit einer Überraschung wiederkommen. Ich nahm noch ein Plätzchen. Nach einigen Minuten der Ruhe kehrte unser Sänger im engen Paillettenoverall zurück, rief einen Elvis-Abend aus und schwang seine schmalen Hüften. Tatsächlich sprangen jetzt einige Gäste auf und tanzten. Es dauerte nicht lange, und die Hälfte des Saales rockte zwischen den Sesseln. Enni und Maike suchten Gunnar Behorn. Bald sah ich sie in dem Gewirr der Leute nicht mehr. Kurz vor 19 Uhr zog ich Behorns Zettel aus der Tasche. Darauf stand, welchen Weg ich nehmen sollte, um an einen besonderen Ort des Schiffes zu gelangen, wo wir allein sein konnten. Dort wollte er auf mich warten.
Kurz erwog ich, vom Schiff zu flüchten, aber wie? Mit rundherum nur kaltem Wasser. Draußen sah man plötzlich 1000 Lichter, die Erdölraffinerie und Chemiewerke von Wesseling erstrahlten in der Nacht. Schaute man nur aufs Wasser, wirkten die Lichter romantisch. Hob man den Blick, erlosch dieser Eindruck, und man erkannte schemenhaft Rohre, Tanks, Arbeitsflächen und Kräne. Ja, so war das mit der Romantik. Sah man genauer hin, änderte sich das Bild schon mal. Das würde leider auch Herr Behorn einsehen müssen. Es half nichts, ich musste diesen mysteriösen Ort suchen und ihm reinen Wein einschenken. Also schlängelte ich mich zwischen Sesseln, Tischen und Tänzern hindurch bis zur Rezeption. Dort arbeitete Frau Hurter. Sie unterbrach ihre ernste Miene, um mir ein kurzes Lächeln zu schenken, und ich überlegte, ob abends ihre Wangen krampften von diesen vielen Lächelblitzen.
Laut meinen Anweisungen sollte ich die große Treppe, die sich in der Mitte des Schiffes gegenüber der Rezeption befand, zwei Stockwerke tief hinuntergehen. An ihr war ich schon einige Male vorbeigegangen. Es handelte sich um eine pompöse Wendeltreppe mit breiten blauen Stufen. Sie führte in ein rundes Loch, das mit einem weißen Geländer umgeben war, damit kein Passagier hineinfallen konnte. Aus der Entfernung wirkte es wie das Geländer eines Swimmingpools. Auf der Treppe kamen mir gut gelaunte Herrschaften entgegen, einige im Bademantel. In der zweiten Etage unterhalb der Lobby wirkte alles ein wenig enger und dunkler, es gab nur noch Bullaugen und keine großen Fenster mehr wie in den oberen Stockwerken. Auf Hinweisschildern stand »Fitnessraum« und »Saunabereich«. Hier war es wohlig warm, das Licht gedimmt, es roch nach Minze und Honig. Ich sollte den Gang links entlanglaufen bis an sein Ende, dort würde eine Tür einen Spaltbreit für mich offen stehen. So ging ich an Sauna und Fitness vorbei auf eine Tür zu. Kurz bevor ich sie erreichte, kam Behorn mir aus ihr entgegen.
»Linda, da sind Sie ja. Kleine Planänderung. Ich schulde Ihnen noch Champagner. Der steht oben schon für uns bereit.«
Sanft berührte er mich am Rücken und führte mich zurück in Richtung Treppe. Bevor ich etwas sagen konnte, legte er seinen Arm um meine Hüfte. »Habe ich Ihnen schon gesagt, wie feurig Ihre Augen im Dunkeln funkeln?«
Es war ein Jammer, dieser Galanterie eine Absage erteilen zu müssen. Er küsste mich aufs Ohr. »Sie duften wunderbar. Chanel?«, fragte er im Flüsterton.
»Das Bordduschgel.«
»An Ihnen vollbringt es Wunder.«
Mir fiel nicht mehr ein, wie das mit den Komplimenten ging. Ob sie dazu da waren, ernst genommen zu werden, so rein inhaltlich. Bei Licht betrachtet, und von dem gab es auf dieser Treppe nicht sehr viel, also auch bei wenig Licht betrachtet, war meine Ehe mit Adi zu einer komplimentfreien Zone geraten. Das letzte dieser Art musste kurz nach der Bronzezeit gefallen sein. Außer einem »Lecker« beim Essen erinnerte ich mich an nichts und fühlte mich dementsprechend aus der Übung. Wie reagierte man jetzt? Gab ich eins zurück? Herrje, war ich verkorkst. Während dieser stillen Grundsatzdiskussion mit mir selbst führte mich Herr Behorn zielstrebig die zwei Etagen wieder hoch in den Eingangsbereich. Frau Hurter war an der Rezeption im Gespräch mit einem Gast. Herr Behorn nahm seinen Arm von meiner Hüfte, lief schweigend neben mir zurück in meinen Kabinengang und hielt gleich vor der ersten Tür. Er residierte demnach zwei Kabinen von mir weg, nur Enni wohnte noch dazwischen, und ich war froh, dass die mich hier nicht mit ihm sah. Er steckte seine Karte in den Schlitz und öffnete die Tür. »Treten Sie ein in mein bescheidenes Reich.«
»Unsere Reiche sind hier doch alle gleich bescheiden.«
Seine Kabine glich haargenau der meinen. Derselbe kleine Vorraum, durch den man eintrat, rechts die Badezimmertür, links der Kleiderschrank aus Zedernholz, dahinter öffnete sich die Kabine mit dem großen Bett. Auf einem kleinen Tisch standen zwei gefüllte Champagnerschalen. Er reichte mir eine. Wir tranken und schauten einander an. Ich genoss das erfrischende Prickeln auf meiner Zunge. Aber es war ihm gegenüber nicht fair, die Wahrheit noch länger hinauszuzögern. Er machte es mir nicht leicht, ihn abzuweisen.
»Lieber Herr Behorn.«
»Gunnar.«
»Lieber Gunnar.«
Er legte einen Finger auf meine Lippen, fuhr ganz sachte mit seiner Nasenspitze über meine Ohrmuschel, folgte dann mit seiner Zunge. In mir setzte sich etwas in Bewegung, das sich anfühlte wie ein Rinnsal im Wüstensand. Dann fuhr er mit seiner Zunge über meine Augenbrauen und in meinen Mund. Das Rinnsal wurde Sturzbach. Mein Denken setzte aus. Ich erwiderte seinen Kuss. Mein Pulsschlag tanzte Tango, und es gab keinen Ort an meinem Körper, an dem ich diese Zunge nicht spüren wollte.