Читать книгу 16.7.41 - Dag Solstad, Даг Солстад - Страница 5

Kapitel 1

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Dieses Mal werde ich fliegen.1 Deshalb befand ich mich im mittlerweile stillgelegten Flughafen Fornebu bei Oslo, um mit einer SAS-Maschine nach Kopenhagen zu reisen und von dort weiter nach Frankfurt am Main. Das liegt jetzt mehr als zehn Jahre zurück, und wie immer, wenn ich flog, war ich ungewöhnlich früh am Flughafen. Ich wollte nach Frankfurt, zur großen internationalen Buchmesse, um dort an einer Veranstaltung mitzuwirken. Ich sollte nur wenige Tage weg sein und hatte deshalb lediglich Handgepäck dabei, trotzdem war ich ungewöhnlich früh dran. Wenn ich mich heute vor mir sehe, wie ich damals vor mehr als zehn Jahren ausgesehen haben muss, ich war noch keine fünfzig, gibt es nicht viel, was ich als besonderes Kennzeichen meiner Person anführen kann.1b Ich war damals wie heute ein normaler Reisender, erfüllt mit den selbstbewussten Routinen eines Reisenden. Ich stellte mich in die lange Schlange an den Check-in-Schaltern und schob mein Handgepäck, eine Reisetasche, sanft mit dem Fuß weiter, während sich die Schlange vorwärtsschob. Schließlich war ich an der Reihe. Ich legte meine Tickets vor und erhielt die Bordkarte sowohl für den Flug nach Kopenhagen als auch für den Anschlussflug von Kopenhagen nach Frankfurt. Danach fuhr ich mit der Rolltreppe hoch zur Pass- und Sicherheitskontrolle. Nachdem ich diese erfolgreich hinter mich gebracht hatte, durfte ich in die internationale Abflughalle und stellte mich vor eine Departure-Anzeigetafel, auf der mein Flug nach Kopenhagen soeben aufgetaucht war. Ich notierte mir das Gate und schaute in einen langen Korridor, versuchte abzuschätzen, wie weit darin sich mein Gate befinden musste. Daraufhin suchte ich den Dutyfree-Shop auf und kaufte mein Kontingent an Schnaps und Zigaretten, das ich in eine Plastiktüte mit Werbung für Fornebu Taxfree packte, wie sie auch viele meiner Mitreisenden bei sich trugen.

Mir blieb noch fast eine Stunde bis zum Abflug, und ich beschloss, mich langsam zum Gate zu begeben, fast so als wollte ich mich vergewissern, dass es sich auch dort befand, doch erst nachdem ich noch einmal auf der Anzeigetafel nachgeschaut hatte, ob ich mir wirklich das richtige Gate eingeprägt hatte. Anschließend genehmigte ich mir in einem kleinen Café, das sich in der internationalen Abflughalle am Flughafen Fornebu befand, eine Tasse Kaffee. Wieder zurück zur Anzeigetafel, um sicherzugehen, dass es keine Änderungen bei den schon angezeigten Informationen gegeben hatte. Danach setzte ich mich auf einen leeren Sitz in einer der Stuhlreihen, die sich an den Wegen der internationalen Abflughalle befanden. Ständig eilten geschäftige Reisende an mir vorbei, manche auf dem Weg zum Flieger, andere auf dem Weg vom Flieger Richtung Ankunftshalle. Ich fühlte mich gut, rastlos und bester Stimmung. Ich genoss tatsächlich den Anblick meiner Mitreisenden und den Umstand, dass ich mich in der Abflughalle eines Flughafens befand, der zwar in einem Land lag, dessen Behörden ihn für zu klein erachteten, der für mich jedoch groß genug war. Das Dasein hier hatte etwas Beherrschtes an sich, zwar passierte ständig etwas, permanent landeten oder starteten schließlich Flugzeuge auf der Rollbahn und mit ihnen Passagiere, die herein- oder hinausströmten, trotzdem hatte die Geschäftigkeit etwas Gemessenes und Beherrschtes, das mir gefiel. Die Strukturen sind klar zu erkennen. Die Entschlossenheit der Leute ist strukturiert. Jeder, der hier ist, weiß, warum er hier ist, sein Reiseziel ist klar, und auch der Grund für seine Reise. Will man z.B. nach Rom, dann weiß man nicht nur, wie man zum richtigen Zeitpunkt zum richtigen Gate gelangt, es ist auch vollkommen offensichtlich, ob man geschäftliche Gründe hat, zu einem Kongress will oder eine kurze Urlaubsreise macht. Das prägt die Stimmung. Zwar kann man einer Person nicht ansehen, ob sie nach Rom oder Zürich will, man kann aber sehr klar erkennen, ob sie auf Geschäftsreise oder auf einer Urlaubsreise ist. Man ist entsprechend gekleidet und benimmt sich entsprechend. Hält man sich in einem der Geschäfte in Fornebu auf, ob im Delikatessenladen oder im Trachtenladen, dann, um etwas zu kaufen. Man will ganz einfach ein Geschenk erstehen, das man längst hätte besorgen sollen, aber entweder vergessen hat oder aus Zeitmangel nicht beschaffen konnte, und in Fornebu heißt das, einen kleinen Troll, eine Strickjacke im Norwegermuster oder ein großes Stück Räucherlachs, vakuumgezogen und mit Norwegian Seafood oder etwas anderem Plausiblen beschriftet. Eine effektive Welt mit Human Touch. Ein Herz für seine Liebsten, in letzter Sekunde freilich, aber immerhin: ein Herz. Norwegian Seafood, ein Stück Human Touch. Das ging mir durch den Kopf, als ich dort saß und den Leuten in den Geschäften zusah, die schnell und teuer einkauften. Der Unterschied zwischen einem internationalen Flughafen und anderen modernen Treffpunkten, wie z.B. einem Kaufhaus, ist riesig. In einem Flughafen sind alle Handelnde, in einem Warenhaus gibt es sehr viele Betrachter oder Flaneure, die sich lediglich umschauen, ohne bestimmten Grund, man saugt die Atmosphäre von Modernität in sich auf, könnte man sagen, ohne notwendigerweise Teil derselben zu sein, außer als entzückter und bewundernder Zuschauer. Auch zwischen internationalen Flughäfen und Bahnhöfen ist der Unterschied riesig. Nun haben die großen Bahnhöfe ja den Nimbus der Modernität eingebüßt, der ihnen bis Ende der 1930er-Jahre anhaftete, und das verleiht ihnen etwas von einer ausrangierten Zeitmaschine, schön, aber verfallen, fast schon Schrott, daher kann der Vergleich zwischen Bahnhöfen und unseren heutigen Reise- und Abenteuermaschinen – Flughäfen, Flugplätzen – ungerecht wirken, trotzdem sind beide nach wie vor moderne Treffpunkte, und man kann bei ihnen immer noch eine Reihe typischer Ähnlichkeiten feststellen, die mit dem Reisen zu tun haben, dem Reisegefühl, den Reiseerwartungen, dem Reisefieber, und doch kann man in allem, was sie voneinander trennt, die Eigenheiten beider Bahnhofstypen erkennen (und jetzt spreche ich von Flughäfen und Flugplätzen ebenfalls als Bahnhöfen, denn das sind sie ja, Luftbahnhöfe), als Spiegel zweier Epochen. Hierbei denke ich an Abschiedsszenen. An Bahnhöfen kann man den menschlichen Touch in Abschiedsszenen erkennen. Er wurde von ihr zum Zug begleitet, sie verabschiedet sich von ihm. Eine rührende Szene. Heftige Umarmung, innige Küsse. Anschließend geht er in den Waggon, sucht seinen Platz, sie steht draußen auf dem Bahnsteig, er macht das Fenster auf, der Zug fährt an, er ruft und winkt, sie winkt zurück, ja, es kommt sogar vor, dass sie sich zusammen mit dem Zug in Bewegung setzt, vielleicht sogar ein Stück neben ihm herläuft, bevor der Zug unerbittlich davonfährt und sie stehenbleiben muss, und er, der sich in seinem Abteil aus dem Fenster lehnt, sieht ihr hinterher, wie sie immer kleiner wird, bis sie, als der Zug in eine Kurve oder einen Tunnel fährt, endgültig verschwindet. Aber wer hat je eine intensive Abschiedsszene auf der Rolltreppe der großen Abflughalle in Fornebu hinauf zur Pass- und Sicherheitskontrolle oder direkt vor der Pass- und Sicherheitskontrolle gesehen? Es mag sie gegeben haben, aber ich habe sie nie gesehen. Zum Flughafen wird man nicht begleitet, man wird vielleicht gefahren, z.B. von der Partnerin, doch dann wird man an der Eingangstür zum Hauptgebäude abgesetzt. Der Wagen hält, vielleicht umarmen sich die zwei im Auto, aber sie kommt nicht mit ins Gebäude, um zusammen mit ihm zu warten, während er eincheckt, mit ihm die Rolltreppe hochzufahren, wo sie sich umarmen, hinüber zur Pass- und Sicherheitskontrolle, wo sie sich lange küssen. Nein, sie kommt nicht mit ins Gebäude, sie verabschieden sich hier, im Auto, weil es so schwer ist, einen Parkplatz zu finden, und weil es für die kurze Zeit so teuer ist, sagt sie. Daher begibt man sich allein ins Hauptgebäude, checkt ein, fährt mit der Rolltreppe hoch zur Pass- und Sicherheitskontrolle, wird hindurchgeschleust und betritt das Allerheiligste der Reisenden, mischt sich unter die anderen Reisenden, die zielstrebig hin- und herlaufen oder im Café sitzen und verstohlen auf ihre Armbanduhr schauen, so wie ich als Betrachter auf meinem Stuhl sitze, während ich auf den Abflug warte. Hier sind wir alle in der selbstverständlichen Struktur einer Moderne gefangen und davon geprägt. Ich saß also hier auf dem längst stillgelegten Flughafen Fornebu, einem internationalen Flughafen, der nicht groß genug war für das Selbstbild unserer Behörden, das ist jetzt mehr als zehn Jahre her, Anfang der 1990er. Ich musterte meine Mitreisenden, nicht ohne eine gewisse Sympathie. Denn ich war selbst geprägt vom beherrschten Geist der Moderne, der hier wehte und den ich angenehm fand. Ich studierte die Stereotypen, die an mir vorbeikamen, ohne auch nur eine Sekunde lang zu unterschlagen, dass ich eine gewisse Befriedigung darin fand dazuzugehören, zu dieser anonymen Gemeinschaft. Was ich persönlich dadurch unterstrich, dass ich im Anzug reiste,2 der auf Flugreisen ins Ausland beileibe kein obligatorisches Kleidungsstück ist. Auch zwei Polizisten kamen vorbei, studierten eingehend ihre Umgebung, indem sie nach rechts und nach links schauten, während sie langsam durch die Abflughalle liefen. Ich saß auf meinem Stuhl und betrachtete das Leben um mich herum, wobei ich die Anzeigetafel mit den Abflugzeiten im Auge behielt. Nach einer Weile kamen die beiden Polizisten zurück. Entschlossenen Schrittes nun, und zwischen ihnen lief ein Mann, der ein wenig betreten aussah. Es kommt nicht jeden Tag vor, dass ich Zeuge einer mutmaßlichen Festnahme werde, noch dazu in der Abflughalle eines internationalen Flughafens, daher konnte ich nicht umhin, die beiden Polizisten und den Festgenommenen in ihrer Mitte anzustarren. Mein Blick suchte vor allem nach den Händen des Mannes, ich wollte sehen, ob er Handschellen trug. So weit kam ich aber nicht, denn jetzt passierte etwas Erstaunliches. Als die Gruppe an mir vorbeiging, grüßte mich der Mann. Der Festgenommene grüßte mich. Ein kurzes alltägliches Nicken, bevor er sich von den beiden Polizisten an mir vorbeiführen ließ die Treppe hinunter, die zur internationalen Ankunftshalle führt, wo sich u.a. die Passkontrolle und die Gepäckausgabe befanden. Ich starrte ihnen fast mit offenem Mund hinterher. Der Festgenommene schien mich zu kennen, während ich selbst keine Ahnung hatte, wer er sein könnte. Es musste jemand sein, der mich kannte, denn er grüßte mit aller Selbstverständlichkeit, nahezu automatisch. Ich kramte tief in meinem Gedächtnis, um herauszufinden, wer er sein könnte. Doch sosehr ich auch in den hintersten Ecken und Winkeln meines Gedächtnisses kramte, ich fand keine Antwort. Damals nicht und auch heute nicht, ich muss nämlich zugeben, dass ich in den vergangenen Jahren hin und wieder darüber nachgedacht habe, wer es gewesen sein könnte. Doch egal, wie sehr ich in den dunkelsten Ecken und Verstecken meines Erinnerungsvermögens, soweit ich sie aufspüren kann, suche, ich finde keine Antwort. Es ist mir übrigens auch sonst schon passiert, davor und danach, dass mich Leute gegrüßt haben, sich sogar minutenlang mit mir unterhalten haben, als wären wir alte Bekannte, ohne dass ich in der Lage gewesen wäre, sie irgendwo hinzutun, das gilt vor allem für einen Vorfall, auf den ich möglicherweise später noch einmal zu sprechen komme. Was nun diesen Mann betrifft, habe ich dennoch eine Theorie zu seiner Person. Es könnte ein Leser sein. Einer meiner Leser. Die Art, wie er mich gegrüßt hat, könnte darauf schließen lassen. Sein Gruß war nicht aufdringlich, aber er muss mich automatisch erkannt haben, woraufhin er sich die Freiheit genommen hat, mich zu grüßen, als er zum Gespött aller anderen zwischen den uniformierten Polizisten lief, vielleicht sogar mit Handschellen an einen von ihnen gekettet.

Nach diesem Vorfall verfiel ich in Gedanken. Ich suchte in den Geheimgängen meines Gedächtnisses nach Gesichtern, die dem entsprachen, das an mir vorbeigegangen war. Ja, ich war so darin vertieft, dass ich vergaß, die Anzeigetafel mit den Abflügen im Auge zu behalten, und die Aufforderung »Go to gate« überhörte, und erst als ich erneut den Blick darauf richtete, stellte ich fest, dass dort fieberhaft »Boarding Boarding« blinkte. Ich erhob mich sofort und eilte zu dem Gate, das ich längst als meins ausgemacht hatte. Das Boarding war mehr oder weniger abgeschlossen, und ich war fast einer der Letzten, die das Gate passierten und durch den engen Finger zu der Stelle gingen, an der das Flugzeug stand, hinein in den noch engeren Flugzeugrumpf.

Ich fand meinen Platz, legte den Sicherheitsgurt an und begann mich auf den Abflug vorzubereiten. Es ging bald los, da ich als einer der Letzten an Bord gekommen war. Die Flugzeugtür wurde geschlossen, der Flieger verließ die Bay und rollte langsam zur Startbahn. Ich saß am Mittelgang. Der Flieger nach Kopenhagen ist ein Zubringerflugzeug, er hat Passagiere an Bord, die von Kopenhagen aus zu anderen Reisezielen wollen. Daher ist er meistens bis auf den letzten Platz besetzt. Der Flieger rollte langsam zur Startbahn, wo er stehenblieb und wartete. Dann fuhr er los, schneller und schneller, immer schneller, bis das Tempo schwindelerregend war und er sich plötzlich, oder endlich, vom Boden löste und mit einer gewaltigen Kraft in Schräglage nach oben bewegte, hinein in die Wolken. Nach einer Weile richtete sich das Flugzeug wieder horizontal aus, fand oberhalb der Wolkendecke seinen Rhythmus, sein Tempo, und wir waren auf dem Weg nach Kopenhagen. Ich hatte vergessen, beim Einchecken um einen Fensterplatz zu bitten, und musste mit einem Platz am Mittelgang vorliebnehmen. Daher war ich während des ganzen Flugs in eine Zeitung vertieft und konnte nicht hinausschauen. Nicht einmal, als wir zur Landung ansetzten, nahm ich den Blick von der Zeitung, in die ich mich vertieft hatte, das war zu Beginn der 1990er-Jahre, und die Zeitung, die ich las, trug exakt das Datum des Tages, an dem ich die Reise unternahm.

Transitbereich in Kopenhagen. Kastrup ist Norwegens Hauptflughafen. Das war 1990 so und ist es natürlich auch heute noch. Wenn man 1990 von Fornebu nach Kastrup kam, war man in der gleichen Welt, nur in viel größer. Das gilt bis heute; seither wurde Kastrup umgebaut und ist noch schicker geworden, und obwohl die Behörden in meinem Land ihren Flughafen Gardermoen bekommen haben, ist der Übergang exakt der gleiche wie damals, mit den gleichen Anschlussflügen wie zehn Jahre zuvor. Ich war also Transitpassagier. Ich befand mich im Transitbereich in Kopenhagen. Dort setzte ich mich in ein Café, das so gelegen war, dass es in der äußerst hektischen Transithalle, die zugleich die internationale Abflughalle des Flughafens Kastrup war, eine Art Ruhepol bildete. Hier befanden sich weitaus mehr Reisende als in Fornebu, sie kamen aus verschiedenen Ausgängen, und mein Café lag ungefähr da, wo sich alle Ausgänge trafen. Zur Organisation des Verkehrs in Kastrup muss man sich zusätzlich zu einem Zahlensystem der ersten vier Buchstaben des lateinischen Alphabets bedienen, in Fornebu benötigte man keine Buchstaben, das Zahlensystem reichte aus. Es gab wesentlich mehr und exklusivere Läden, man konnte anno 1990 von regelrechten Einkaufsstraßen sprechen. Alle möglichen Sprachen dieser Welt schwirrten um mich herum, und es fehlte auch nicht an exotischen Einsprengseln wie arabischen Scheichs und afrikanischen Stammeshäuptlingen, obwohl die meisten durchaus Anzüge trugen, auch die afrikanischen Stammeshäuptlinge. An meinem Platz schnappte ich englische, französische, portugiesische Brocken sowie eine weitere Sprache auf, die ich zunächst nicht zuordnen konnte, und an mir spazierten Frauen mit typisch italienischem oder spanischem oder niederländischem Aussehen vorbei, häufig im Kostüm. Die meisten waren allerdings Dänen, es besteht kein Zweifel daran, dass die dänische Sprache trotz allem überwog. Ich saß erneut so, dass ich auf Anzeigetafeln verfolgen konnte, wann für meinen SAS-Flug nach Frankfurt der Befehl »Go to gate« angezeigt wurde, und dieses Mal verfiel ich nicht in Gedanken, sondern stand sofort auf, als die Aufforderung aufleuchtete, und machte mich auf den weiten Weg zu meinem Gate, von dem ich mehrere hundert Meter auf einem Laufband zurücklegte, auf dem man wählen konnte, entweder still dazustehen, ohne sich zu bewegen, oder sich in derselben Richtung wie das Laufband zu bewegen, nur etwas schneller, wodurch man das Laufband unbeschwert und gleichzeitig effektiv nutzte. Auf diese unbeschwerte und effektive Weise kam ich rechtzeitig vor dem Boarding zu meinem Gate.

Die gleiche Prozedur. Durch das Gate hinein in den Finger, der zu dem parkenden Flugzeug führte. In dem schmalen Flugzeugrumpf bewegte ich mich in einer langen Schlange von Passagieren zu meinem Platz, den ich sogleich in Besitz nahm. Ich setzte mich, legte den Sicherheitsgurt an und bereitete mich in jeder Hinsicht auf den Flug vor. Dieses Mal hatte ich einen Fensterplatz erhalten. Vorn im Flieger hatte wie üblich die Tür zum Cockpit offen gestanden, und ich hatte einen Blick auf die riesige Maschinerie erhascht. An sie dachte ich jetzt. Vielleicht weil ich aus dem Fenster schaute und einen der Flügel und Teile des Flugzeugrumpfs sah. Bereit zum Abflug. Das Flugzeug rollte langsam zur Startbahn, wo wir lange stehenblieben, weil der Flughafen Kastrup stark frequentiert ist und eine lange Schlange großer Flieger darauf wartete, zum Start auf die Rollbahn gelassen zu werden. Endlich waren wir an der Reihe. Der Flieger fuhr über die Rollbahn, schneller und schneller, immer schneller, in schwindelerregendem Tempo, bis sich der schwere Flugzeugrumpf vom Boden löste und mit gewaltiger Kraft in Schräglage nach oben bewegte, hinein in die Wolken. Jenseits der Wolkendecke richtete sich das Flugzeug wieder horizontal aus, fand seinen Rhythmus, sein Tempo, und wir waren auf dem Weg nach Frankfurt. Oberhalb der Wolkendecke schwebte die aluminiumglänzende SAS-Maschine in Richtung der deutschen Finanzmetropole Frankfurt am Main. Hier oben waren blauer Himmel und Sonne, und die Sonne schien auf die glänzende SAS-Maschine. Ich saß da und schaute aus dem Fenster auf die weiße unförmige Wolkenlandschaft. Eine völlig eintönige weiße Landschaft, die, wie ich wusste, sehr wenig gemein hatte mit der Landschaft unter der kompakten Wolkenschicht, die aber nicht zu sehen war, weil sich in der kompakten untersten Wolkendecke nicht einmal ein kleiner Riss zeigte, der einen Blick auf die nackte Erde tief darunter freigab. Doch ich wusste, dass dort unten Deutschland lag und wir jetzt darüberflogen. Die deutsche Tiefebene mit ihren Feldern, Wäldern, Flüssen, kleinen und großen Städten samt Straßennetz und Bahngleisen, genau in diesem Moment. Ich wusste, dass wir bald Hamburg sehen könnten, gleich rechts, auf meiner Seite, mit einem kleinen Ausschnitt der Elbe, kurz bevor sie durch Hamburg floss, und fünf bis zehn Minuten später würden wir eine andere große deutsche Stadt erspähen, Hannover, bevor ein neuer Fluss zum Vorschein käme, die Weser, die ich in der Ferne fließen sähe, obwohl ich so hoch hoben nicht sehen würde, dass sie floss, sondern nur, dass es sie gab, unbeweglich, präsent, wie auf einer Landkarte. Aber nichts davon sah ich jetzt. Stattdessen konnte ich die Wolkenformationen studieren. Ich befand mich in dieser Wolkenlandschaft oberhalb der Wolken. In dieser im wahrsten Sinne des Wortes überirdischen Landschaft fand ich zu einer gewissen Ruhe, denn es tat gut, den Blick auf dieser Landschaft ruhen zu lassen. Weiß, mit ihren wunderlichen Formationen, die ständig auftauchten und mich in einen etwas schläfrigen Zustand versetzten. Ja, wenn man durch eine solche Landschaft fliegt, wird man zwangsläufig in eine Stimmung versetzt, die an einen Jetlag erinnern kann, der jedoch nicht mit der Zeit zu tun hat, sondern mit dem Raum, also einen Roomlag, der bewirkt, dass man nicht sicher weiß, wo man sich befindet, nur dass man da ist, in der Zeit, wenn es sich um einen Jetlag handelt, und man die Zeit besonders stark erlebt, als Eigenschaft; es kann unangenehm sein und sehr aufdringlich, die Zeit so zu erleben, vor allem, weil man zugleich völlig verwirrt ist, so verhielt es sich nun mit meinem Raumerleben, in meinem Roomlag, ausgelöst davon, dass die Landschaft, die ich gerade überblickte, keine Geografie hatte, die sich zuordnen ließ. Man kann den Wolkenformationen nun einmal nicht entnehmen, dass man sich über Hamburg befindet, denn ganz andere Faktoren als die Geografie bestimmen die unbeständige Wolkenlandschaft, in der ich jetzt mit meinem Roomlag weilte, der mich in einen Dämmerzustand versetzte, der im Gegensatz zum Jetlag nicht unangenehm ist, sondern nur schläfrig macht, obwohl ich in meinem Dämmerzustand den Raumzustand vor meinem Fenster als ebenso aufdringlich erlebte, wie sich die Zeit für den unter Jetlag Leidenden ausnimmt. Für mich hatte diese Schläfrigkeit zur Folge, dass ich mich in einer Art verwirrter Gebanntheit in dieser weißen Wolkenlandschaft befand, sodass ich nicht bemerkte, dass das Flugzeug das Tempo gedrosselt hatte und zum Landeanflug ansetzte. Nicht indem es die Wolkendecke durchdrang, denn das Flugzeug befand sich weiterhin darüber, doch jetzt kreiste es in dieser Landschaft und zog weite Kreise, die mich erst stutzen ließen, als über Lautsprecher bekanntgegeben wurde, dass wir in Erwartung der Landeerlaubnis über Frankfurt kreisten.

Wir kreisten über Frankfurt. Wie bei zentralen und hochfrequentierten Großflughäfen durchaus üblich, kann man sehr lange über ihnen kreisen. Wo wir kreisten, kann ich nicht sagen, ob über der Finanzmetropole Frankfurt und ihrer Umgebung oder ob wir große Schleifen bis zum Rhein oder den nördlichen Landschaften in Baden-Württemberg zogen, das wusste ich nicht, wie ich dort saß und auf die Wolkenformationen vor meinem Fenster schaute. Aber wir waren in einer viel geringeren Geschwindigkeit unterwegs, hier oben über den Wolken in dieser Wolkenlandschaft kreisend, die sich vor dem Hintergrund eines intensiv blauen Himmels bewegte. Zuunterst befand sich eine kompakte Schicht, und auf dieser bildeten sich neue, ganz weiße Formationen. Diese Formationen schwebten an mir, der ich in der SAS-Maschine saß, vorbei, mal tief unter mir, sodass ich das Gefühl hatte, unendlich weit nach unten zu starren, mal direkt unter mir, aber in unterschiedlicher Entfernung, einmal sogar ganz dicht unter mir, andere Male schwebten sie in eher großer Entfernung vorbei, sodass sich mir ein höchst variables und seltsames Panorama darbot. Doch vollkommen weiß in der intensiv blauen Luft. Seltsame weiße Wolkenformationen, die an mir vorbeischwebten oder -segelten, so weit das Auge sah, also bis zum Ende des Horizonts. Da der Horizont so groß war, wirkte die blaue Luft nicht überbevölkert. Obwohl die weißen Wolken sehr zahlreich waren, gab es dazwischen reichlich Platz in diesem nahezu unendlichen Raum, in dem ich mich befand. Es gab Wolken unterschiedlicher Größe und unterschiedlichen Aussehens. Die Formationen waren dergestalt, wie man sie nur bei Wolken findet, die aussehen, als würden sie sich über alle anderen physikalischen Naturgesetze hinwegsetzen als jene, die für Wolken gelten, weshalb sie sich zu Formationen fügen konnten, die man ansonsten in keiner bekannten Materie kennt und die man auch nicht bei Wolken findet, die man von der Erde aus sieht, denn diese Formationen, die ich jetzt sah, gibt es nur bei Wolken oberhalb der Wolken, ja, auf der anderen Seite der Wolkendecke, dort, wo ich mich in einem merkwürdigen Zustand befand. Es waren große Wolken, die in all ihrer weißen Pracht stets größer und gewaltiger wurden und die ständig ihre Formation änderten, indem kleinere und aufgrund günstiger Windrichtungen schnellere Wolken mit ihnen verschmolzen, sodass Erstere nach oben und zur Seite ausbeulten und sich in all ihrer schaumartigen weißen Pracht mal so, mal so zeigten, in Ausprägungen, die man in nichts anderem, wie beispielsweise weißen Eisbergen, findet, auch wenn man sich vorstellen konnte, dass in dieser leeren blauen Luft, in der die Wolke unter mir vorbeischwebte, ein Eisberg vorbeischwimmt. Während andere Wolken, die an mir vorbeischwebten, z.B. ein Stück weiter unten, im Begriff waren, sich aufzulösen, neue Formationen und neue Wolken zu bilden oder ganz einfach im Nichts zu verschwinden, in einem dünnen, sich auflösenden Schleier. Und ständig tauchten weitere kleine Wolken auf, die in all ihrer Leichtigkeit und mit seltsam flüchtiger Anmut an mir vorbeischwebten. Alles, was hier oben geschah, war von großer Unbestimmtheit, aber wunderschön. Oberhalb der Wolkendecke gibt es eine völlig andere Welt, unsichtbar für all jene dort unten, und in dieser befand ich mich nun, in einer SAS-Maschine sitzend, die hier oben kreiste. Dieses Kreisen schien mir mittlerweile merkwürdige Dimensionen anzunehmen, vor allem, weil es auf der anderen Seite einer Wand, einer undurchdringlichen Wolkendecke, erfolgte. Man ist hier oben. In etwas, das völlig anders ist. Hier oben ist man unsichtbar. Für die anderen dort unten im Glas und Stahl der Metropole. Zu denen man selbst unterwegs ist. Doch vorläufig hängen wir hier oben, über Frankfurt kreisend, im Blau hier oben. Unten in Frankfurt schauten die Leute an diesem nasskalten Herbsttag im Oktober vor mehr als zehn Jahren hoch zur Wolkendecke und fragten sich, ob es regnen würde. Viele von ihnen liefen fröstelnd durch die Straßen der deutschen Finanzmetropole mit ihren modernen Wolkenkratzern als Symbol für deutsches Bankkapital, während die meisten in ebendiesen Büros in den schicken Wolkenkratzern saßen und fleißig arbeiteten, und vielleicht ging der eine oder andere zum Fenster und schaute hinaus, z.B. hinauf zur Wolkendecke, die regenschwer und kompakt dort oben hing, und alle, die heute einen Schirm mitgenommen hatten, waren erleichtert; alle, die ihn vergessen hatten, ärgerten sich ein wenig, aber keiner von ihnen, weder diejenigen unten in den Straßen noch diejenigen oben in den Gebäuden, ahnten, was auf der anderen Seite der Wolkendecke vor sich ging, obwohl sie doch auf die geschlossene Wolkendecke über ihren Köpfen blickten, den traurigen, grauen Himmel, aus dem nun wahrhaftig ein paar Regentropfen fielen. Keiner von den Menschen dort unten in Frankfurt ahnte, was hier oben vor sich ging, ahnte, dass nur eine Wand sie von diesem wundersamen Anblick trennte. Ja, obwohl die Mehrheit der Frankfurter Bevölkerung selbst schon einmal in einem Flugzeug gesessen hat, viele der Menschen, die in Frankfurt wohnen, haben bis zu hundert Reisetage im Jahr, vielbeschäftigt, wie die Akteure des Finanzkapitals es auf der ganzen Welt sind, haben sie völlig vergessen, wie es dort ist, sobald sie wieder auf der Erde angekommen sind. So wie sich ihr Leben unten in Frankfurt ausnahm, unterschied sich ein Frankfurter der 1990er-Jahre nicht im Geringsten von einem Frankfurter anno 1914. Der Frankfurter der 1990er-Jahre hat vergessen, was sich auf der anderen Seite befindet, sobald er wieder unten angekommen ist, und jetzt ahnt er nicht, was in den höheren Sphären vor sich geht. Es ist verschwunden, vergessen, sobald das Flugzeug zur Landung ansetzt, die Wolkendecke durchstößt und man wieder den feuchten Geruch von Erde wahrnimmt, während die Gebäude, das Straßennetz und die Parks dort unten immer näher kommen. Aber ich war hier oben. Ich sah. Ich spürte eine stille Freude. Wäre ich fünfzig Jahre früher zur Welt gekommen, hätte ich das hier niemals zu sehen bekommen, ja, ich hätte mir nicht einmal vorstellen können, dass ein solcher Anblick möglich wäre.

Ich befand mich in einem paradiesischen Zustand. Schließlich schaute ich eine überirdische Schönheit. Zwar wusste ich, dass die Atmosphäre vor dem Fenster so eiskalt war, dass in ihr kaum Leben gedeihen konnte, doch dort, wo ich saß, in einer SAS-Maschine weit oberhalb der kompakten Wolkendecke über Frankfurt, war ich außerstande, dies zu begreifen. Ich begriff lediglich, was ich sah. Ich sah eine Landschaft seltsamer, schwebender weißer Wolken in einem unendlichen blauen Raum oberhalb der kompakten Wolkendecke weiter unten. Eine völlig leere und unbewohnte Landschaft. Eine Landschaft rein atmosphärischer Schönheit, und es tat unendlich gut, den Blick darauf ruhen zu lassen. Während ich so dasaß, hingerissen von dem, was ich sah, entdeckte ich etwas ein Stück entfernt, am Ende des Horizonts. Es war ein anderes Flugzeug. Es sah auf diese Entfernung ziemlich klein aus, konnte aber gut und gern ein riesiger Jumbojet sein, doch auf die Entfernung ähnelte es mehr einem Vogel, wenngleich von beeindruckender Größe. Was an diesem Flugzeug bemerkenswert war, war die Geschwindigkeit. Noch nie habe ich etwas sich so schnell bewegen sehen. Es war so schnell, dass es, hätte es sich noch etwas schneller bewegt, für mein Auge nicht mehr existiert hätte, denn dann wäre es so schnell gewesen, dass ich nicht mehr hätte sehen können, dass es sich bewegte. Es musste gerade erst hier hochgekommen sein. Es musste gerade erst am Frankfurter Flughafen gestartet sein und die Wolkendecke durchbrochen haben, um gleich darüber eine horizontalere Position einzunehmen, und jetzt sauste es kurz oberhalb der Wolkendecke davon, in einer Geschwindigkeit, die ich kaum für möglich gehalten hätte. Ich war verwundert. Ich reckte den Hals und starrte hinaus und hinunter in den blauen Raum mit den schwebenden Wolken. Und dort, weiter unten, sah ich noch eins, das ebenfalls mit überirdischer Geschwindigkeit davonsauste. Und wiederum darunter, ein Stück weiter weg, sah ich wahrhaftig noch eins, ein drittes Flugzeug glänzen, das ebenfalls mit dieser unglaublichen Geschwindigkeit davonsauste. Der Raum war jetzt von diesen modernen Vögeln bewohnt, und ich reckte den Hals und betrachtete mit Verwunderung die Szenerie. Die Szenerie war dergestalt, dass ich von seltsamen Vorstellungen erfasst wurde, wie ich dort saß. Ich befand mich nicht mehr nur in einem paradiesischen Zustand, in diesem Roomlag, von dem ich vorhin erzählt habe, sondern, als ich das zweite Flugzeug erblickte, von meinen üblichen Vorstellungsweisen entrückt, die ich hatte, wenn ich das betrachtete, was ich sonst immer betrachtete, und ich entwickelte die ersten jener Vorstellungen, die ich später meine Himmelsvorstellungen genannt habe, und zwar mit offenen Augen. Ich sah über diese Landschaft, wissend, dass sie mit ihren leblosen minus 50 Grad Celsius eine unerträgliche Kälte barg, die auf mich jedoch nicht unfruchtbar wirkte, wie sie mit ihrer überirdischen Schönheit vor mir lag. Für mich war sie der Himmel oder das Paradies. Plötzlich hatte ich die Idee, dass es sich genau so verhielt. Wenn man mal davon absah, dass dieses Paradies nicht bevölkert war. Keine Engel, keine Fabelwesen, keine Prozessionen, hier gab es keine Posaunen, und es gab keinen Thron mit grellem Licht, sodass man geblendet war von dem wundersamsten Anblick, den jemals jemand hatte, und keine materialisierten Seelen, in treue Engel verwandelt, die den Thron umgaben, anbetend und verzückt. Nur dieser schnelle Vogel, der ja kein Vogel war, sondern ein von Menschen erschaffenes Wunder, ein mechanischer und technologischer Triumph, flog durch dieses Paradies, weit oberhalb der irdischen Perspektive, für diese unsichtbar, zusammen mit zwei weiteren ebenso von Menschen erschaffenen Vögeln. Es war die Art der Geschwindigkeit dieses Vogels oder dieser Vögel, die bewirkte, dass ich von meinen ersten Himmelsvorstellungen heimgesucht wurde. Es ist, wie gesagt, mehr als zehn Jahre her, aber seither haben mich diese Vorstellungen begleitet.

Diese leere Wolkenlandschaft wurde von Himmelsvögeln bevölkert. Aus der Perspektive der anderen Vögel kreiste ich hier in einem dieser Vögel. Ich schaute auf die paradiesische Landschaft und fand es selbstverständlich, innerhalb dieses sphärischen Panoramas Engel, Fabelwesen und allegorische Vorstellungen zu erblicken. Die Wolken segelten weiterhin in ihren seltsamen Formationen an mir vorbei, nahezu naturwidrig in ihrer Ausprägung. Alles war in ständiger Bewegung, auch meine Gedanken und Vorstellungen, und auch die Sonne bewegte sich in westliche Richtung und würde alsbald ziemlich tief stehen und ein grelles gleißendes Licht in diesen Himmel schicken, in dem wir uns befanden. Die Vorstellung des Ewigen als ein Ort absoluter Unbeweglichkeit war für mich dahin, obwohl sie damals, als ich noch innerhalb solcher Vorstellungen lebte, als Kind, zu den zentralen Vorstellungen des Himmelreichs gehört hatte, und sie hatte mir viele Probleme bereitet, wenngleich von kindlicher Art. Unter mir und um mich herum schwebten die seltsamen Wolken auf einem blauen Himmelsmeer vorbei. Ich fand es höchst natürlich, den Löwen und das Lamm auf eine ziemlich flache Wolke zu setzen. Auf den kleinen himmlischen Wolken konnte ich mühelos Engel mit Posaunen in den Händen und oft mit herabhängenden Flügeln sehen, was ihnen einen nachdenklichen Ausdruck verlieh, den ich nicht anders als wunderschön bezeichnen kann. Und selbstverständlich gab es hier geflügelte Rosse, Zentauren und Flügelhirsche, die jeder für sich auf einer Wolke standen, mit gespitzten Ohren, als lauschten sie sphärischen Klängen. Aber was machten der Löwe und das Lamm? Sie weideten friedlich nebeneinander, labten sich an dem gleichen weißen schaumartigen Stoff, aus dem paradiesische Wolken gemacht zu sein scheinen. Der Löwe und das Lamm grasten nicht, sondern weideten Seite an Seite, hier in all dem Blau, mit Wolkenschaum an ihren Mäulern, den der Löwe vom Maul des Lamms abschleckte und das Lamm anschließend vom Maul des Löwen, eine Handlung, die sie in regelmäßigen Abständen bis in alle Ewigkeit wiederholen würden. Unter mir schwebten die Engel vorbei, manche saßen allein auf ihrer Wolke, auf anderen Wolken saßen zwei Engel zusammen, jeweils mit einer Posaune in den Händen, während auf wieder anderen Wolken, die größer waren und kleinere Wolken anzogen, oder Wolken, die sich losgerissen hatten und wie Schleier durch den Raum waberten, ganze Engelsscharen versammelt waren. Manche bliesen in ihre Posaunen, andere schlugen mit den Flügeln und rannten über die Wolken, bevor sie sich in den blauen Himmel stürzten, ihre Posaune zum Mund führten und einen himmlischen Ton ausstießen. Einige dieser fliegenden Engel kamen mir ziemlich nah, wie ich dort saß, und wurden von einem kühlen Lüftchen immer höher getragen, viel höher, als mein Blick reichte. Dann plötzlich erblickte ich etwas unter mir. Ich sah das Gesicht eines Engels, der mit seiner Posaune in den Händen auf einer Wolke saß, die Flügel nachdenklich herabgesenkt. Es war mein Vater, und als ich sah, dass es mein Vater war, durchzuckte es mich, und ich hob vorsichtig die Hand, um ihm zu winken, während er allein auf einer Wolke etwas unterhalb von mir davonsegelte. Jetzt war ich ganz gebannt. Es war so seltsam, nach all den Jahren den eigenen Vater wiederzusehen. So friedlich. Ich war erst elf gewesen, als er starb, und hatte nicht damit gerechnet, ihn je wiederzusehen.

Allerdings widerstand ich der Versuchung, ihm zu winken. Ebenso zögerlich, wie ich die Hand gehoben hatte, ließ ich sie wieder sinken. Die himmlische Wiedervereinigung hatte bei den Himmelsvorstellungen, die ich als Kind und angehender Jugendlicher damals hatte, wenn auch sehr vage, keine große Rolle gespielt. Als mein Vater starb, war er tot, und ich würde ihn nie mehr wiedersehen, auch nicht im Jenseits, alles andere entzog sich meiner Vorstellungskraft, obwohl ich damals als Kind, elfjährig, eine vage Vorstellung vom Himmelreich hatte, die mich in den Folgejahren begleitete, bis sie im Alter von sechzehn Jahren fast wie von selbst endete, als ich mich für immer aus den Reihen der Gläubigen verabschiedete. Mein Vater erschien in meinem Bewusstsein daher nie in der Erwartung einer himmlischen Wiedervereinigung. Hingegen erschien er in meinen Träumen. Ja, er erschien in meinen Träumen, Jahr für Jahr, zumindest bis zu meinem dreißigsten Lebensjahr, vielleicht auch länger, ja, ich könnte annähernd vierzig gewesen sein, bevor die Träume von meinem längst verstorbenen Vater ein Ende fanden. Soweit ich mich erinnere, hatten alle diese Träume eine gemeinsame Grundstimmung. Sie hatten auch, immer noch soweit ich mich beim Schreiben dieser Zeilen erinnere, in den allermeisten Fällen eine gemeinsame Eröffnungssequenz. Sie begannen im Hinterhof des Mietshauses, in dem Familie Sørlie wohnte, bei der ich die Nacht verbracht hatte, in der mein Vater im Zentralkrankenhaus von Tønsberg starb. Dorthin war er mit dem Krankenwagen von Sandefjord aus gebracht worden, es war passiert, während ich draußen war, und als ich heimkam, war Frau Sørlie da und sagte, ich solle mit zu ihr kommen. Es war nicht das erste Mal, dass mein Vater ins Krankenhaus eingeliefert wurde, das war in den letzten Jahren zwei- oder dreimal vorgekommen, ich war daran gewöhnt und befürchtete nicht, dass er nicht mehr nach Hause käme, alle Erfahrung deutete darauf hin, dass er wiederkäme. Aber dieses Mal kam er nicht wieder. Im Traum begegne ich meinem Vater, meist überraschend, in einem Verschlag im ehemaligen Stall des Mietshauses, in dem Familie Sørlie wohnte. Er sitzt auf einem Hackklotz, atmet schwer und presst die Hände auf sein Herz. Ich freue mich, denn obwohl ich erkenne, dass er schwerkrank ist, ist er zurückgekommen. Warum, ist im Traum nicht zu erkennen, er ist einfach zurückgekommen, er ist also doch nicht tot, wie ich geglaubt hatte, und das freut mich, obwohl er so krank ist. Er ist schwer wie Blei. Im Traum ist oft derjenige, der träumt, bleischwer, kann die Füße nicht bewegen, sosehr er es auch versucht, der Träumer hat das Gefühl, sich im Traum zu überanstrengen, wenn er versucht, die Füße zu bewegen, um einen Schritt zu machen, schafft es nicht, doch in diesem Traum war mein Vater schwer wie Blei, nicht ich, der Träumer, und er drohte sich zu überanstrengen beim Versuch, sich der Bleischwere zu entledigen, nicht der in seinen Füßen, sondern der in seinem Leben. Ich, der Träumer, kann leichtfüßig davonlaufen, z.B. um Hilfe für meinen kranken Vater zu holen, oder ich helfe ihm aus dem Verschlag, häufig zusammen mit einem anderen, den ich nicht zu identifizieren vermag, hinaus in den Innenhof, wo er in die Sonne blinzelt und etwas sagt; oder der andere, der Unidentifizierte, sagt es für ihn, z.B. dass er sich nicht so gut fühlt, wie er es sich wünscht, jetzt, wo er wieder hier ist. Und ich weiß, dass er uns noch einmal wegsterben wird, und doch freue ich mich, ja, ich bin glücklich darüber, dass er trotz allem hier ist. Wie alt ist derjenige im Traum, zum Zeitpunkt, als ich, sagen wir, vierzig war und das hier träumte? Elf oder vierzig? Das kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen, jedenfalls nicht jetzt, im Moment des Schreibens, vermutlich auch nicht im Moment des Träumens. Ist der Traum unsagbar traurig? Es ist ein Traum, der einen schrecklichen Verlust zum Ausdruck bringt, aber es ist auch ein Traum, in dem ich unabhängig von meinem Alter renne, meine Beine bewegen sich wie Trommelstöcke, wie man so sagt, auf der Suche nach einer aufbauenden Nachricht, nach einem Arzt, der heilen kann, oder einer Stimme, die sagt: Er wird es schaffen. Im Traum zu hören, dass es die Hoffnung gibt, dass er es dieses Mal schafft, mit seinem schweren Atem, dem bleischweren Atem, dem schwachen, aber bleischweren Herzen und den von der Krankheit geschwollenen, aber vom Traum bleischweren Füßen, ist eine unsagbare Erleichterung. Es ist lange her, dass ich diese Träume hatte, ja, schon an jenem Oktobertag vor etwas mehr als zehn Jahren, als ich in der SAS-Maschine saß, über der Wolkendecke von Frankfurt am Main kreiste und mir vorstellte, ich befände mich im Paradies, während wir auf die Landeerlaubnis an einem der verkehrsreichsten Flughäfen Europas warteten, war es lange her, dass ich sie hatte. Doch ich weiß, dass ich solche Träume hatte, mit wenigen Variationen, in denen ich vor allem in der exakt gleichen Stimmung erwachte, egal ob ich zwölf, siebzehn, fünfundzwanzig, zweiunddreißig oder vierzig war, ja, vielleicht sogar noch älter, ein Mann mittleren Alters. Der Verlust hatte mich nicht losgelassen, er tauchte wieder und wieder im exakt selben Zustand auf, bis ich ein Mann mittleren Alters war. Doch dann hörte dieser Traum von selbst auf. Wann und weshalb, weiß ich nicht. Auch hatte ich mich nicht darüber gewundert, warum dieser Traum aus meinem Leben verschwunden war, ja, ich hatte kaum registriert, dass ich nicht länger von ihm heimgesucht wurde. Doch was ich mit als Erstes tat, als ich in der Wolkendecke über Frankfurt am Main erstmals diese Himmelsvorstellungen hatte, war, in einem dieser Engel, die meinen Himmel bevölkerten und die ich ohne Weiteres in der Anonymität hätte belassen können, die Gestalt meines Vaters zu erblicken, ich hätte mich mit den Himmelsvorstellungen von vorbeischwebenden Engeln und Posaunen auf diesen wundersamen Wolkenformationen unter mir und um mich herum begnügen können. Ich hatte sogar die Hand gehoben, zögerlich, um ihm zu winken, wie ich dort im Flugzeugrumpf saß, mich aber ebenso zögerlich umentschieden und die Hand wieder sinken lassen. Ich wurde nämlich ganz verlegen, nicht verschämt, aber ich wollte meinen inneren Frieden nicht von einer äußeren Geste entlarvt wissen, ich wollte nicht aus einem Flugzeugfenster winken für den Fall, dass es jemand sah, denn ich fand, dass es sich nicht gezieme. Aber vor meinem inneren Auge machte ich den Schritt. Ich fand es an der Zeit, selbst auszusteigen und mich auf einer Wolke nicht weit von jener, auf der mein Vater dahinsegelte, niederzulassen. Ich wage nicht, mich mit Flügeln auszustatten, bin also kein Engel, sondern nach wie vor ein irdischer Mann, aber ich befinde mich jetzt für einen kurzen Augenblick dort draußen in Gestalt des Menschen, der ich bin, einfach nur ich, sonst nichts, ohne weitere Kennzeichen, und ich bin auch nicht so taktlos, dass ich zu schildern wage, wie es sich anfühlt, die Füße auf eine Wolke zu setzen. Ich beschränke mich darauf, meine überirdische Freude zum Ausdruck zu bringen, darüber, dass ich meinen Vater nicht weit weg auf einer Wolke sitzen sehe, in Gedanken versunken, und ich schwebte auf meiner Wolke an ihm vorbei und winkte ihm aus großer Entfernung, und ich sehe, wie er kurz stutzt, als wäre er nicht sicher, was dort auf dieser Wolke vor sich geht oder wer sich darauf befindet, doch dann begreift er es, als ich in ziemlich großer Entfernung an ihm vorbeischwebe, zu groß, als dass wir uns hätten unterhalten können, vielleicht hätten wir schreien können, aber das hier war kein Ort zum Schreien, und er hob die Hand und winkte von seiner Wolke zurück, als wir aneinander vorbeiglitten.

Weiter konnten meine Himmelsvorstellungen nicht gehen. Näher werde ich meinem verstorbenen Vater niemals mehr kommen, wenn ich ihn mir in Gestalt eines Engels denke. Eigentlich bin ich schon zu weit gegangen. Ich habe eine Lücke in meinem Bewusstsein gefunden und sie genutzt oder ausgenutzt, um mir Zugang zur Ewigkeit zu verschaffen, für einen kurzen Augenblick, weil ich meinen Vater auf diese Weise wiedersehen wollte. Ohne ein Wort zu wechseln, ich wollte ihn nur dort auf seiner Wolke sehen und selbst auf einer anderen Wolke in großer Entfernung an ihm vorbeischweben. Ich hätte mich jedoch mit dem ersten und einzigen Anblick vor meinem Fenster zufriedengeben können, während ich dort im Flugzeugrumpf saß. Ich hätte nicht hinausgehen sollen, in die Ewigkeit, nicht einmal in meiner Vorstellung. Ich gebe zu, dass es mir hinterher Angst eingejagt hat, es ist mehr als zehn Jahre her, aber ich wache nachts oft auf, weil ich im Traum dem Tod einen Besuch abgestattet habe, was zweifellos daran liegt, dass ich seinerzeit eine Lücke in meinem Bewusstsein ausnutzen konnte, um einen kurzen Sprung in die Ewigkeit zu wagen. Doch als es geschah, hatte ich keine Alternativvorstellungen. Ich war so ergriffen von meinen eigenen Himmelsvorstellungen, dass ich diese Ergriffenheit mit einem Unschuldszustand verwechselt haben musste, denn alles, was ich mir vorstellte, machte mich überirdisch glücklich. Nicht allein, dass ich meinen Vater in einem Engel mit herabhängenden Flügeln und einer Posaune in den Händen, der auf einer kleinen Wolke tief unter mir saß, erkannt hatte. Es dauerte trotz allem nur eine winzige Sekunde, bevor neue Traumgesichte vor mir auftauchten und ich mich von ihnen in den Bann schlagen ließ, ohne weitere Versuche zu unternehmen, meinen Vater wiederzufinden. Doch ständig tauchten neue Wolkenformationen auf und appellierten an meine Vorstellungskraft. Alles, was ich sah, erschien mir wie ein Kirchenlied. Ich sah die geheimsten Hoffnungen der Menschheit. Ich sah Zeichen der Gnade und deutliche Bilder der Erlösung. Ich sah Engel, die ganze Zeit über sah ich Engel, Scharen von Engeln. Erneut sah ich den Löwen und das Lamm, jetzt in rosa Licht getaucht. Ich sah Fabelwesen. Den Thron und den Himmelswagen, alles, was besungen worden ist, und alles, was zu Bildern verarbeitet worden war, ich sah große allegorische Prozessionen, die sich über die luftigen Federbetten der großen Wolken bewegten, ich erkannte den Wolkenschleier, der sich in Nichts auflöste, und ich erdreistete mich, nach Gottes Thron Ausschau zu halten. Sah ich Gottes Thron? Ja, ich denke schon, ich konnte Gottes Thron und die Scharen, die drum herum versammelt waren, gut erkennen. Doch Gott selbst sah ich nicht, er war für mich nicht anwesend. Ja, ich sah Gottes Thron, obwohl er nicht leicht zu finden war, er stand ein wenig verdeckt in einem Wolkenberg, und ich hätte ihn durchaus für etwas anderes halten können, z.B. für einen Himmelswagen, Glied einer der unzähligen Prozessionen, von denen der Himmel so voll sein soll und die ich oft auf Glasmalereien und Tafeln in Kathedralen uralter europäischer Städte abgebildet gesehen hatte. Ich sah alle gemalten Bilder und alles, was gesagt war, und ich war sehr dankbar für all die Bilder, die ich gesehen hatte, und alles, was ich gelesen hatte und was unvergessen ist, wie ich weiß, obwohl ich ebenfalls weiß, dass ich keine Chance habe, Gott in meinen Himmelsvorstellungen zu entdecken, aus Gründen, die für jedermann offensichtlich sind.3 Ich befand mich in einem Flugzeug, in einer Art himmlischem Vogelkörper, und schaute hinaus. Wie lange kreisten wir schon über der Wolkendecke oberhalb von Frankfurts Flughafen? Ich weiß es nicht, ich hatte längst den Kontakt zur Zeit verloren, wie ich in Gedanken versunken dasaß und hinausschaute. Ich war so absorbiert von meinen Himmelsvorstellungen, dass mir nicht einmal aufgefallen war, dass es dunkel wurde, noch dazu in jenem Raum, der Schauplatz meiner überirdischen Vorstellungen war. Doch auf einmal durchflogen wir die kompakte Wolkendecke und waren kurz darauf auf der anderen Seite und konnten die nackte Erde erblicken. Mit Gebrüll stürzten wir uns durch die Wolkendecke in Richtung der dampfenden Felder, Wälder, Häuschen und des Straßennetzes unter uns. Eine Stimme im Lautsprecher verkündete, dass wir nun zur Landung ansetzten. Unter den Flügeln wurden die Räder ausgefahren, wir flogen ziemlich dicht über den Boden und kamen im diffusen Licht der Dämmerung in eine große Stadt. Ich erblickte einen riesigen blinkenden Betonturm, der links von mir in die Luft ragte, und direkt unter mir befand sich ein großer Park, der aussah, als würde er sich über große Gebiete mitten in der Stadt erstrecken, eine breite Avenue führte durch ihn hindurch, in der alle Straßenlaternen brannten, aber mit einem bemerkenswert gedämpften, ja, schwachen Licht. Mitten auf dieser Avenue befand sich ein offener Platz mit einer angestrahlten vergoldeten Säule. Der Flughafen lag quasi im Zentrum, wie es schien, denn kurz darauf setzten wir mit einem schweren Dröhnen auf, und das Flugzeug drosselte nach und nach das Tempo, bis es schließlich zum Stehen kam. Eine Stimme im Lautsprecher bedauerte den Vorfall, hieß uns aber dennoch in Berlin willkommen. Wir sollten das Flugzeug verlassen und in der Eingangshalle auf weitere Anweisungen warten. In dem Moment begriff ich, dass das Flugzeug aus irgendeinem Grund nicht auf dem Frankfurter Flughafen landen konnte, sondern weiter nach Osten geflogen war, nach Berlin, doch hatte ich, der ich von dem, was ich schon jetzt meine Himmelsvorstellungen nannte, absorbiert gewesen war, nicht mitbekommen, was sicherlich längst bekanntgegeben worden war. In der Eingangshalle warteten wir zwei Stunden, und da der Frankfurter Flughafen weiterhin geschlossen war, bekamen diejenigen von uns, die es wünschten, eine Hotelübernachtung in Berlin angeboten oder eine Weiterreise nach Frankfurt mit dem Zug. Da sich das Ziel meiner Reise, die Teilnahme an einer Literaturveranstaltung auf der internationalen Frankfurter Buchmesse, die heute Abend stattfinden sollte, nicht mehr realisieren ließ, beschloss ich, in Berlin ins Hotel zu gehen. Es war mein erster Besuch in Berlin.

16.7.41

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