Читать книгу Mein Freund Jimmy - Dana Kroesche - Страница 3
Erstes Kapitel
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Ich möchte darauf hinweisen, dass der Zeitraum
in der Geschichte stark komprimiert wurde.
Von der Erkenntnis, über die Akzeptanz
einer psychischen Herausforderung,
bis hin zu ihrer Heilung,
ist die Zeitspanne individuell und
braucht je nach Umständen mehrere Jahre.
***
Für Mutti
Er war doch mein Freund gewesen.
Die Zeit, bevor ich zu Schweigen begann …
Ich rannte.
Ich rannte einfach.
Ich rannte weg.
Ich rannte weg vor dieser Situation.
Ich rannte weg vor dem Schmerz.
Meine Lungen brannten. Meine Knie taten weh. Meine Muskeln versagten fast, durch die plötzliche Anstrengung. Die Tränen trübten meine Sicht, doch ich rannte immer weiter.
Ich hatte ihn einfach liegen lassen.
Diesen leblosen Körper.
Diesen Körper, den ich so geliebt hatte. Diese zarte Haut.
Ich rannte.
Als ich stürzte, stand ich wieder auf und rannte weiter.
Es durfte nicht sein. Ein einziger Augenblick, der mein komplettes Leben auf einen anderen Weg brachte.
Es schmerzte so sehr.
Ich rannte und ich wusste nicht wohin.
Doch irgendwann kam ich an.
Ich klingelte Sturm an der Tür.
Die Tränen ließen nicht zu, dass ich etwas erkennen konnte.
Jemand öffnete.
„Marleen?“, Jimmy sah mich entgeistert an. Er nahm mich in die Arme, bevor ich zusammenbrach.
„Was ist passiert?“, fragte er besorgt.
„Er ist tot!“, schrie ich. „Er ist tot! Tot! Einfach tot! Er ist in meinen Armen gestorben!“
Er begriff sofort. Er zog mich ins Haus. Ich stolperte. Er konnte mich nicht oben halten und ich fiel im Flur auf den Boden. „Dad! Ich brauche Hilfe!“ Der Umriss seines Vaters erschien im Türrahmen. Er eilte, um seinem Sohn zu helfen. Sie versuchten mich auf die Beine zu stellen. Dies misslang ihnen, da ich keine unterstützende Kraft mehr hatte. Ich sackte weg und lag wieder auf dem Boden. Ihre Stimmen drangen von weit her zu meinem Ohr.
„Nein! Nein! Nein!“, schrie ich fortwährend. Durch die ganze Spucke, die sich in meinem Mund angesammelt hatte, wurde es zu einem gurgelnden Laut.
Bei einem der unkontrollierten Atemzüge verschluckte ich mich und bekam einen derart starken Hustenreiz, dass ich das Gefühl hatte, als würde meine Lunge explodieren. Ich erbrach meinen Mageninhalt und begann wieder zu schreien.
Ich zog mich in Embryonalstellung zusammen und lag mit dem Kopf in meinem Erbrochenen.
Nichts davon realisierte ich.
Es geschah innerhalb von Sekunden. Genau wie der Moment seines Ablebens.
Ich wurde hochgehoben.
Ich wurde getragen.
Dann fand ich mich umgeben von warmem Wasser. Es linderte die Schmerzen meiner Muskeln. Hier wollte ich bleiben.
Die Schreie rissen mich innerlich fast auseinander, aber ich konnte nicht aufhören. Jimmy und dessen Vater wussten, dass sie nichts weiter für mich tun konnten, als für die äußeren Umstände Sorge zu tragen.
Ich wurde wieder hochgehoben. Ich wurde wieder getragen.
Ich wurde auf einen weichen Untergrund gelegt und behutsam zugedeckt.
Dann wurde es dunkel. Eine sehr lange Zeit.
Als es wieder hell wurde, hielt Jimmy meine Hand.
„Sam“, murmelte ich. Mein Gesicht spannte, es war überzogen mit getrockneten Tränen.
„Nein…“, flüsterte Jimmy mit Bedacht.
„Wo ist er?“
Eine Hand streichelte liebevoll mein Gesicht. „Es geht ihm jetzt besser. Er ist bei seiner Schwester, seiner Mama und seinem Papa.“
„Neeeein…!“, die Schreie kamen wieder. Sie klangen jetzt nur noch wie ein gequältes Krächzen.
Irgendwann stand Jimmy auf.
„Nein! Lass mich nicht auch noch alleine!“ Ich wollte seinen Arm ergreifen, war aber zu schwach. Meine Hand rutschte ab, sodass er sie halten musste.
„Keine Angst Liebes. Ich komme wieder. Ich verspreche es dir.“
Ich ließ los und beobachtete durch den Tränenvorhang, wie er das Zimmer verließ.
Als ich das nächste Mal erwachte, meinte Jimmy: „Marleen, auch wenn ich jetzt alles andere möchte als dich damit belasten, muss ich so fair sein und es dir mitteilen: Du wurdest als Entscheidungsträgerin gewählt, da man in Sams Wohnung nur Hinweise auf deine Person fand. Sein Körper wurde ins Krematorium gebracht. Sie müssen wissen, was damit geschehen soll. Wir können ihn nicht länger dort liegen lassen, das wäre fatal.“
Sein toter Körper. Kalt und blass.
Ich wollte erneut schreien, doch es kam kein Ton mehr. „Er soll neben mir liegen. Einfach neben mir…“, wisperte ich.
Jimmy nahm meine Hand. „Möchtest du, dass mein Vater und ich uns darum kümmern? Wir organisieren ein Begräbnis.“
Ich nickte nur und vergrub den Kopf im Kissen. Wieder Dunkelheit.
Es wurde Tag und es wurde wieder Nacht. Ich weiß nicht wie oft. Ich verschlief die meiste Zeit. Ich hatte jegliche Empfindung dafür verloren.
Hin und wieder trug Jimmy mich zum warmen Wasser, aber auch das wurde mir zu viel und ich begann es zu verweigern. Genauso verweigerte ich, dass er das Bett neu bezog. Ich wollte nur darin liegen, mit der Decke über mir, die mich scheinbar vor der Außenwelt schützte.
In der Dunkelheit.
Niemand machte Anstalten über meinen Zustand. Das erste Mal in meinem Leben, das niemand einen Kommentar darüber abgab, was ich tat.
Täglich wurden mir eigentlich köstliche Mahlzeiten hingestellt. Es war eine Verschwendung, dass ich von allen nur einen Bissen nahm und sie dann wieder weggebracht wurden, damit sie keine Fliegen anzogen.
Den Tee allerdings trank ich immer leer. Er besänftigte meinen schmerzenden Körper zumindest ein wenig.
Und es wurde wieder dunkel.
An irgendeinem Tag danach erwachte ich durch das leise Quietschen der Tür. Ich blinzelte, aber sah niemanden. So zog ich die Decke bis zum Hals hoch und schloss die Augen.
Ich spürte einen dumpfen Ruck in der Matratze. Schlagartig waren meine Augen wieder auf.
Da war eine Katze im Bett und ich kannte sie sehr gut.
„Lilly“, rief ich weinerlich ihren Namen. Sie roch an mir und kam dann näher, damit ich sie streicheln konnte.
Ich fühlte ihre zerbrechlichen Knochen.
Wir waren beide abgemagert bis auf die Haut.
Sie schmuste mit mir und legte sich kurzerhand neben mich.
„Oh mein Schatz. Was ist nur passiert? Wie konnte er uns alleine lassen? Er ist für immer weg… Weißt du das? Er wird dich nie wieder streicheln können. Er wird nie wieder dein süßes Schnurren hören. Er ist für immer weg.“
Für immer ist bis zum Ende.
Seine Worte kamen mir in den Sinn. „Bis zum Ende…“, wiederholte ich schwach.
„Ach hier bist du.“ Jimmy kam rein und hockte sich neben das Bett. Er streckte seine Hand nach Lilly aus. Sie schnupperte, stand auf und verließ das Zimmer.
„Wir haben sie hergeholt. Ich denke, bei dir ist der beste Platz.“
Ich sah ihn mit großen Augen an: „Sie hat ihren Papa verloren…“ Ich versteckte mich unter der Decke, um weiter zu weinen. Ich wollte nicht, dass er meine Tränen andauernd sah. Meine Augen waren von dem stetigen Flüssigkeitsüberschuss aufgequollen.
Bald darauf kam auch nichts mehr und ich dachte schon, es sei vorbei. Ich wäre einfach komplett leer.
Einen der folgenden Tage realisierte ich erst, dass ich schlief, als er vor mir stand.
„Sam.“ Ich kniete nieder, legte die Unterarme nach oben gestreckt auf den Boden und meinen Kopf darauf, sodass es wie eine umgekehrte Gebetshaltung aussah.
„Wieso nur? Sag mir wieso…“
„Marleen, steh auf. Du kannst hier nicht ewig liegen bleiben. Steh bitte auf. Du bist zu gut, um am Boden zu liegen! Steh auf!“
Mit einem Ruck fuhr ich hoch und saß aufrecht im Bett. Die Sonne schien ins Zimmer wie noch nie. Ich legte meinen Kopf in meine Hände. Ich spürte meine verfilzten Haare. Meine Hände rochen nach Schweiß und Essen. Ich realisierte ebenfalls meinen Körpergeruch. Oder eher Gestank. Ich stank. Ich hatte seit Tagen nicht mehr unter Wasser gestanden. Oder waren es mittlerweile Wochen? Wie war ich eigentlich zur Toilette gekommen?
Oh Sam. Ich war wirklich am Boden.
Sein Bild kam mir in den Sinn. Das Letzte von ihm.
Knochig und krank. Und stinkend.
Nein, ich war nicht geschaffen, um am Boden zu sein und vor mich hin zu vegetieren.
Ich setzte meine Füße auf das Laminat. In dieser kurzen Zeit hatten meine Muskeln stärker abgebaut, als ich es erwartet hätte.
War es eine kurze Zeit gewesen?
Es klopfte und ich wäre vor Schreck fast hingefallen.
„Hey, du stehst ja Kleines“, Jimmy hielt mir seine Hand hin.
„Ich mag baden“, meinte ich, während ich sie ergriff.
Als ich wieder im Wasser lag, spülte ich den Schmutz ab, in der Hoffnung ich würde mich danach besser fühlen. Aber wenn einen psychisch etwas belastet, kann man es physisch nicht entfernen.
Lilly kam durch die Tür und tapste auf dem Rand der Badewanne herum.
„Er hat gesagt, ich soll aufstehen. Ich wäre zu gut für den Boden. Hast du mitbekommen, wie er gegangen ist? Hast du das gespürt du süßes Tier?“
Tagelang hatte ich es geschafft nicht zu weinen. Nun begann es wieder.
Nach einer gefühlten Ewigkeit des Weinens und Schweigens, kam Jimmy vorsichtig zu mir. „Du löst dich auf, wenn du noch länger in der Wanne bleibst.“
„Was tut das schon zur Sache…?“
Er half mir beim Abtrocknen. „Wie viele Tage sind bereits vergangen?“, frage ich.
Er zögerte. „Einige. Aber ich finde, das ist nicht das, worauf du dich konzentrieren solltest.“
Ich schluckte. „Was soll ich jetzt tun Jimmy? Es ist alles so dunkel und so ausweglos. Ich kann nichts mehr ändern. Es ist passiert. Ich fühle mich so hilflos.“
Er sagte nichts. Er zog mich an sich und fuhr mit den Fingern über meinen nackten, mittlerweile sehr mageren, Körper. Ich hob den Kopf und sah ihn mit meinen müden Augen an. Sie hatten den Glanz verloren, welchen Sam so geliebt hatte. Ein Teil von mir war mit ihm gestorben. Jimmy schwieg einfach. Was konnte er schon sagen?
Kein Wort ist in so einer Situation wirklich hilfreich. Man kann jemandem, der solch einen geliebten Menschen für immer verloren hat, diesen Schmerz nicht mit Worten nehmen. Mit gar nichts. Eigentlich.
„Kannst du Gras besorgen?“
Er blickte mich überrascht an und ich sah, dass er in seinem Kopf die Vor- und Nachteile für mich gegeneinander abwog. Schließlich nickte er.
Ich wendete mich ab und nahm die saubere Kleidung in die Hand, die für mich bereitlag. Als ich mich dabei aus Versehen im Spiegel sah, zuckte ich vor Schreck über den Anblick zusammen. Ich vermied es, daran hängen zu bleiben.
Nicht nur der Glanz meiner Augen war verschwunden… Ich ging wieder in Jimmys Zimmer. Ich nahm seine Gitarre.
Ich konnte zwar nicht spielen, aber ich hatte das Verlangen damit zu klimpern.
Irgendwann starrte ich bloß nur noch apathisch aus dem Fenster. Mein Kopf war vollkommen leer. Alles was ich tat, erschien mir surreal.
Kein Gedanke ist in so einer Situation wirklich hilfreich.
„Sam ist tot…“, flüsterte ich zu mir selbst.
Geschehnisse und Emotionen erscheinen uns wahrhaftiger, sobald wir sie laut aussprechen. Deswegen vermeiden wir verbale Kommunikation über etwas, was wir nicht wahrhaben wollen.
Wir schweigen es tot. Wie wahr.
Wir schweigen über den Tod.
Während ich so dasaß, wanderte die Sonne gegen Untergang. Auch das kann man nicht verhindern, aber sie geht wenigstens wieder auf.
„Marleen?“ Jimmy raschelte mit einem Tütchen. Das entlockte mir das erste Lächeln, seit es passiert war.
In der anderen Hand hielt er einen Teller mit Brot. „Iss das bitte vorher.“ Er stellte den Teller ab und breitete das Zeug und die Utensilien auf dem Tisch vor seinem Sofa aus. Da ich ihn nicht noch mehr enttäuschen wollte, fing ich an, an dem Brot zu knabbern. „Magst du dann noch eine schöne Atmosphäre schaffen?“, bat ich ihn.