Читать книгу Mein Freund Jimmy - Dana Kroesche - Страница 5

Drittes Kapitel

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Ich stand auf, ich musste etwas machen. Ich beschloss ausgiebig duschen zu gehen. So einen eigenartigen Körpergeruch wie vorher, wollte ich nicht mehr entwickeln.

Unter dem sanften Wasserstrahl verbesserte sich mein Befinden leicht. Als ich mich abtrocknete, fiel mein Blick auf Jimmys Rasierer. Ich kam zwar gerade aus der Dusche, aber spontan beschloss ich, meinen ganzen Körper einmal von Grund auf zu reinigen. Also kramte ich in meiner bereitgestellten Kosmetiktasche, wurde fündig, hockte ich mich auf den Rand der Badewanne und fing an, die Haare zu entfernen.

Ich war gerade bei der Hälfte angekommen, als unten im Haus eine Tür laut zuschlug. Ich erschrak und schnitt mir eine tiefe Wunde ins Bein. Sofort quollen dicke Blutstropfen heraus und liefen gen Boden. Ich griff nach dem Klopapier, um das Schlimmste zu beseitigen, dann humpelte ich zur Tür, noch immer Papier dagegen pressend.

„Jimmy!“, rief ich so laut es meine Stimme erlaubte.

Es dauerte eine Ewigkeit, bis er die Treppe hoch gerannt kam. Er sah das ganze Blut auf dem Boden und wurde bleich. Er dachte vermutlich, ich hatte versucht Suizid zu begehen. Kaum zu glauben, dass diese kleinen Klingen ein ganzes Menschenleben auslöschen können.

Als Jimmy mir den Verband behutsam umband, kam mir eine Erinnerung in den Kopf.

Sam, wie er in meinem Zimmer vor mir gestanden hatte. Der Verband um seinen Arm. Darunter die zahlreichen Einstiche.

Wir hatten uns über alles offen unterhalten, bis auf den Verlauf seiner Abhängigkeit. Ein weiterer Schwall von Schmerz überkam mich und durch den Schock, kippte ich weg und es wurde schwarz.

Noch schwärzer als die Tiefen des Ozeans.

Die Sonne war mittlerweile untergegangen, als ich im Bett wieder zu mir kam.

Jimmy spielte leise Gitarre. Ich richtete mich auf. „Mit mir machst du was mit, hm?“

Er schaute hoch und lächelte leicht. Ich erblickte die Tüte Gras auf dem Tisch: „Wow, da war aber jemand großzügig.“

„Ja allerdings. Ich habe mir überlegt, wir können vorher Pizza bestellen, weil du heute mal wieder nichts gegessen hast.“ In dem Satz steckte ein Vorwurf, aber was sollte ich machen, wenn mein Körper sich sträubte Nahrung aufzunehmen. Doch der Gedanke an eine frische Pizza lockte mich tatsächlich. „Gerne, ich möchte Pizza Spaghetti.“ Ich setzte mich neben ihn.

Nachdem wir gegessen hatten, fing er an den ersten Joint zu bauen. Ich war nur in einem seiner Shirts und einem Slip bekleidet, durch den Verband am Bein wollte ich keine Hose anziehen und so fühlte ich mich gerade wohl, auch wenn ich so stark abgenommen hatte.

Das gleiche Spiel wie gestern begann. Zug für Zug entfernten sich die Gedanken und Schmerzen.

So ging es ein paar Abende nacheinander weiter. Die Tüte wurde immer leerer.

Ich machte mir keine Sorgen wegen der Sucht oder Abhängigkeit, mein Geist und Körper brauchten das momentan einfach, damit es auszuhalten war. Jimmy hatte dafür Verständnis. Er traute mir nicht zu, dass ich den gleichen Fehler begehen würde, welcher mir so ein derartiges Leiden bereitete.

Tage darauf besorgte er uns eine neue, kleine Tüte. Er hatte bewusst nicht mehr so viel gekauft, um mir ein Zeichen zu setzen, dass es nicht immer so weitergehen konnte.

„Kann sein, dass das hier etwas stärker ist als die letzten Male.“ Trotz dieser Aussage, gab er mir diesmal einen ganzen Joint in die Hand, den ich anzündete und genüsslich bis zum Schluss rauchte.

Wir sprachen nicht.

Mit jedem Atemzug nahm die Wirkung zu. Ich beobachtete wieder das Fallen meines Körpers. Die Taubheit im Herz und Geist begann. Der Verband um mein Bein fing an mich zu stören und ich war plötzlich wie besessen davon ihn loszuwerden. Ich begann daran herumzufummeln, bis er sich löste und langsam zu Boden glitt. So wie ich es getan hatte.

Wie sollte es nur weitergehen?

Es war wohl echt stärkeres Zeug, denn auf einmal stand Sam mitten im Raum. Ich keuchte und bewegte mich auf ihn zu.

Der Prozess mit der Trauer klarzukommen war eigentlich, den Umständen entsprechend, gut vorangegangen. Ich war jeden Morgen aufgestanden und hatte mich mit geringfügigen Dingen beschäftigt. Draußen war ich zwar noch nicht gewesen, aber das war nur eine Frage der Zeit.

Doch jetzt stand er vor mir und für diesen Moment kam alles wieder hoch. Ich spürte seinen leichter werdenden Körper in meinen Armen, meine Schreie, meine Tränen, die ewige Dunkelheit.

Ich starrte ihn einfach nur an. Ich wollte ihm alles an den Kopf werfen, was er mir angetan hatte. Wie er mich auf dieser großen Welt alleine gelassen hatte, aber meine Kehle war zugeschnürt.

Ich musterte ihn. Der Schein der Lampe ließ seine blonden Haare golden schimmern. Er trug eine alte Levis Jeans und ein schwarzes T-Shirt, sein Lieblingsoutfit. Er sah kurz auf den Boden und dann mir in die Augen: „Mein süßes Mädchen. Was machst du denn da? Du versuchst die Dinge zu betäuben, die du verarbeiten sollst. Genau so hatte es bei mir begonnen, weißt du nicht mehr? Ich bin vor der Verarbeitung geflohen, vor der Aufgabe, die mir das Leben damals gestellt hat. Du hast erlebt, wo es mich hingeführt hat. Marleen, du musst endlich die Augen wieder vollkommen öffnen und weiterleben. Für uns. Indem du weiterlebst, werde ich es auch. Auch wenn es so sehr schmerzt, es ist nur der Verlust meines körperlichen Daseins. Aber ich bin weiterhin bei dir. In jedem Atemzug, in jedem Herzschlag, in jedem Windhauch, in jedem Sonnenstrahl, der deine Haut berührt. Du musst es nur erkennen und dich gegen das Verlangen durchsetzen, alles aufzugeben. Niemand der stirbt, möchte so etwas hinterlassen und auch ich nicht. Ich möchte dich lachen sehen. Ich möchte dich wieder leben sehen. Ich möchte, dass du dein Leben besser im Griff hast, als ich meines. Ich möchte, dass du älter wirst als 21. Ich möchte nicht, dass du mich vergisst, aber ich möchte dich wieder lieben sehen. Dass du unsere Liebe verbreitest. Sodass mehr Menschen verstehen, was es eigentlich bedeutet zu lieben. Liebe heißt nicht sich aufzugeben, wenn jemand stirbt. Liebe heißt, weitermachen und ihn in guter Erinnerung bei sich tragen. Kämpfe Marleen. Verkörpere das starke Mädchen, welches du durch mich geworden bist. Du hast mehr erfahren als andere. Nutze das. Nutze dein Wissen und teile es mit der Welt. Verkrieche dich nicht länger. Geh zu Jimmy und liebe ihn. Gib ihm die gleiche Chance wie mir. Er ist nun für dich da. Ich kann es nicht mehr. Ich liebe dich mein Mädchen. Ich werde hier auf dich warten, bis wir für immer zusammen sind.“

Ich spürte seinen Kuss.

Ich öffnete die Augen, wie er es mir gesagt hatte.

Da war nichts. Nur das Fenster aus dem ich mich selbst anstarrte.

„Sam…“ Ich stand verlassen und alleine mitten im Raum.

Jimmy näherte sich vorsichtig und legte von hinten die Arme um mich und die Hände auf meinen Bauch. So hatte Sam mich oft gehalten. So fühlte ich mich sicher und behütet. Ich ließ es zu, dass Jimmy nun diese Position einnahm.

„Ist alles in Ordnung?“, flüsterte er.

„Ich glaube jetzt schon.“

Wir wiegten sachte vor und zurück. Dies sollte bis auf Weiteres meine letzte Droge gewesen sein.

Wir legten uns schlafen und ich entglitt voller Zuversicht in das Dunkel.

Als die Sonne diesmal ins Zimmer schien, drang sie das erste Mal wirklich zu mir durch. Ich zog mir ein Shirt über, ging zum Fenster und öffnete es. Wie lange hatte ich keine frische Luft mehr geatmet? Das letzte Mal, als ich draußen gewesen war, war ich hierher gerannt. Die beiden haben mich wortlos aufgenommen.

Ich wusste, der Schmerz wäre jetzt nicht vorbei und ich würde noch oft weinen, aber ich wollte es ändern. Ich wollte die Oberfläche erreichen und wieder in die Welt hinausgehen, mit einer Stärke, dass ich anderen ein Vorbild sein konnte.

Und ich würde es schaffen.

Zusammen mit Jimmy.

„Morgen du Schöne“, grummelte er, als hätte nun auch er meine Gedanken gehört.

Ich lächelte ihn an: „Hi.“

„Wie geht es dir?“

„Ganz in Ordnung gerade. Ich denke gestern hat sich echt etwas in mir verändert.“

„Er war da. Hm?“

Ich setzte mich auf die Bettkante: „Ja, zumindest in meiner Vorstellung. Er hat sich verabschiedet. Jetzt versuche ich mich wieder euch zuzuwenden.“

Er sah erleichtert aus, als er seine Hand in meinen Nacken legte und mich zu sich zog. Ich kroch wieder unter die Decke zu meinem Jimmy.

„Und jetzt erzähl mir mal, was in meiner Abwesenheit alles vorgefallen ist.“

Jimmy drehte sich auf den Rücken. „Okay, ich weiß gar nicht, ob du das alles wissen willst. Aber du hast ein Recht, es zu erfahren.“ Ich sah ihn aufmerksam an. „Zuerst muss ich dir etwas gestehen. Ich war nicht genau, als du mich gefragt hast, wie lange du weggetreten warst. Es waren fast zwei Monate.“

Er pausierte und schaute mich an, um meine Reaktion zu beobachten.

Ich sog scharf die Luft ein, aber nickte nur.

„Ich habe in der Zeit ein paar Konzerte gegeben. Die Schule hat wieder angefangen, aber da war ich nur sporadisch, weil ich in deiner Nähe sein wollte. Mein Dad und ich haben uns abgewechselt. In seinem Job hat sich auch einiges geändert. Er ist zumindest aktuell, öfter Zuhause als früher. Das nächste ist ein schwieriges Thema.“, er machte eine bedeutungsschwangere Pause, „deine Eltern haben auch entsprechend agiert.“

Meine Eltern, die existierten ja auch noch. Vor diesem schrecklichen Augenblick, der mein Leben entgleisen ließ, war ich aus dem Internat geflohen, in das sie mich gesteckt hatten. Ich habe sie fast ein Jahr nicht mehr gesehen. Sie hatten selten angerufen, waren nie da gewesen und einen Besuch daheim ermöglichten sie mir nur an Weihnachten. Was für eine immense Liebe. Aber auf einmal tauchten sie wieder auf. Als hätten sie nicht genug angerichtet.

„Als sie das mit deinem Ausbruch hörten, starteten sie eine Polizeisuche nach dir. Erfolglos. Dein Bild in allen Zeitungen. Dad und ich haben deshalb Kontakt zu ihnen aufgenommen. Sie hatten dich bereits aufgegeben und waren erleichtert.“

Die beiden und erleichtert, das waren sie höchstens, weil ich mich nicht auf dem Strich befand.

„Weißt du noch, wo du dich beim Rasieren geschnitten hast? Kurz bevor ich hochkam, waren die beiden da und wollten dich sehen. Dies habe ich nicht für gut befunden, wir hatten eine Auseinandersetzung und ich habe ihnen die Tür vor der Nase zugeknallt.“

„Was haben sie denn gesagt?“, unterbrach ich ihn.

„Sie haben sich aufgeregt. Ich habe ihnen eine klare Ansage gemacht, wie es dir geht und dass sie dir Zeit geben, wenn sie irgendwo Verständnis aufbringen können. Ich denke das haben sie verstanden, weil seit dem kam nichts mehr.“

Ich knautschte mit der Hand das Bettlaken zusammen, um es wieder glatt zu streichen. Eine normale Reaktion, wenn man nicht weiß, was man sagen soll.

„Vielleicht sollte ich sie mal anrufen ... Sie wissen ja das von Sam?“

„Ja, das habe ich ihnen mitgeteilt.“

Jetzt malte ich mit dem Finger Muster in das Laken, die kurz darauf wieder verschwanden. „Und ... Und was ist mit ihm passiert?“

„Wir haben ein Begräbnis organisiert. Hier auf dem Steinhauer-Friedhof, der ist nicht kirchlich.“

Ich stellte mir diesen geliebten Körper in einer Holzkiste, überdeckt mit einem Haufen kalter Erde, vor. Er verfällt und wird nie wieder so aussehen wie vorher. Das leibliche Sein des Menschen bleibt nur noch auf Bildern und im Gedächtnis derer vorhanden, die ihn kannten.

„Es war bestimmt niemand da ...“, flüsterte ich vor mich hin.

„Nein, nur ich und mein Dad. Ich muss sagen, ich fand Sam immer seltsam und in sich gekehrt. Ich habe mir nie wirklich Gedanken um ihn gemacht. Ich war nur enttäuscht und auch verwundert darüber, dass er dir so viel mehr geben konnte als ich. Du hattest nie erwähnt, weswegen er so war. Der Pathologe, der die Obduktion durchgeführt hat, hatte uns über die Todesursache informiert. Ich wusste das mit den Drogen gar nicht und ich hätte es auch nie vermutet.“

Ich sah ihm in die Augen: „Alle um ihn herum haben so gedacht oder nicht gedacht, und ihn gemieden. Wegen was? Wegen nichts! Weil er ein furchtbares Schicksal erlitten hat und verzweifelt Linderung suchte. Er war so ein sensibler Mensch und keiner hat sich die Mühe gemacht, hinter die Fassade zu blicken. Keiner hat sich getraut über sein unbegründetes Vorurteil ihm gegenüber hinwegzusehen. Ich war die Erste, die ihn mit seiner Geschichte akzeptierte. Kannst du dir auch nur ansatzweise vorstellen, was das für ihn bedeutete? Wie du dich fühlst, wenn dich alle verlassen, nachdem deine komplette Familie tot ist?“

Jimmy schaute betrübt weg. „Nein, das kann ich nicht. Es tut mir leid.“

„Nein!“, ich schüttelte den Kopf, „es braucht dir jetzt nicht mehr leidzutun. Schließlich sitze ich in deinem Bett.“ Eine Träne kullerte meine Wange hinab und bildete ein Rinnsal.

Mein Atem wurde so schwer wie die Stimmung im Raum.

Als ich den Hörer des Festnetztelefons ans Ohr nahm, zitterte ich wie im kältesten Winter. Ich wollte es tun. Wirklich.

Es tutete lange genug, dass mir die Überlegung kam wieder aufzulegen, aber nicht lange genug, dass ich dies tun konnte.

„Hallo?“, die Stimme meiner Mutter klang verwundert. Sie kannte die Nummer scheinbar nicht.

„Hi Mum ... Hier ist ... Marleen.“

Ein Keuchen am anderen Ende.

„Kind! Wie geht es dir? Es ist schön von dir zu hören. Wir dachten, du seist nicht mehr am Leben. Es war so eine furchtbare Zeit für deinen Vater und mich. Wie geht es dir? Weißt du schon, wann du nach Hause kommst?“

Zu viele Worte auf einmal und Fragen, deren Antwort sie doch nicht interessierte.

„Mir geht es nicht gut, wie du dir sicher vorstellen kannst. Ich weiß auch nicht, wann ich zu einem Treffen mit euch bereit sein werde. Ich wollte mich nur mal melden und von mir hören lassen.“

Es entstand eine längere Stille, in der ich meinen Herzschlag verfolgte.

„Ja ... Ich meine, was dir passiert ist, ist nicht beneidenswert. Es ist okay, wenn du noch Zeit brauchst. Wobei ich nicht verstehe, was das mit uns zu tun hat. Wir wollen nur das Beste für dich. Aber gut. Dann möchtest du auch sicher kein langes Gespräch führen.“

Sie gab mir eine Pause, um zu widersprechen, doch diese nutzte ich, um ihre Verständnislosigkeit zu verarbeiten.

„Es ist schön, dass du dich gemeldet hast. Bis bald.“ Ich hatte vorher gewusst, dass sie mir nichts Produktives sagen würde und bereute nun, dem Verlangen sie anzurufen gefolgt zu sein.

Geheucheltes Verständnis, wie immer.

Jimmy stand hinter mir. Er spürte meinen Stimmungsumschwung und legte seine Hände um mich. So standen wir eine Weile.

„Ich kapiere nicht, wie man so kalt und ignorant sein kann, wie dieser Mensch. Selbst wenn ich ihr alles erklären würde, hätte sie die Überzeugung, nichts zu meiner oder Sams Lage beigetragen zu haben.“

Er streichelte vorsichtig meinen Arm: „Aber egal, was du tust oder sagst Marleen. Du änderst sie nicht. Du solltest eher versuchen, ihnen die Tochter vorzuspielen, die sie möchten. Weil dann kommst du zumindest mit ihnen klar. Es ist momentan vielleicht zu viel für dich und es tut mir auch leid, dass ich dir so einen Vorschlag mache. Nur die ganze Rebellion und die Gedanken, die du verschwendest, kosten dich Zeit und Kraft. Deine Kraft, die du nun hast, solltest du eher verwenden, dass du persönlich wieder auf die Beine kommst.“

Diese Worte hätten fast von Sam sein können. Wieder mit Tränen in den Augen lächelte ich Jimmy an und war unglaublich dankbar, ihn an meiner Seite zu haben.

Mein Freund Jimmy

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