Читать книгу Gesichter der Vergangenheit - Dana Liebetreu - Страница 3
Eins
ОглавлениеAls Lena am Morgen dieses sonnigen Märztages vor die Haustür tritt, sieht sie eine alte Frau am Straßenrand stehen. Das ist an sich nichts Ungewöhnliches. Doch diese Dame trägt keine Jacke. Das ist dumm, denn obwohl die Sonne es gut meint und vom Himmel lacht, ist es doch immer noch ziemlich kalt. Zu kalt jedenfalls, um ohne Jacke draußen rumzulaufen. Lena bleibt stehen und schaut sich die Frau genau an. Graue Haare zu einem Knoten am Hinterkopf gebunden, ein türkisfarbener Pullover mit kurzen Ärmeln und eine schwarze Stoffhose. Dazu braune Schuhe.
Lena hat eigentlich keine Zeit, sich um fremde Menschen zu kümmern. Sie will in den Supermarkt, und das so schnell wie möglich, denn sie muss sich unbedingt um die Artikel kümmern, die sie in dieser Woche abgeben muss.
Außerdem soll sie ihre monatliche Kolumne schreiben, die in einer Woche fällig ist. Das Thema behagt ihr gar nicht. Warum wollen die Leser immer irgendwas über Liebe wissen? Und das von Lena? Die davon überhaupt keine Ahnung hat. Und auch nicht haben will.
Mist, denkt sich Lena und geht auf die Frau zu, die sich keinen Zentimeter von der Stelle rührt und unschlüssig auf die vorbeifahrenden Autos starrt.
„Hallo“, sagt Lena. „Haben sie sich verlaufen?“
Einen Schritt weiter und die Frau würde vor ein Auto laufen. Lena unterdrückt den Impuls, sie zurückzuziehen.
Die alte Dame dreht sich um. „Was willst du denn von mir?“
Ach je.
Lena überlegt, was sie tun soll. Die Polizei verständigen? Vielleicht wird sie ja irgendwo vermisst. Ist vielleicht ein voreiliger Entschluss. Eigentlich sieht diese Frau völlig normal aus. Ziemlich alt und ohne Jacke zwar, aber normal.
„Wohin wollen Sie denn?“, versucht Lena es erneut.
„Was geht dich das an?“
Normal, aber biestig.
„Entschuldigen Sie, aber Sie laufen hier ohne Jacke durch die Gegend. Sie müssen doch frieren und wollen sicher schnell wieder nach Hause. Kann ich Ihnen helfen?“
Der Gesichtsausdruck der alten Dame ändert sich. Auf einmal sieht sie eher ratlos als angriffslustig aus, und Lena bekommt Mitleid mit ihr.
„Frieren?“, murmelt sie vor sich hin und schaut an sich hinunter. Verwundert sieht sie dann Lena an. „Nein. Ich friere nicht. Ist das nicht seltsam?“
„Ja, das ist es in der Tat.“ Lena berührt die Hand der Frau und erschreckt über die Kälte, die sie ausstrahlt. „Um Himmels willen! Sie brauchen dringend eine Jacke. Und etwas Warmes zu trinken. Kommen Sie mit mir. Bitte.“
Was tue ich, denkt Lena? Hat sie tatsächlich gerade angeboten, eine Fremde in ihre Wohnung mitzunehmen?
„Ich kenne dich doch gar nicht.“ Schon ist dieser misstrauische Ausdruck wieder da.
„Das stimmt. Aber ich kenne Sie auch nicht. Leider hab ich mein Handy nicht dabei. Sonst würde ich telefonisch um Hilfe bitten. Hören Sie, ich wohne gleich hier.“ Lena zeigt hinter sich auf das Haus, in dem bis eben die Welt noch in Ordnung war. „Ich mache Ihnen etwas Warmes, gebe Ihnen eine Decke und rufe Ihre Verwandten an, damit sie Sie nach Hause bringen.“
„Ich habe keine Verwandten.“
„Jeder hat Verwandte“, rutscht es Lena raus.
„Ich bin nicht Jeder.“
„Das ist wahr.“ Lena weiß nicht weiter. Warum hat sie auch ihr Handy in der Wohnung gelassen? Doch zum Einkaufen braucht man das ja normalerweise nicht. Lena konnte ja nicht ahnen, dass sie heute so eine seltsame Begegnung haben würde. Außerdem hatte sie vor, in spätestens zwanzig Minuten wieder zu Hause zu sein und mit einem Kaffee an ihrem Laptop zu sitzen, um sich irgendetwas Banales über die Liebe auszudenken.
„Bitte“, fleht Lena die alte Frau an, „kommen Sie mit mir. Ich helfe Ihnen.“ So hilfsbereit kennt sie sich selbst gar nicht. Lena hat es sich abgewöhnt, ihre Hilfe anzubieten. Ja, sogar aufzudrängen. Zu oft ist sie damit auf die Nase gefallen. Zu oft hat sie hinterher Vorwürfe gehört, wenn jemand sagte: „Du bist Schuld. Du hast gesagt, das Beste wäre…“ Blablabla.
Die Dame schaut von Lena auf die stark befahrene Straße und wieder zurück zu Lena. „Gut.“
Oh, das ging jetzt aber leicht, denkt sich Lena und lächelt. „Eine gute Entscheidung.“
„Das werden wir erst noch sehen.“
Das ungleiche Paar überquert den schmalen Gehweg, und Lena schließt die Haustür des alten Mehrfamilienhauses auf, wohl bedacht, die fremde Frau nicht zu berühren. Sie fühlt sich wirklich ziemlich kalt an und irgendwie komisch. Sie steigen die Treppen in die zweite Etage herauf. An einigen Stellen blättert die Farbe von den Wänden und Putz rieselt von der Decke. Die alte Frau sieht sich naserümpfend um. „Was ist das hier für eine Absteige?“
„Das sieht nur auf dem ersten Blick schlimm aus“, meint Lena, „die Wohnungen sind sehr hübsch.“ Und das stimmt. Lena liebt dieses Haus und ihre Wohnung mit den zimmerhohen Fenstern und dem kleinen Balkon an der Südseite. Sie wohnt nun schon fünf Jahre hier und will nicht wieder weg. Okay, das Treppenhaus ist grottig, und in die winzigen Keller, die jeder von den sechs Mietparteien hat, bekommt man gerade mal ein Fahrrad und einen größeren Karton hinein - doch wer wohnt schon im Keller oder im Treppenhaus?
Unter dem Dach angekommen, steckt Lena den Schlüssel in das Schloss ihrer Wohnungstür, und einen Augenblick später stehen beide in dem schmalen Flur. Die alte Frau sieht sich um. „Ist das dunkel hier.“ Nun ja, das stimmt. Lena hatte die Zimmertüren geschlossen, bevor sie losging. Deshalb dringt jetzt natürlich kein Licht auf den Flur. Sie öffnet ein paar Türen, und schon wird es heller. Die Märzsonne bahnt sich ihren Weg durch Wohnraum und Küche. „Besser?“, fragt sie ihre Besucherin.
Lena geht ins Wohnzimmer. „Kommen Sie.“ Sie nimmt die orangefarbene Decke vom Sofa und hält sie bereit. Die alte Frau, die ihr gefolgt war, sieht sich auch hier neugierig um. „Kannst du dir keine anständigen Möbel leisten?“
Was?
„Was stimmt mit meinen Möbeln nicht?“
„Die haben keinen Stil.“
Ach?
„Mir gefallen sie. Setzen Sie sich hierher. Ich mache Tee. Oder möchten Sie lieber etwas anderes? Heiße Milch? Kakao?“
„Ich will nichts trinken.“
„Sie müssen wieder warm werden. Sie bekommen sonst eine schreckliche Erkältung.“ Oder eine Lungenentzündung. Doch das will Lena nicht sagen.
Widerwillig setzt sich die alte Frau auf das cremefarbene Sofa. Ihr Blick verrät beinahe so was wie Ekel, was Lena kränkt. Ich hätte sie stehen lassen sollen, denkt sie.
Lena legt ihrer unfreiwilligen Besucherin die Decke auf die Beine, nimmt eine zweite, die sie ihr über die Schultern legt.
„Zupf nicht so an mir rum.“
Meine Güte, was für eine garstige Alte.
In der Küche, Lenas Lieblingsraum, füllt sie den Wasserkocher, hängt Teebeutel in zwei große Tassen, holt Zucker aus dem knallgelb gestrichenen Schrank und stellt alles auf ein Tablett. Während sie das fertiggekochte Wasser in die Tassen schüttet, überlegt sie sich, wie sie diese Dame schnellstens wieder loswerden könnte. Natürlich so, dass sie kein schlechtes Gewissen bekommt. Lena legt noch ein paar Kekse auf einen Teller und trägt das Tablett ins Wohnzimmer. Der Platz auf dem Sofa ist leer.
„Hallo? Wo sind Sie denn?“ Lena hatte keine Geräusche gehört. Sie schaut in ihr Schlafzimmer - das ungemachte Bett starrt sie vorwurfsvoll an - und ins Bad. Auch im Gästezimmer, das Lena ursprünglich als Arbeitszimmer dienen sollte, sie es in der Küche aber viel gemütlicher findet, ist niemand. Keine Spur von der alten Dame. Schnell schaut sie aus dem Fenster, um die Straße, auf der sie vor wenigen Minuten noch gestanden hatten, zu überblicken. Nichts. Die Frau ist wie vom Erdboden verschwunden.
Auch gut, denkt Lena. Allerdings nur für den Bruchteil einer Sekunde. Was mache ich jetzt, fragt sie sich dann, geh ich sie suchen, oder bin ich froh, sie vom Hals zu haben? Lena mag fremde Menschen nicht besonders. Also nicht, dass sie gar keine neuen Kontakte knüpft. Das verlangt ihr Job in der Redaktion schon. Aber Fremde sind ihr relativ egal. Was Lena nicht egal ist, ist, dass eine alte Frau wegen ihr ohne Jacke in der Kälte herumirrt und womöglich noch erfriert. Oder von irgendwelchen Möchte-gern-Halbstarken blöd angemacht wird. Also nimmt Lena widerwillig ihr Handy, steckt es in die kleine schwarze Handtasche und verlässt zum zweiten Mal an diesem Tag ihre warme Wohnung.
Draußen, vor der Haustür, schaut sie sich nach allen Seiten um. Wo kann sie nur hingegangen sein? Lena spricht Passanten an: „Haben Sie eine alte Frau gesehen? Türkisfarbener Pullover, schwarze Hose, keine Jacke?“
„Nein, tut mir leid“, ist jedes Mal die Antwort. Lena läuft die Straße entlang. An diesem Mittwochvormittag sind zwar nicht viele Fußgänger unterwegs, aber eine Menge Autos. Sie vermeidet es, die Straßenseite zu wechseln. Irgendeine innere Stimme sagt ihr, dass die alte Frau sich nicht traut, über die Straße zu gehen. Schließlich hatte sie sie mit ängstlichem Blick an der Straße gefunden. Sie läuft den Bürgersteig entlang, schaut sich suchend um. Doch sie findet niemanden, der aussieht wie ihre verlorene gegangene alte Frau.
Das gibt es doch nicht, denkt Lena, irgendwo muss sie doch abgeblieben sein.
Hinter der nächsten Häuserecke, ungefähr zweihundert Meter von Lenas Wohnung entfernt, gibt es einen kleinen Park. Hier geht Lena oft hin, um dem Lärm der Stadt zu entfliehen und ihren Kopf freizukriegen. Am Rand des Parks befindet sich ein See. Oft füttert sie die Enten, von denen es reichlich auf diesem See gibt. Das beruhigt Lena. Sie findet es lustig, wie sich die Schwimmvögel um die Brotstückchen streiten. Dabei hat Lena immer genug dabei, dass es für alle reicht.
Die Hundebesitzer nutzen den Park für ihre Vierbeiner. Leider vergessen die meisten, deren Hinterlassenschaften einzusammeln. Lena hatte nicht nur einmal geflucht, weil sie in irgendwelche Haufen getreten war.
In den Park gelangt man nur über einen einzigen Eingang, es sei denn, er klettert über die hohen Hecken, was total bescheuert wäre, denn einige von denen haben fiese Dornen. Lena denkt immer an Dornröschen, wenn sie an diesen Hecken vorbeiläuft. In Gedanken ruft sie immer: ‚Hey, Prinz, bezwinge die Hecke! Du schaffst das! Tschakka!!‘ Natürlich soll der Prinz die Hecke erst bezwingen, wenn sie, Lena, schon wieder weg ist. Lena hat es nicht so mit Prinzen. Nicht mehr.
„Hi Emma“, ruft Lena schon von weitem, „hast du eine alte Frau ohne Jacke hier gesehen?“
„Ohne Jacke? Wer läuft denn bei diesem Wetter ohne Jacke rum?“
Lena hat den Kiosk, der eigentlich ein kleines Holzhäuschen ist, erreicht und lehnt sich auf das Brett des Fensters, aus dem Emma Getränke und Imbiss verkauft. „Eine alte Frau läuft ohne Jacke rum. Sag schon, ist die hier durch?“
„Du kennst Leute!“, erwidert die Mittsechzigerin.
„Emma!“
„Reg dich ab. Nee, hab ich nicht gesehen. Und wenn, hätte ich sie hier behalten.“
Scheiße, denkt Lena und sieht sich um. Durch die Bäume, die jetzt noch kein Laub tragen, kann sie bis zum See schauen. Und siehe da - auf der Bank sitzt jemand. Lena kneift die Augen zusammen, um die Person besser erkennen zu können.
„Ha!“, sagt sie, „du kriegst doch nicht alles mit.“ Und rennt los. Emma ruft ihr hinterher: „Wovon redest du?“ Doch Lena hört sie nicht mehr.
Als Lena an der grün gestrichenen Bank ankommt, atmet sie erleichtert aus. „Warum sind Sie weggelaufen?“
„Bin ich nicht.“
„Doch! Sind Sie! Eben sitzen Sie noch auf meinem Sofa, und im nächsten Augenblick sind Sie weg. Warum?“
„Ich muss gehen.“
„Wohin?“
„Das weiß ich nicht. Du stellst Fragen! Wenn ich das wüsste, wäre ich doch längst dort.“
Langsam verliert Lena die Geduld, und sie bereut, ihre Wohnung an diesem Morgen überhaupt verlassen zu haben. Dann sieht sie diese Frau wie ein Häufchen Elend auf der Bank sitzen und sagt sich, dass sie ja vielleicht Alzheimer hat. Oder so. Lena kennt sich mit alten Leuten nicht so gut aus. Ihre Großeltern mütterlicherseits waren nach Australien ausgewandert als Lena noch ein Kind war. Und die Eltern ihres Vaters lebten bis zu ihrem Tod vor fünfzehn Jahren in Berlin, das nicht gerade um die Ecke lag, wenn man vorhatte, das Ehepaar Küster Senior zu besuchen. Lena ist nie mit ihnen warmgeworden.
„Erinnern Sie sich daran, wo Sie wohnen?“
„Ich wohne nirgends.“
Was? Das wird ja immer schöner. Eine Obdachlose? Lena sieht sich ihre Kleidung genauer an. Nein, das kann nicht sein, beschließt sie. Die Kleidung ist viel zu gepflegt für ein Leben auf der Straße. Auch die Haltung der alten Frau entspricht so gar nicht den Vorstellungen Lenas von Obdachlosen.
Lena setzt sich neben die alte Frau auf die Bank. „Wie heißen Sie denn?“
Die Frau sieht Lena an. „Was hast du nur für Manieren? Solltest du dich nicht mir vorstellen? Du bist die Jüngere!“
Okay, okay…
„Ich bin Lena Küster.“
„Sehr erfreut, Lena Küster. Mein Name ist Henrietta… Äh…“ Hilflos blickt die alte Frau Lena an. „Ich weiß nicht weiter.“
Alzheimer, sieht sich Lena bestätigt.
„Henrietta also. Das ist doch ein Anfang. Sind Sie sicher, dass das Ihr richtiger Vorname ist?“
„Denkst du, ich lüge?“
„Oh nein. Natürlich nicht. Entschuldigung.“
Lena überlegt krampfhaft, was sie nun tun soll. Vergessliche Leute gehören unter Aufsicht. Sonst werden sie zur Gefahr für sich oder andere. So einen Satz hatte sie schon mal gehört. Ihr fällt das Handy ein, das sie eingesteckt hat. Sie zieht es aus ihrer Tasche und wählt den Notruf. Kein Freizeichen? Überhaupt kein Ton? Sie schaut auf das Display. Keine Verbindung. Auch das noch, denkt Lena und steckt ihr Telefon wieder in die Tasche.
Henrietta, die sie beobachtet hat, fragt: „Was hast du da getan?“
„Oh, ich wollte jemanden anrufen, der Ihnen hilft, wieder nach Hause zu kommen.“
„Ich hab dir doch gesagt, ich habe kein Zuhause. Diese Jugend, nie hören sie zu.“
Lena lässt das unkommentiert.
„Aber irgendwo müssen Sie doch hingehören. Irgendjemand vermisst Sie sicher schon. Erinnern Sie sich doch bitte.“ Mittlerweile friert die Jüngere auf dieser Parkbank. Sie wundert sich, dass Henrietta nicht vor Kälte zittert.
„Sie müssen mir zuhören“, sagt Henrietta und schaut Lena eindringlich an. „Ich habe keine Verwandten, und die anderen haben mich gehen lassen.“
„Die anderen?“, fragt Lena. „Wer sind die anderen?“
Das hört sich jetzt ein bisschen gruselig an.
„Die, die sich um mich gekümmert haben.“
„Wer sind die? Und warum haben Sie sie gehen lassen?“
„Jeder muss mal gehen“, seufzt Henrietta und schaut auf den See.
Das ist mir jetzt zu dumm, denkt Lena. Da ist wohl was ganz schön durcheinander gekommen im Kopf dieser Henrietta. Wenn sie überhaupt so heißt. Sie friert erbärmlich und wünscht sich in ihre gemütliche Wohnung. „Henrietta, darf ich Ihnen einen Vorschlag machen?“ Lena hat schnell begriffen, dass sie mit dieser Frau nur weiterkam, wenn sie sich an gewisse Höflichkeitsregeln hält.
„Natürlich.“
„Wir gehen jetzt beide zurück in meine Wohnung. Mir ist furchtbar kalt. Und wenn wir uns aufgewärmt haben, finden wir raus, wohin Sie gehören.“
Henrietta überlegt einen Augenblick. „Von mir aus.“
Das war ja wieder einfach, denkt Lena und atmet erleichtert durch. Die beiden treten den Rückweg an. Emma unterhält sich gerade mit zwei Bauarbeitern, als Lena und Henrietta an ihrem Kiosk vorbeilaufen „Bis bald“, ruft Emma nur und hebt winkend die Hand.
Henrietta sitzt wieder in Decken eingewickelt auf Lenas Sofa. Ihre Gastgeberin befindet sich in der Küche, um den inzwischen kalt gewordenen Tee durch frischen zu ersetzen. Die alte Frau sieht sich in dem Zimmer um. Ein Chaos herrscht hier. Auf diesem Sofa kann man sich kaum rühren. Viel zu viele Kissen in den verschiedensten Farben liegen kreuz und quer auf den Sitzflächen und Lehnen herum. Ein riesiger Fernseher steht an der Wand gegenüber. Nicht gut für die Augen, denkt Henrietta. Neben diesem Ungetüm von Fernseher steht eine Kommode. Sieht ziemlich alt aus. Dieses Teil passt irgendwie überhaupt nicht zu den anderen Dingen im Zimmer. Henrietta findet, dass Lena keine Ahnung von Harmonie hat. Hoffentlich muss sie nicht zu lange hierbleiben. Im Augenblick weiß sie jedoch nicht, wohin sie soll und auch nicht, warum. Sie kann sich nicht erinnern, wie sie auf die Straße gekommen war, auf der Lena sie angesprochen hatte. Sie weiß auch nicht, warum sie keine Jacke trägt. Henrietta weiß nur, dass sie irgendwohin muss. Dass es Zeit ist. Zeit wofür?
Henrietta sieht die Grünpflanzen. Eine Wand des Zimmers ist komplett Fenster. Eine schmale Tür führt auf einen Balkon. Vor der ganzen Fensterwand befinden sich Pflanzen. Große Kübel, die direkt auf dem Boden stehen. Kleinere hat Lena auf Tischchen und Hocker gestellt. Die Frau mag Blumen und Pflanzen, denkt Henrietta und beschließt, dass diese Tatsache ausreicht, um ihr zu vertrauen. Henrietta selbst liebt das Gärtnern. Warum erinnert sie sich daran, aber nicht an ihren vollständigen Namen und woher sie kommt? Was ist los mit ihr?
Lena kommt erneut mit einem Tablett ins Wohnzimmer, stellt erleichtert fest, dass sich Henrietta immer noch auf ihrem Sofa befindet und macht es sich auf einem Sessel im Schneidersitz bequem, die Tasse mit dem heißen Tee in ihren eiskalten Händen.
„So sitzt eine Dame nicht“, sagt Henrietta plötzlich.
Lena lächelt. Sie hat während des Teekochens beschlossen, sich auf Henrietta einzulassen. „Ich bin ja auch keine Dame.“
„Was bist du dann? Ein Straßenmädchen?“
„Ein Straßenmädchen mit einer eigenen Wohnung?“ Lena lacht. „Ich bin eine ganz normale Frau.“
„Wie alt bist du?“
„Vierzig.“
„Dann solltest du dich wie eine Vierzigjährige benehmen.“
„Ich bin zu Hause, Henrietta. Da kann ich doch sitzen, wie ich will. Hier sieht mich doch niemand.“
„Bin ich etwa Niemand? Das gehört sich einfach nicht.“
„Ich werde es nicht in der Öffentlichkeit tun. Versprochen.“
Lena checkt noch einmal ihr Handy. Immer noch keine Verbindung. Merkwürdig. Jetzt bereut sie, ihr Festnetz gekündigt zu haben.
„Ist Ihnen eigentlich eingefallen, wie Sie mit Nachnamen heißen?“, fragt Lena.
„Nein.“
„Ist Ihnen eingefallen, wo Sie zuletzt gewohnt haben?“
„Nein.“
„Wer die anderen sind? Die Sie haben gehen lassen?“
„Nein.“ Henrietta klingt fast etwas genervt. Doch ihre Auffassung von Höflichkeit verbietet ihr das. „Das waren ständig andere. Ich konnte mir die Namen nie merken“, sagt sie.
Sie lebt in einem Heim, denkt Lena. Pfleger wechseln häufig die Schichten. Henrietta scheint also doch Alzheimer zu haben oder so was in der Art. Lena ist ratlos. Das einzige, was ihr immer wieder einfällt, war, die Polizei zu verständigen. Dazu müsste sie allerdings wieder raus in die Kälte. Ihr Handy funktioniert nämlich immer noch nicht. Sie ist aber schon durchgefroren und verschiebt dieses Vorhaben deshalb.
Lena bemerkt, dass Henrietta noch nichts von ihrem Tee getrunken hat. Sie wundert sich, dass die alte Frau kein Bedürfnis hat, sich von innen aufzuwärmen. „Trinken Sie etwas, Henrietta. Das tut gut.“
„Ich habe keinen Durst.“
„Sie müssen etwas trinken. Sie sind doch ganz durchgefroren.“
„Mir ist nicht kalt.“
Herrje, denkt Lena. Was fange ich nur mit dieser Frau an?
„Erzählen Sie mir, woran Sie sich erinnern. Irgendwas. Einfach so. Bitte.“
Henrietta sieht Lena an. „Es ist zwar sehr unhöflich, fremde Leute auszufragen, aber wir haben wohl gerade nichts Besseres zu tun.“
„Richtig.“
„Ich bin Henrietta. Wurde neunzehnhundertfünfzehn geboren…“
„Neunzehnhundertfünfzehn?“ Lena rechnet. „Sie sind achtundneunzig Jahre alt?“
„Ja. Weißt du nicht, dass es unhöflich ist, jemanden zu unterbrechen?“
„Doch. Natürlich. Verzeihung.“
„Meine Eltern, mein Bruder und mein Ehemann sind im Krieg gestorben.“
„Wie alt waren Sie da?“
Mit einem Blick, der Lena tadelt, antwortet Henrietta: „Achtundzwanzig.“
„Hatten Sie Kinder?“, fragt Lena, der es herzlich egal ist, ob sie unhöflich erscheint oder nicht.
„Einen Jungen. Paul.“
„Wo ist der jetzt?“
„Das weiß ich nicht. Wir wurden getrennt, als diese Bombe fiel. Meine Mutter, Paul und ich waren im Haus. Auf einmal hörten wir dieses Geräusch. Es kam immer näher. Wurde immer lauter. Ich nahm Paul an die Hand und rief meiner Mutter zu: ‚Wir müssen hier raus‘. Paul und ich rannten so schnell wir konnten. Ich glaubte, Mutter wäre hinter uns. Als ich mich umsah, sah ich, wie meine Mutter die Haustür abschließen wollte. Und dann gab es einen lauten Knall und überall waren Flammen.“ Henrietta hält inne. Dann sieht sie Lena an: „Kannst du dir das vorstellen? Die Haustür abschließen! Ich sah noch dieses Feuer, hörte Paul schreien und dann war alles dunkel.“
„Oh, mein Gott!“
„Nimm den Namen des Herrn nicht in den Mund, außer wenn du ihm dankst.“
Auch das noch, denkt Lena, die alles ist, nur nicht religiös. „Was war dann?“
„Ich wurde in einem Lazarett wach. Ich rief nach Paul, meinem Jungen. Aber er war nicht da.“
„Wie alt war Ihr Sohn damals?“
„Sechs Jahre.“
„Wo war er?“
„Ich weiß es nicht. Ich habe ihn nie wiedergesehen.“
„Nie wieder?“ Lena reißt vor Schreck die Augen weit auf. „Bis heute nicht?“
Henrietta schüttelt traurig den Kopf.
Lena ist auf einmal traurig. Sie muss ein paar Tränen wegblinzeln, und sie empfindet tiefes Mitgefühl für diese alte Frau.
„Haben Sie ihn gesucht? Später, meine ich?“
„Natürlich hab ich das. Was dachtest du denn? Er war doch alles, was ich noch hatte. Vater, mein Bruder Tobias und mein Ehemann Richard waren alle schon tot. Mutter und ich hatten erst zwei Wochen vor diesem schrecklichen Tag die Nachricht bekommen, dass Tobias und Richard umgekommen waren.“
„Oh, mein…e Güte!“ Jetzt rollt tatsächlich eine Tränen über Lenas Wange. Wenn sie sich vorstellt, innerhalb von zwei Wochen ihre Familie zu verlieren… Das ist zu schrecklich.
„Haben Sie je erfahren, was mit Paul passiert ist?“
„Nein. Er war wie vom Erdboden verschwunden. Als hätte er nie existiert.“
„Was haben Sie dann gemacht?“
„Der Krieg war irgendwann zu Ende. Ich wurde Schwesternhelferin. Hatte gehofft, dass mein Paul irgendwann mein Patient sein würde. Dass er vielleicht nur verletzt war. Aber nichts. Paul kam nicht. Ich fand ihn nicht. Alle erdenklichen Such-Organisationen habe ich eingeschaltet. Niemand hatte einen kleinen Jungen gefunden oder gesehen. Ich hab mich nie dazu entschließen können, ihn für tot zu erklären. Ich bin mir sicher, mein Paul lebt irgendwo.“ Hilflos sieht Henrietta Lena an. „Und jetzt ist es für mich zu spät. Jetzt muss ich gehen und werde meinen Jungen nie wieder sehen.“
Lena, vom Schicksal der alten Frau ergriffen, sagt: „Ich finde Ihren Paul. Ich verspreche es. Ich finde ihn.“
Was ist denn jetzt los? Wieso verspricht Lena so etwas Unmögliches? Irgendwie ist ihr das herausgerutscht. Und dennoch… Irgendeine Ader kommt in ihr durch. Ein Wille nach Aufklärung. Recherchieren steht auf Lenas Mach-ich-gern-Liste ziemlich weit oben.
„Ach Kindchen, ich muss gehen. Wie willst du das in so kurzer Zeit anstellen, wenn ich es Jahrzehnte nicht geschafft habe?“
Gute Frage, denkt Lena. „Ich schaff‘ das!“