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Zwei

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Lena hat die alte Frau gestern Abend in ihrem Gästezimmer einquartiert. Wie gut, dass sie ungefähr die gleiche Größe haben. So konnte Lena sie mit Kleidung versorgen.

Während Henrietta nun wieder auf dem Sofa sitzend vor sich hindöst oder grübelt - Lena weiß das nicht genau - sucht sie im Internet nach Seiten, auf denen man vermisste Kinder aus Kriegszeiten finden konnte. Es ist sehr dumm, dass sich Henrietta nicht an ihren Nachnamen erinnern kann. Sie schaut die alte Frau, die ihre Augen geschlossen hat, an. Erinnere dich, erinnere dich, betet sie in Gedanken.

„Da war Wasser“, schreit Henrietta plötzlich. Lena zuckt vor Schreck zusammen. „Wasser? Was für Wasser?“

„Ich weiß nicht. Viel Wasser. Ein Meer vielleicht?“ Henrietta sieht verzweifelt aus. Sie schlief also doch nicht, sondern versucht sich zu erinnern. Sehr schön.

„Nordsee? Ostsee? Wo haben Sie damals eigentlich gewohnt?“ Das wäre ja auch gut zu wissen, denkt sich Lena.

„Ja! Ja!“ Henrietta springt auf. Schneller, als es einer Achtundneunzigjährigen zuzutrauen ist. „Da war die See.“

„Welche See, Henrietta?“

„Nicht weit von hier. Ich wollte in der Nähe bleiben. Falls Paul mich sucht.“

Nicht weit von hier? Das kann nur die Ostsee sein. Die befindet sich nur eine Autostunde von hier entfernt. Henrietta wohnt im Nordosten des Landes. Sie gibt in der Internetsuche BOMBENANGRIFF OSTSEE 1943 ein und findet die Städtenamen ANKLAM und KARLSHAGEN.

„Henrietta, kennst du die Stadt Anklam?“

„Natürlich. Da war ich oft. Von dort kommt man nach Hause.“

„WAS??“

„Oh.“ Henrietta ist genau so erschrocken wie Lena.

„Nach Hause?“

„Ja. Wenn wir auf dem Festland waren. Das passierte nicht oft und war immer ziemlich aufregend. Um wieder nach Hause zu kommen, mussten wir durch Anklam.“

„Man kommt nach Usedom, wenn man durch Anklam fährt“, ruft Lena ganz aufgeregt.

Auf einmal strahlt die alte Frau. „Usedom! Da waren wir zu Hause. Mutter, Vater, Tobias. Und Richard und Paul.“

Schnell ändert Lena den Sucheintrag auf dem Computer. Peenemünde, Karlshagen findet sie da. Lena dreht sich zu Henrietta. „Peenemünde?“

Henrietta denkt nach. „Das kenne ich. Aber das war nicht mein Zuhause.“

„Wie sieht es mit Karlshagen aus?“

Mit weit aufgerissenen Augen sieht Henrietta Lena an.

„Was ist, Henrietta?“

Die alte Frau nickt leicht.

Lena geht zu ihr rüber und setzt sich neben sie. „Henrietta, waren Sie in Karlshagen zu Hause?“

„Ja.“ Es ist nur ein heiseres Flüstern. „Wie hast du das herausgefunden?“

„Das Internet hat mir geholfen.“

„Wer?“

„Das Internet. Fast alles, was man selbst nicht weiß, kann man im Internet finden.“

„Wo ist denn dieses Internet?“

Ach je, wie soll Lena das jetzt erklären. Sie versteht es ja selbst nicht genau. „Das ist in diesem Kasten da.“ Sie deutet auf ihren Laptop, den sie auf den Couchtisch gestellt hat.

„Weiß dieses Internet auch, wo mein Paul ist?“

Lena schluckt. Diese alte Frau auf dem Sofa sieht so verletzlich aus. Lena fasst den Entschluss, dass sie Henrietta so lange bei sich behalten wird, bis sie Paul gefunden hat. Es ist ihr egal, ob sie irgendein Heim vermisst. Hier kann sie sich um sie kümmern. Lena spürt ein Gefühl der Verbundenheit mit dieser fremden Frau. Sie weiß nicht, warum. Es ist einfach so. Und es fühlt sich nicht mal schlimm an.

„Ich weiß es nicht“, sagt Lena. „Aber ich werde Paul finden.“

Am späten Nachmittag muss Lena in die Redaktion. Normalerweise arbeitet sie von zu Hause aus. Nur Dienstags und Donnerstags muss sie in die Redaktion der kleinen regionalen Zeitung, um an Sitzungen teilzunehmen und neue Aufträge zu bekommen. Lena arbeitet seit vier Jahren hier in dem kleinen Gebäude am Stadtrand. Bestehend aus vier Büros, von denen eins ausschließlich Herrn Sanders gehört, eins als Besprechungs- und Pausenraum fungiert, wobei das mit den Pausen so gar nicht klappt. Die anderen beiden Räume sind den vier festangestellten Mitarbeitern zugedacht.

Lena fing hier als Korrekturleserin an. Damit hatte sie schon einiges zu tun. Viel zu oft fragte sie sich, wie es die Schreiberlinge dieser Redaktion geschafft haben, hier einen Job zu bekommen. Nachdem Lena einige Leserbriefe in Form von Kolumnen verfasst hatte, diese ihrem Chef vorgelegt und der sie vernichtend kritisiert hatte, änderte sie ihre Taktik. Sie dachte sich einen anderen Namen aus, wartete ein paar Wochen und legte Sanders die Kolumnen einer „Leserin“ vor. Und siehe da – Sanders fand die Artikel auf einmal toll und wollte, dass besagte „Leserin“ einmal monatlich einen Beitrag zur Veröffentlichung schreibt. Lena sollte doch den Kontakt zu jener Hannah Lehmann aufnehmen und sie in die Redaktion einladen. Lena versprach, das zu tun.

Zu dem Termin, der vor knapp zwei Jahren stattfand, ging sie hocherhobenen Hauptes. Dörte Wassmann, die damals schon an der Rezeption, wie Sanders das nannte, saß, schaute sie an und fragte mit verschrecktem Gesichtsausdruck: „Wo ist Frau Lehmann?“

„Steht vor dir.“

„Was?“ Dörte wurde blass. „Du hast die Artikel geschrieben?“

„Jep.“

„Sanders wird dich in der Luft zerreißen.“

„Er fand die Beiträge gut und will unbedingt, dass Hannah weiterschreibt. Und Hannah will das auch. Wo ist das Problem?“

„Du hast ihn angelogen.“

„Nee. Ich hab nur nachgeholfen.“ Lena ließ Dörte mit offenem Mund zurück und betrat nach einem Klopfen das Büro ihres Chefs Herbert Sanders. Der machte einen auf wichtig, nuschelte hinter seinem Monitor ein „Moment bitte“ und ließ Lena/Hannah etwa fünf Minuten dumm rumstehen. Als sich der kleine dicke Mann mit der Glatze ihr zuwendete, schnappte er erstmal nach Luft. „Wo ist Frau Lehmann? Sagen Sie nicht, Sie haben ihr den Termin nicht zukommen lassen?“

„Sag ich ja gar nicht. Ich bin Hannah Lehmann.“

„Was erlauben Sie sich?“ Alle anderen in der Redaktion duzten sich, nur Sanders wollte nicht mitmachen. Das untergräbt seine Autorität, meinte er immer. Nun ja, Autorität erhält man nicht mit aufbrausendem Verhalten. Das teilte ihm nur niemand mit. Wozu auch? Sanders war wie ein kleiner Terrier, der sich gern in die Hosenbeine seiner Mitmenschen verbiss. Das wussten alle hier, und es war okay.

Lena stützte sich mit den Händen auf Sanders Schreibtisch ab. „Ihnen haben die Artikel gefallen, Herr Sanders. Was haben Sie gegen mich? Warum darf ich nicht schreiben?“

„Äh... Also...“ Sanders stotterte, und wenn das passierte, war es Zeit, in Deckung zu gehen. Meistens folgte nämlich die Explosion.

Lena schaute ihn eindringlich an. Sie wollte diese Kolumne unbedingt und war bereit, diesem Typen ein wenig Honig um den nicht vorhandenen Bart zu schmieren. „Hören Sie, Herr Sanders“, redete sie in einem beruhigenden Ton auf ihn ein, „lassen Sie es mich versuchen. Lassen Sie die Leser entscheiden. In der ersten Kolumne werde ich mich als Hannah vorstellen und die Leser darum bitten, mir Fragen zu stellen. Diese Fragen werde ich in Form einer Kolumne beantworten. Wenn es genug Fragen gibt, ist es gut. Wenn nicht, werde ich das mit der Kolumne wieder vergessen und ihre Artikel korrigieren.“ Hoffnungsvoll wartete sie auf eine Antwort ihres Chefs. Der tat so, als überlegte er. Ziemlich lange. Denn Lena hatte ihn ausgetrickst, und das stand bei Sanders unter Höchststrafe.

Seine Gesichtsfarbe hatte sich inzwischen von einem wütenden Rot in ein Weiß gewandelt. „Gut“, meinte er leise, „ich gebe Ihnen drei Monate, um sich zu beweisen. Aber der Name Hannah Lehmann bleibt. Gehen in den nächsten drei Monaten nicht genügend Fragen ein, sind Sie gefeuert.“

„Gefeuert? Ganz raus?“

„Ja.“ Sanders grinste sie an.

Scheiße, dachte Lena, sagte stattdessen aber „Okay“.

Zum Glück für Lena wurde die Kolumne sehr gut angenommen. DAS BLÄTTCHEN, wie die kleine Zeitung heißt, erscheint jeden Sonnabend, und Lena hatte damals genau zwei Tage Zeit, ihre erste Kolumne druckreif zu schreiben. Was kein Problem war, denn sie hatte zu Hause auf ihrem Laptop schon jede Menge Entwürfe für Themen gespeichert. So auch die erste.

Grinsend ging sie zu Dörte, setzte sich neben sie und erzählte ihr von dem Gespräch mit Sanders. „Der wird dich rauswerfen“, meinte sie.

„Das Risiko gehe ich ein. Ich hab die Nase voll davon, immer nur die Fehler der anderen auszubügeln.“

„Fehler. Ja?“, ertönte die tiefe Stimme ihres Kollegen Jörg Balter, der aus einem der Büros gekommen war.

„Ja. Fehler“, beharrte Lena, „schaut doch mal nach dem Schreiben über Eure Artikel. Manche Dinge schreien förmlich nach Verbesserung. Kriegt Ihr das nicht hin?“

„Zeitdruck, Schätzchen“, antwortete er, „außerdem wollen wir nicht, dass du brotlos dastehst.“

„Ich mag dich auch, Blödmann.“

Der Umgangston unter den Kollegen – Sanders ausgeschlossen – ist ziemlich locker. Kleine Beleidigungen nimmt niemand übel.

Nun ja, Lena war unendlich stolz und froh gewesen. Zum einen, weil sie selbst schreiben durfte. Zum anderen, weil es ihr gelungen war, Sanders auf den Arm zu nehmen. Die Ernüchterung kam jedoch bald. Die Leserinnen fragten Lena nach Haushaltstipps und Mittel gegen Liebeskummer. Wie sie mit Arbeitslosigkeit fertig werden sollten und ihre rebellischen Kids zähmen konnten. Das war nicht wirklich das gewesen, woran Lena dachte, als sie ihre Kolumne bekam. Aber Sanders war damals der Meinung, dass man auf die Leserwünsche eingehen müsse. Wenn die Leser das wissen wollten, sollte Lena/Hannah gefälligst antworten. Lena allerdings versuchte, ihrem Chef klarzumachen, dass es vielleicht besser wäre, die Leser etwas von den Alltagssorgen wegzubringen und ihre Augen für die schönen Dinge des Lebens öffnete. „Schöne Dinge!“, schnaubte Sanders damals, „wach auf, Kleine. Komm in die Realität. Schöne Dinge sind Scheiße von gestern. Heute regiert das Geld. Wer keins hat, ist nichts wert. Wer Sorgen hat, ist ein Schwächling. Und wenn die verflixten Leser wissen wollen, wie sie mit ihrer Unfähigkeit, einen Job zu finden, klarkommen, dann teilst du ihnen mit netten Worten mit, dass sie ihren Arsch vom Sofa heben sollen.“

Sanders ist ein Flegel. Benimmt sich in der Redaktion wie ein Trampeltier. Unsensibel und gnadenlos. Doch sowie die Öffentlichkeit da ist, wird aus dem Idioten ein sanftes Lamm, das seinem Gegenüber die Schuhe ableckt.

Als die Besprechung nach zwei Stunden vorbei ist, geht Lena mit ihren neuen Themen nach Hause.

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