Читать книгу Spielzeit - Dani Merati - Страница 4
Kapitel 2
ОглавлениеSamstag, 27.9.14
Wie jeden Morgen seit drei Wochen erwachte Andy von Stetten in den Armen seines Freundes Jo. Müde blinzelte er die Spinnweben vor seinen Augen weg und schielte auf den Wecker. Kurz nach elf. Jo würde noch mindestens eine Stunde schlafen, das gab ihm die Gelegenheit alles in Ruhe vorzubereiten.
Mit einem letzten sehnsüchtigen Blick auf seinen Geliebten trottete er ins Bad und sprang unter die Dusche. Nachdem er der alltäglichen Morgentoilette gehuldigt hatte, zog er sich rasch an, schlüpfte danach aus der Wohnung und lief zum Bäcker um die Ecke.
Zwanzig Minuten später scannte Andy den üppig gedeckten Tisch, ob er auch nichts vergessen hatte, als ihn köstliche Wärme einhüllte. Starke Arme kamen um ihn herum, zogen ihn an einen noch kräftigeren Körper und er kuschelte sich wohlig seufzend in die Umarmung seines Geliebten. „Hey Süßer. Das sieht ja verlockend aus. Du sollst dir doch nicht solche Mühe machen.“
Schlaftrunken und rau klang Jos Stimme, heißer Atem prickelte an seiner Ohrmuschel und er musste ein Kichern unterdrücken, als eine vorwitzige Zungenspitze neckend in sein Ohr stieß. „Lass das, das kitzelt.“ Jo grollte leise und dann spürte er einen sanften Biss im Nacken, der sein Gekicher schlagartig in ein Stöhnen verwandelte. „Ich spring noch rasch unter die Dusche. Fang ruhig schon an.“
Er lächelte seinen Freund an. „Es macht mir nichts aus zu warten“, sagte er und im selben Moment knurrte sein Magen. Er errötete und Jo zog eine Augenbraue hoch.
Sein Geliebter drückte ihn auf einen der Küchenstühle. „Iss. Ich beeil mich.“ Andy nahm ein Brötchen und aß es trocken, während er in der Tageszeitung blätterte, speziell die Seite mit den Wohnungsanzeigen interessierte ihn. Doch da würde er bestimmt nichts finden. Er hatte sich bereits bei einem Internetportal eingetragen, die WG-Zimmer vermittelte, aber bisher war noch nichts Passendes dabei gewesen. Große Hoffnung hegte er ja nicht, der verfügbare Wohnraum war meist schon Monate vor Semesterbeginn ausgebucht.
Als Jo wiederkam und ihm durch die Haare strubbelte, sah Andy erschrocken auf. „Wohnungsanzeigen? Suchst du was Neues? Die hier ist doch nicht schlecht.“ Er schluckte. Wie viel sollte er Jo sagen?
„Nein, ist sie nicht. Sie hat nur einen Makel. Sie gehört der Familie und ich möchte unabhängig sein. Außerdem ist die Verbindung zur Uni etwas ungünstig.“ Bei der Erwähnung seiner Familie verengten sich Jos Augen kurz, dann verwandelte sich sein Gesicht in eine ausdruckslose Maske. „Und was genau schwebt dir vor? Wahrscheinlich eine WG, oder? Sollen es Studenten sein oder ist das egal? Ich weiß nämlich von Nguyen, dass in seiner Wohngemeinschaft demnächst ein Zimmer frei wird. Soll ich ihn fragen, oder willst du das lieber selber machen?“
Jo trank hastig einen Schluck Kaffee und verschlang sein Brötchen. Dann stand er auf, beugte sich zu Andy hinunter und küsste ihn auf die Wange. „Sorry Süßer, aber ich muss leider schon los. Es ist viel Papierkram liegen geblieben, und wenn ich mich nicht bald daransetze, erschlägt mich der Stapel noch.“ Sprach’s und verschwand, ohne ihm eine Gelegenheit zur Antwort zu geben, im Flur.
Andy saß einen Moment erstarrt da. Er hatte zwar nicht erwartet, dass Jo ihn fragen würde, ob er bei ihm einzog, doch diese Nichtreaktion beziehungsweise der überstürzte Aufbruch war ... irgendwie beängstigend. Natürlich war ihm klar, dass sie sich kaum kannten, außerdem hatten sie abgemacht, es langsam angehen zu lassen. Aber, dass Jo nicht mal gefragt hatte, wieso er aus dem Apartment hier aus und in eine WG einziehen wollte, dass es ihm egal zu sein schien - das tat weh!
Du bist ja auch nicht gerade ein Vorbild an Ehrlichkeit, nicht wahr Andy? Denn der Grund, warum er so schnell eine neue Wohnung suchte, war nicht nur der Tatsache geschuldet, dass er von seiner Familie unabhängig sein wollte. Sein Magen schlug nach wie vor Purzelbäume, als er an das Einschreiben dachte, das ihm der Postbote vor einer Woche überreicht hatte. Räumungsbescheid hatte er noch gelesen, dann erst mal sein Frühstück zur Toilette befördert. Jo hatte er etwas von einer Magenverstimmung vorgeflunkert und den Brief in seinem Kleiderschrank versteckt.
Nachmittags, als Jo in die ‚Spielzeit‘ unterwegs gewesen war, hatte er das Schreiben hervorgeholt und mehrfach ungläubig die Aufforderung zur Räumung durchgelesen. Bis zum Ende des nächsten Monats blieb ihm Zeit, aber er hatte nicht vor so lange hierzubleiben. Am Meisten aufgeregt hatte ihn die Klausel, dass die Wohnung wieder in ihren Originalzustand zu versetzen sei. Was glaubte sein Stiefvater denn, was er hier getrieben hatte?
Andy seufzte. Oliver dachte sich nur eins: Er wollte ihm klarmachen, wer weiterhin das Sagen hatte, wer die Regeln bestimmte. Ihm war klar gewesen, dass sein Entschluss auf Widerstand stoßen würde, von seinem Stiefvater hatte er es nicht anders erwartet. Was ihm wehtat, war, dass seine Mutter sich nicht einmal bei ihm gemeldet hatte, weder um auf seinen Brief zu reagieren noch auf seine zahlreichen Anrufe. Er hatte zwar schon immer gewusst, dass er keine Priorität in ihrem Leben besaß, aber dass sie so gleichgültig schien, verletzte ihn mehr, als er sich eingestehen wollte. Und jetzt benahm sich Jo sehr merkwürdig und jagte ihm damit Angst ein.
Seit dem ersten Abend in der 'Spielzeit' verbrachten sie jede freie Minute miteinander und Andy schwebte, wie auf Wolke sieben. Doch dann gab es Phasen, wenn Jo plötzlich verstummte, mit seinen Gedanken woanders schien. Auch sein Zuhause hatte er noch nicht gesehen, denn nach der Schicht in der Bar fuhren sie immer in seine Wohnung. Es war fast, als wolle Jo ihn nicht dort haben. Nun, in dem Haus hatte er jahrelang mit seinem Ehemann gelebt und nach dessen Tod war es wohl so etwas wie ein Refugium geworden.
Andy wollte ihm diese Zuflucht bestimmt nicht wegnehmen, doch er wollte - und konnte - nicht mit einem Geist konkurrieren. Aber er sollte Jo zeigen, dass er es ernst meinte. Er durfte sich nicht so schnell entmutigen lassen. Er behauptete erwachsen zu sein, eigene, vernünftige Entscheidungen zu treffen. Dazu gehörte auch, nicht sofort beleidigt zu sein, wenn sein Freund seiner Meinung nach falsch reagiert hatte.
Sobald er beim ersten Anzeichen von Problemen gleich wegrannte, dann sprach das nicht gerade für ihn oder die Gefühle, die er behauptete zu haben. Aber wie sollte er die Sache jetzt angehen? Gar nicht darauf reagieren, dass Jo so gleichgültig gewesen war oder ihn zur Rede stellen? Er wollte nicht zu aufdringlich sein und ihn möglicherweise von sich wegstoßen, doch eine innere Stimme sagte ihm, dass er ein wenig forscher sein musste. Den anderen Mann dazu bringen, über seine Gefühle zu sprechen.
Mit diesem Entschluss stand er auf und ging zu seinem Schlafzimmer. Er zögerte, dachte daran zu klopfen, aber verflucht, das war seine Wohnung. Andy drückte die Klinke runter und schob die Tür auf. Keine Ahnung, was er erwartet hatte, jedoch nicht den Anblick, der sich ihm bot.
Er erstarrte mitten in der Bewegung und jeglicher Ärger verflog, als sein Herz in tausend Stücke zersplitterte. Jo saß halb angezogen auf dem Boden, Rücken ans Bett gelehnt, die Arme um seine gebeugten Knie geschlungen. Kurze, hastige Atemzüge entwichen seinen Lungen. Andy konnte die Angst in den dunklen Augen erkennen, sah den Kampf, den Jo focht, während er versuchte die Panikattacke zurückzudrängen. Seine Lippen liefen bläulich an, als sein Körper sich abmühte, den Mangel an Sauerstoff auszugleichen.
Andy wurde ebenfalls von Panik ergriffen. Was sollte er tun? Wie vermochte er ihm zu helfen? Der Gedanke, dass es bestimmt nicht das erste Mal war, dass Jo mit solch einer Attacke kämpfte, machte ihn wütend und ließ gleichzeitig Tränen aus seinen Augen hervorquellen. Er eilte zu Jo hin, fiel praktisch auf seine Knie vor dem anderen Mann. Jo schien ihn weder zu sehen noch zu hören, war gefangen in seiner eigenen privaten Hölle.
Sanft berührte er ihn an der Schulter. „Es ist okay, Jo. Konzentriere dich einfach auf ruhiges Atmen. Tiefe Atemzüge ein“, er machte es ihm vor, „und langsame Atemzüge aus.“
Er wiederholte das wieder und wieder, versuchte verzweifelt zu Jo durchzudringen. Sein Herz splitterte weiter, als er die Tränen sah, die über Jos Wangen rollten. Verdammt, was konnte er noch tun? Sollte er einen Notarzt rufen? Andy hatte keine Ahnung, wie gefährlich so eine Situation werden konnte. Aber er schwor sich, dass dies das letzte Mal war, dass Jo das alleine durchstehen musste. So rasch wie möglich würde er über Panikattacken recherchieren und so viel lernen, wie es machbar war.
Jos Atmung wurde immer hastiger und zittriger und Andy wischte ärgerlich über seine Wangen. Dumme Tränen. Die halfen Jo nicht. Verzweifelt schlang er schließlich, so gut er vermochte seine Arme um den großen Mann, wiegte ihn hin und her und murmelte irgendwelchen Unsinn, der ihm gerade einfiel.
Es erschien ihm wie eine Ewigkeit, bis Jos Atemzüge ruhiger wurden. Die keuchenden Laute nahmen ab und die Blaufärbung der Lippen ging zurück. Jos Muskeln - eingefroren von der Panikattacke - lockerten sich allmählich. Andy streichelte über Jos Rücken, seine Arme, den Brustkorb, überall wo er ihn erreichen konnte.
Als Jo endlich wieder vollständig normal zu atmen schien, war er unfähig sich weiter zurückhalten. Er legte sanft eine Hand unter Jos Kinn und zwang seinen Kopf hoch, obwohl der ihn zwischen seinen Knien verbergen wollte. Diesem großen starken Mann war die Sache natürlich peinlich und Andy musste ihm klarmachen, dass es keinen Grund gab, sich zu schämen - ohne ihm jedoch das Gefühl zu geben, er wäre schwach.
„Nein“, murmelte er, küsste Jo sanft. „Versteck dich nicht vor mir. Erlaube mir, für dich da zu sein. Ich will ... ich möchte, dass das mit uns funktioniert und das ... das kann es nicht, wenn du mich ausschließt.“
Jo versuchte sich ihm zu entziehen, aber die Attacke hatte ihn offensichtlich ausgelaugt und er hatte keine Mühe, ihn festzuhalten. Jos Kehle arbeitete, als er ansetzte zu sprechen, doch es kam kein Ton heraus. „Es ist schon okay, du musst nichts sagen.“
Andy stand auf und mit etwas größerer Kraftanstrengung zog er den zitternden Jo auf seine Füße, einen Arm um dessen Taille, um ihn zu stützen. Er dirigierte ihn zum Bett und öffnete seine Jeans. „Leg dich einfach noch eine Runde hin, du brauchst jetzt Schlaf. Der Papierkram kann warten. Auf den Rücken mit dir.“
Er bereitete sich darauf vor Jo einen kleinen Schubs zu geben, als sein Freund sich rückwärts fallen ließ und sein Becken anhob, damit Andy ihm die Hose ausziehen konnte. Er war ein wenig überrascht, dessen Erektion halbhart vorzufinden, aber vielleicht gehörte das als Begleiterscheinung dazu. Er hatte keinen Schimmer und das war inakzeptabel. Sobald er die Zeit fand, würde er alles heraus finden, was er wissen musste.
Jos kratzige Stimme riss ihn aus seinen Überlegungen. „Du hättest das nicht sehen sollen. Ich ... ich wollte nicht ...“ Andy schluckte und zog die Bettdecke über seinen Freund.
„Nicht reden. Ich hol dir etwas zu trinken und dann ruhst du dich aus.“ Erneute Tränen brannten hinter seinen Augenlidern und er huschte rasch ins Bad, um ein Zahnputzglas mit Wasser zu füllen. Als er zurückkam, fand er sich von Jos dunklen Augen verfolgt, als er mit dem Glas in der Hand auf ihn zukam.
Jo setzte sich auf, nahm das Wasser entgegen und stürzte es in einem Zug hinunter. „Danke.“ Andy wollte ihm das Glas abnehmen, doch Jo stellte es auf den Nachttisch. Dann streckte er eine Hand aus. „Komm her. Leg dich ein bisschen zu mir.“
Das ließ er sich nicht zweimal sagen. Rasch schlüpfte er aus seinen Klamotten und glitt unter die Bettdecke, die Jo einladend anhob. Mit einem Seufzen ließ er sich auf den harten Leib seines Geliebten ziehen, genoss den jetzt wieder beständigen Herzschlag und schloss seine Augen.
***
Jo erwachte einige Stunden später und starrte minutenlang auf den schlafenden Mann, der auf ihm ausgebreitet lag. Liebevoll strich er durch die wilde Lockenmähne und unterdrückte ein Seufzen, als der Blick auf den Wecker zeigte, dass es auf den späten Nachmittag zuging. Zeit, sich fertigzumachen und in die Bar zu fahren.
Behutsam schob er sich unter seinem regungslosen Geliebten hervor und bewunderte einen Moment die schlanken Gliedmaßen und den kleinen, runden Hintern, von dem er nicht genug bekam. Er war fast versucht, Andy aufzuwecken und ihn zu vernaschen, aber er wollte genießen und nicht schlingen. Heute Nacht, oder besser morgen Vormittag, versprach er sich.
Leise suchte er seine Kleidung zusammen und zog sich an. Er musste noch rasch nach Hause fahren und ... Jo seufzte. Wem machte er eigentlich etwas vor? Die Rückkehr seiner Panikattacken hatte ihn geschockt, und dass Andy jetzt Zeuge seiner Schwäche geworden war, verstärkte sein schlechtes Gewissen. Er huschte aus dem Schlafzimmer, ohne einen Blick zurückzuwerfen.
Eine Stunde später saß er über den Abrechnungen der Bar, aber Jo konnte sich beim besten Willen nicht darauf konzentrieren. Immer wieder stand ihm Andys trauriges Gesicht vor Augen, als dieser ihm erzählt hatte, er suche eine neue Unterkunft. Und was hatte er Idiot getan? Ihm gesagt, dass er von einem WG-Zimmer wüsste. Ganz toll, Jo, das hast du wirklich exzellent gemeistert. Sensationell!
Selbstverständlich kannten sie sich erst wenige Wochen, hatten abgemacht, es langsam angehen zu lassen, doch ... Verdammt, er war so ein Feigling! Unterstützung hatte er ihm zugesagt und was tat er stattdessen? Kniff den Schwanz ein und heulte dann im stillen Kämmerlein wie ein Baby. Okay, mit dem Verstand wusste er natürlich, dass seine Panikattacken nichts mit Feigheit oder Schwäche zu tun hatten, aber dennoch ...
Jo hatte gehofft, dieses Kapitel hinter sich zu haben. Andys Anwesenheit war wie Balsam für seine geschundene Seele und sein Herz sagte ihm, dass er ihn bereits liebte. Also warum tat er sich so schwer, ihn vollständig in sein Leben zu lassen?
Es klopfte und Diegos Rastalocken blitzten um die Ecke. „Hey Chef. Immer noch mit den bösen Papieren beschäftigt?“ Der Halbdominikaner wackelte mit den Augenbrauen. Jo schnaubte. „Warte nur ab! Sobald die Partnerschaftsverträge unterschrieben sind, werde ich mich köstlich amüsieren, wenn du über dem Kram hier hängst.“
Gespielt entsetzt hob sein Barkeeper die Hände. „Wenn das so ist, sollte ich mir das nochmal überlegen!“ Mit einem Grunzen warf er sich in einen Stuhl vor dem Schreibtisch. Jo lachte. „Das wirst du nicht tun, Freundchen. In der Bar steckt von dir genauso viel drin wie von mir. Dieser Schritt war längst überfällig.“
Diego sah ihn einen Moment aufmerksam an. „Und du bist dir hundertprozentig sicher, dass du das willst?“ Jo lächelte. „Die Bar würde ohne dich nicht mehr existieren. Ja, ich bin überzeugt, dass es die beste Entscheidung ist, die ich je getroffen habe.“
„Ach, ich dachte, das wäre der brandheiße Twink, der jede Nacht auf dich wartet.“ Jos Lächeln erstarrte. „Nenn ihn nicht so. Andy ist ... verdammt, wieso muss es so kompliziert sein?“
„Ärger im Paradies?“ „Nein. Ja. Ach Scheiße!“ Jo lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Als Torsten gestorben ist, starb ein Teil von mir mit ihm. Dieses Stück von mir ist weg. Unwiederbringlich. Was ist, wenn ich Andy nicht geben kann, was er braucht? Nicht genug für ihn bin?“
„Versteh mich nicht falsch, Jo, aber ihr kennt euch jetzt wie lange? Einen Monat? Du bist gerne mit dem Jungen zusammen, ihr habt Spaß, was willst du noch?“ Sein Freund sah ihn verständnislos an.
„Das Leben besteht aus mehr, als Herumvögeln und Spaß haben.“ Sebastians dunkle Stimme ließ die beiden Männer zusammenfahren. Jo grinste. „Verflucht, Bastian. Wann lernst du endlich, anzuklopfen?“
„Und das Beste verpassen?“ Sein Sandkastenfreund zog vielsagend eine Augenbraue hoch. „Ich bin vorne, wenn etwas ist.“ Diego stand auf und verließ das Büro, ohne Sebastian eines Blickes zu würdigen.
Jo entging nicht, wie der ihm hinterhersah. „Dich hat es ziemlich erwischt, was?“ Bastian seufzte, kam rüber und ließ sich auf den Stuhl fallen, auf dem sein Barkeeper gerade gesessen hatte. Er schloss seine Augen und atmete durch. Als er Jo dann ansah, erschrak dieser über die Resignation in den blauen Tiefen.
„Es wäre so viel einfacher, wenn wir uns aussuchen könnten, in wen wir uns verlieben. Unkomplizierter und schmerzlos.“ Jo lachte bitter. „Mag sein, aber Liebe ohne Leiden ist wertlos, heißt es nicht so?“
„Keine Ahnung, ich würde im Augenblick jedoch gerne darauf verzichten.“ Sebastian rieb sich übers Gesicht. „Genug von mir. Wie läuft es mit dir und dem Kleinen?“
Jo zuckte mit den Achseln. „Gut. Wir verstehen uns super.“ Er sah seinen Freund nicht an, konzentrierte sich auf die Papiere, die vor ihm lagen. „Aha. Und die Wahrheit?“
„Die Attacken sind wieder da“, murmelte er leise. Nachdem Jo beschlossen hatte, mit seiner Vergangenheit abzuschließen, hatte er Sebastian eines Abends von seinen dunkelsten Stunden nach Torstens Tod erzählt. Der hatte ihm schweigend zugehört, ihn in den Arm genommen und Jo hatte zum ersten Mal überhaupt seinen Tränen freien Lauf gelassen. Warum kam dieser Mist jetzt zurück? War seine Entscheidung, sich auf eine neue Beziehung einzulassen etwa falsch? Das konnte - das wollte - er nicht glauben.
Stuhlbeine kratzten über den Boden, dann wurde er plötzlich hoch und in eine Umarmung gezogen, die ihn instinktiv zurückzucken ließ, doch letztendlich sank er in den Trost, den sein Freund ihm anbot. Nach einem Moment zog er sich unbeholfen zurück und räusperte sich. Der ruhige Ernst in Bastians Augen löste seine Zunge.
„Ich habe vor einigen Tagen zufällig in Andys Sachen einen Räumungsbescheid für seine Wohnung gefunden. Ich musste mich erst einmal setzen, als ich Olivers Namen las. Ich verstehe es nicht, Bastian. Eigentlich hatte ich gedacht, das mit ihm ist abgeschlossen. Wie er mich angewidert hat, als er versuchte, mich rumzukriegen. Und ich hätte es beinahe zugelassen. Warum kann ich mich nicht von ihm befreien?“
Das war seine größte Angst, wenn er ehrlich gegenüber sich selbst war. Dass er nie von ganz von seinem Ex loskam. „Wegen Andy. Er ist Olivers Stiefsohn und ...“ Jo hob eine Hand. „Stopp. Andy ist nicht im Geringsten wie Oliver. Er ist ein guter Mensch - durch und durch.“
Sebastian seufzte. „Ich wollte auch nicht andeuten, dass er das nicht ist. Aber seine Verbindung zu deinem Ex lässt sich nun mal nicht wegzaubern. Andys Mutter ist mit diesem Bastard verheiratet und damit unweigerlich eine Präsenz im Leben des Kleinen.“
„Ja, und was für eine. Oliver scheint fest entschlossen zu sein, es mir heimzuzahlen. Die Show, die wir vor ihm abgezogen haben, das war eine Demütigung für ihn, die er nicht auf sich sitzen lässt. Verdammt, ich hätte wissen müssen, dass einem nichts so einfach geschenkt wird.“ Er lachte bitter.
„Als ich Andy in dieser Bar begegnete, da wo ich Torsten das erste Mal geküsst hab, da dachte ich doch tatsächlich, das sei ein Zeichen von ihm. So eine Art Segen. Verrückt, was?“ Nachdenklich sah Sebastian ihn an.
„Nein, eigentlich nicht. Du hast Torsten wahnsinnig geliebt und ihn zu verlieren ...“, er räusperte sich und Jo musste blinzeln. „Ich hatte Angst meinen besten Freund ebenfalls verloren zu haben. Und jetzt gibt es Andy in deinem Leben. Ich kann dir nicht sagen, ob eure Beziehung Bestand haben wird, wenn du dir also von mir eine Garantie erhoffst, die existiert nicht. Aber was ich dir sagen kann, ist das: Seit der Junge bei dir ist, lebst du wieder. Wirf diesen Neuanfang nicht weg, nur weil du glaubst, diese Chance nicht zu verdienen.“
„Andy ist Zeuge einer Panikattacke geworden“, sagte Jo leise. „Ich ... ich möchte ihn nicht mit meinem Scheiß belasten. Er hat genug eigenen Stress. Seine Mutter erwidert keinen seiner Anrufe und dann der Rauswurf aus der Wohnung. Sein ganzes Leben steht Kopf und ich will ihm einfach nicht noch mehr zumuten.“
„So funktioniert eine Beziehung aber, Jo. Auf die Gefahr jetzt wie ein wandelndes Klischee zu klingen: Geteiltes Leid ist halbes Leid! Gib Andy die Chance, dir zu helfen. Lass ihn rein, Jo. Vielleicht erlebst du eine Überraschung.“ Jo sah seinen Freund resigniert an.
„Das Reinlassen ist nicht das Problem, Bastian. Ich fürchte, Andy ist mir schon so tief unter die Haut gekrochen, dass man ihn nicht mal mehr chirurgisch entfernen könnte. Aber ich frage mich, wie wichtig ich für ihn bin. Ich meine, er hat diesen Räumungsbescheid mit keinem Wort erwähnt und heute Vormittag erfahre ich so nebenbei, dass er ein WG-Zimmer sucht.“ „Und?“
„Was und?“ Jo sah seinen Freund verständnislos an. Der rollte mit den Augen. „Du hast ihm doch bestimmt erklärt, dass er keine WG braucht, seine Sachen packen und bei dir einziehen soll.“ Jo blieb stumm.
Sebastian schüttelte den Kopf. „Was hast du stattdessen gesagt?“ „Nichts.“ Das rumorte immer noch in ihm. Die Situation wäre perfekt gewesen, ihre Beziehung zu vertiefen, und was tat er?
„Weißt du, Jo, versteh mich jetzt nicht falsch, aber das ist so typisch für dich. Seit Oliver erwartest du regelrecht, dass irgendetwas schief geht, und verschlimmerst damit alles unnötig.“
„Vielen Dank, Sebastian. Dass ich ein Feigling bin, hab ich schon selber kapiert“, meinte Jo sarkastisch. Ehe Bastian etwas erwidern konnte, klopfte es und Diego steckte seinen Kopf durch die Tür. „Sorry, Chef, aber du wolltest Bescheid kriegen, wenn die Band da ist.“
Jo nickte. „Danke, Diego. Bin gleich vorne.“ Er stand auf. „Danke fürs Zuhören, mein Freund. Ich kläre das mit Andy. Denn eins steht fest: Ich will ihn nicht verlieren.“ Sebastian lächelte und erhob sich ebenfalls. „Das ist die richtige Einstellung, Jo. Und was Oliver Marquardt angeht: Er hat nur so viel Macht, wie du ihm zugestehst. Und jetzt werde ich mal sehen, ob ich deinem Barkeeper einen Cocktail aus dem Ärmel leiern kann, bevor ich verschwinde.“
Jo grinste. „Da würde ich mir keine Hoffnungen machen. Diego ist da eisern. Keine Drinks, ehe die Bar geöffnet ist.“ „Sei dir da mal nicht so sicher, meinem Charme konnte noch niemand widerstehen.“ Bastian wackelte mit den Augenbrauen und lachend verließen die beiden Männer Jos Büro.