Читать книгу Schnulzenroman - Daniel Borgeldt - Страница 11

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Ich fragte Jessy, ob sie vielleicht bereit sei, unsere Abmachung einzuhalten und auch etwas aus ihrem Leben zu erzählen, nachdem sie mich mit der Nachricht ihrer Schwangerschaft geschockt hatte. Sie ließ sich darauf ein und berichtete, dass es ihr nach ihrem positiven Schwangerschaftstest sehr schlecht gegangen sei und sie nicht mehr gewusst hatte, was sie tun sollte.

»Ich konnte mit keinem darüber sprechen, am allerwenigsten mit meinen Eltern. Die hätten mir sowieso nur Vorwürfe gemacht. Als meinem Vater irgendwann klar wurde, dass ich kein kleines Mädchen mehr war, glaubte er ernsthaft, ich würde so ein Leben wie meine Eltern führen, irgendwann einen Mann kennenlernen, am besten einen Ingenieur, heiraten, eine Schar von Enkelkindern bekommen und Hausfrau und Mutter werden. Ich wusste schon in der Pubertät, dass ich das nicht wollte. Als ich meinen ersten Freund hatte, fragte ich, ob ich ihn mit nach Hause bringen dürfe. Mein Vater rastete aus und schrie, solche Dinge dulde er in seinem Haus nicht und ich solle froh sein, dass er so viel Geld verdiene und wir uns überhaupt ein Haus leisten konnten. Ich meine, okay, meine Eltern sind keine Nazis, aber komplett durchgeschossen.«

Ich sagte nichts dazu, stimmte ihr aber heimlich zu. Nach einer Weile fragte ich sie, wie sie eigentlich in den Lerchenhof gekommen sei.

»Ich meine, das ist ja immerhin eine Privatklinik und ziemlich teuer.«

Aber sie sagte nur: »Ich habe jetzt keine Lust, darüber zu reden. Erzähl weiter!«

Ich verlebte also meine Jugend in Mainz und wuchs in großbürgerlichen Verhältnissen auf. Mein Vater war ständig unterwegs und brachte das Geld nach Hause, viel Geld. 1955 kaufte er etwas außerhalb ein Haus für uns, idyllisch inmitten von Obstplantagen und Weinbergen gelegen. Die Wohnung in der Oberstadt behielten meine Eltern als Stadtresidenz. Unser Hausmädchen Anna, eine burschikose Frau, die mit ihrer Mutter vor der Roten Armee aus Ostpreußen geflohen war, versorgte Haus und Wohnung und kümmerte sich um meine Erziehung, und meine Mutter kümmerte sich um sich selbst.

Das alles änderte sich eigentlich erst, als mein Vater überraschend starb. Er erlag im Alter von 50 Jahren einem Herzinfarkt. Bis zu seinem Tod war er einer der beliebtesten deutschen Volksschauspieler geblieben, auch wenn ihn heute niemand mehr kennt. Die Beerdigung fand im kleinen Rahmen statt. Nur die engste Familie war eingeladen. Der Pfarrer, der die Trauerpredigt halten sollte, war furchtbar aufgeregt. Er erzählte mir, dass es ihm eine Ehre sei, einen so berühmten Toten beerdigen zu dürfen. Er habe ihn einmal bei irgendeinem Festakt zu Ehren eines Politikers gesehen. Er beschrieb mir ganz genau, wie der Auftritt meines Vaters gewesen war, wer damals dabei war und so weiter. Am Schluss stellten wir beide fest, dass er nicht meinen Vater, sondern Johannes Heesters gesehen hatte.

Als er noch lebte, war mein Vater für mich lange Zeit einfach nur mein Vater, ein Mann, der selten zu Hause war, mir aber immer Spielsachen und Schokolade mitbrachte. Adenauer regierte das Land, Frauen durften ohne die Zustimmung ihrer Ehemänner nicht arbeiten gehen, alle waren plötzlich katholisch oder taten so und überall durfte man rauchen und trinken. Ich ging in die Schule und stellte bald fest, dass ich in beinahe allen Fächern schlecht war, bis auf Musik. Dort waren meine Lehrer begeistert und attestierten mir eine musische Begabung. Ich hatte große Schwierigkeiten Lesen und Schreiben zu lernen, und in Naturwissenschaften war ich noch schlechter. Je älter ich wurde, desto weniger ernst nahm ich die Schule. Trotzdem schickte mich meine Mutter aufs Gymnasium. Ich erinnere mich an einen Chemietest, bei dem ich eine sechs bekam. Ich hatte bei Fragen wie »Nenne drei Eigenschaften des Elementes Neon« als Antwort geschrieben: »Treue, Ehrlichkeit und Zuverlässigkeit«. Oder »Unter welchen Bedingungen bildet sich bei Gülle Methangas?« »Unter schlechten.« Mein Chemielehrer schrieb unter die Note zusätzlich die Bemerkung, dass ich anfangen solle, die Schule ernst zu nehmen. Meinen Eltern schien das ziemlich egal zu sein. Allerdings verfügte meine Mutter, dass ich schon in jungen Jahren Klavier- und Gesangsunterricht bekam. Wahrscheinlich hatte sie sich das bei ihren großbürgerlichen Freunden abgeschaut und dachte, dass man das mit den Kindern so mache.

An einen Lehrer erinnere ich mich besonders gut: Dr. Werner. Er hatte immer einen roten Kopf und hinkte. Es ging das Gerücht um, er sei in Stalingrad gewesen, darum nannten wir ihn Stalingrad-Werner. Er unterrichtete Musik und Deutsch und war, wie viele andere Erwachsene, Alkoholiker. Er steigerte sich zu cholerischen Wutanfällen, und wehe, man tat dann etwas Falsches. Wenn wir in der Musikstunde im Chor singen mussten, stand er immer mit einer Stimmgabel vor uns. Falls jemand zu laut war oder etwas anderes Verbotenes tat, warf Dr. Werner die Gabel nach ihm. Der Übeltäter musste sie ihm zurückbringen und zwischen Zeige- und Mittelfinger klemmen. Stalingrad-Werner presste dann die beiden Finger mit ganzer Kraft zusammen bis der Schüler vor Schmerz aufschrie.

In Deutsch mussten wir seine beiden Lieblingsdichter auswendig lernen, Börries von Münchhausen und Hermann Löns. Dr. Werner ging während der Stunde mit einem Stock herum und rief Schülernamen auf. Wer das geforderte Gedicht nicht auswendig konnte, bekam Prügel. Ich glaube, ich könnte heute noch ein paar dieser Balladen aufsagen.

Eines Tages kam Stalingrad-Werner nicht mehr zur Schule. Es kreisten Gerüchte, er sei versetzt worden oder habe sich versetzen lassen. Manche glaubten zu wissen, dass er krank sei und sich in einem Sanatorium befände. Die anderen Lehrer gaben keine Auskunft und benahmen sich höchst seltsam. Ein paar Tage später stand seine Todesanzeige in der Zeitung. Niemand sprach offen darüber, aber Stalingrad-Werner hatte sich in seiner Wohnung erhängt. Was die Russen nicht geschafft hatten, das hatte etwas anderes geschafft. Was es war, habe ich nie herausgefunden.

Als mein Vater starb, war ich gerade fünfzehn Jahre alt. Das Geld, das er meiner Mutter und mir vermacht hatte, reichte, um uns ein angenehmes Leben zu ermöglichen und meiner Mutter ihren Alkoholismus bis zu ihrem Tod zu finanzieren. Trotzdem änderte sich plötzlich etwas.

Es hatte bereits einige Jahre vorher an einem Frühlingstag begonnen. Ich war sechs oder sieben Jahre alt und ging zur Schule, die nur ein paar hundert Meter weiter stadtauswärts lag. Eines Morgens auf dem Weg dorthin, entdeckte ich einen alten Herrn, der vor seiner Haustür stand und im Anzug mit Aktentasche auf seinen Fahrer wartete. Das war Alfred Döblin.

Wir blickten uns an. Er schaute aus seinen kurzsichtigen Augen durch seine Nickelbrille hindurch und erweckte bei mir den Eindruck eines alten halbblinden Kauzes. Plötzlich sprach er mich an und fragte, ob ich nicht der Junge aus dem Nebenhaus sei. Ich bejahte und sagte, dass ich schnell zur Schule müsse. Er war mir etwas unheimlich. Döblin aber erwiderte: »Warte mal einen Augenblick.« Er öffnete seine Aktentasche und suchte lange nach etwas. Schließlich schien er es gefunden zu haben. »Ich habe leider keine Süßigkeiten, aber vielleicht magst du ja Musik.« Mit diesen Worten übergab er mir ein dünnes Heftchen mit Noten. Ich dankte ihm und beeilte mich, weiterzukommen. Ich habe mich danach nie wieder mit ihm unterhalten, ihn auch nie wieder alleine gesehen.

Ein Jahr später verließ Döblin zuerst Mainz und dann Deutschland, für immer. Es liefen ihm dort zu viele Nazis herum.

In dem Heft, das er mir geschenkt hatte, waren Noten von Schubert. Warum Döblin sie dabeigehabt hatte und glaubte, er würde mir eine Freude machen, wenn er sie mir schenkte, weiß ich nicht. Ich gab sie meiner Mutter und jahrelang verschwanden sie, da sich niemand um sie kümmerte. Erst als mein Vater starb, tauchten sie plötzlich wieder auf. Anna, das Hausmädchen, hielt sie eines Tages in der Hand und fragte, was damit geschehen solle, da sie sie in der Schublade einer Kommode gefunden hatte. Meine Mutter schaute das Heftchen an. Und dann geschah es. Ihr Blick veränderte sich. Ich habe diesen Blick später auch bei anderen Personen wahrgenommen, aber damals sah ich ihn zum ersten Mal. Es war, als ob irgendetwas in ihr seit Jahren nur auf diesen Moment gewartet hätte. Von diesem Tag an änderte sich unser Leben radikal.

Das heißt, zunächst veränderte sich das Leben meiner Mutter. Sie wurde plötzlich aktiver und trank weniger. Sie engagierte sich in sozialen Projekten der Kirche. Und sie begann, wieder Musik zu machen. Aber sie sang keine Chansons mehr. Stattdessen spielte sie Klavier und begleitete sich selbst mit Gesang. In erster Linie waren es Schubert und Brahms. Wir musizierten zusammen, zuerst nur manchmal, dann immer häufiger. Meine Mutter spielte und ich sang Die Winterreise, Die Forelle und Der Tod und das Mädchen. Es war, als hätte der Tod meines Vaters und das Notenheft bei ihr eine Blockade gelöst. Sie machte einfach da weiter, wo sie vor der Heirat aufgehört hatte. Bald hatte sie auch kleinere Auftritte bei Abendgesellschaften. Sie nahm mich mit und wir trugen die Stücke zusammen vor. So erlebte meine Mutter ihren zweiten künstlerischen Frühling und ich meinen ersten.

Meine Mutter wollte, dass ich das Abitur bestehe, aber gleichzeitig war sie von dem Gedanken besessen, aus mir einen Künstler zu machen. Am Anfang wünschte sie, ich solle in die Fußstapfen meines Vaters treten. Sie schaffte es auch tatsächlich durch alte Bekannte, mich in einer Filmproduktion unterzubringen. Der Film hieß Grüß mir die Heide!

Einen Sommer lang drehten wir südlich von Hamburg. Es entstand ein Heimatfilm, in dem mein Vater eine Hauptrolle bekommen hätte. Ich bekam eine kleine Nebenrolle. Der Film bestand sowieso hauptsächlich aus Bildern von Schafen und Landschaftsaufnahmen aus der Lüneburger Heide, wo er gedreht wurde. Die Geschichte war wie Shakespeare für Arme. Ein reicher Industrieller macht mit seiner Tochter Urlaub in der Lüneburger Heide, mit dabei ist sein Sekretär, der die Tochter heiraten soll. Die Tochter will aber nicht, sondern sich ihre Freiheit bewahren und selbst entscheiden, wen sie heiratet. Bei einem Fest in der Heide lernt sie einen Schäfer kennen, der von Liebeskummer geplagt ist. Er ist in die Tochter eines reichen Heidebauern verliebt und sie in ihn, aber der Vater hat die Heirat aus Standesgründen verboten. Zusammen versuchen die Industriellentocher und der Schäfer ihre Pläne zu verwirklichen. Mehrmals ergreifen bei dem Film die Frauen die Initiative, was die Geschlechterverhältnisse gehörig durcheinanderrüttelt. In einer Szene trägt die Industriellentochter sogar Hosen und flirtet wild mit dem Schäfer, aber am Ende finden doch alle Paare zueinander, auch die Industriellentochter entdeckt, dass sie eigentlich in den Sekretär verliebt ist. Männer sind wieder Männer und Frauen wieder Frauen.

Ich spielte den jüngeren Bruder des Schäfers, der versucht, die Liebenden zu unterstützen. Wie für den deutschen Heimatfilm üblich, wurden viele Schlager gesungen, hier mit Texten von Hermann Löns, den ich schon aus dem Unterricht von Stalingrad-Werner kannte. Löns ist eine literarische Randerscheinung. Er kam mit der modernen Großstadt nicht klar, ihm war der Sandboden der Lüneburger Heide lieber. Schon zu Lebzeiten wurde er als Naturschützer und Heidedichter sehr berühmt. 1914 wollte er sich gerne, wie viele andere Leute, für Deutschland töten lassen. Das gelang ihm auch.

Viel später ist mir mal ein Filmlexikon in die Hände gefallen, in dem auch Grüß mir die Heide! aufgeführt war. Dort wurde eine Filmkritik zitiert: »Die an erfolgreiche Liebeskomödien angelehnte Handlung kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass man es hier mit einer typisch nachkriegsdeutschen Weltfluchtphantasie zu tun hat. Die Heide- und Heidschnuckenbilder wirken entsetzlich flach und kitschig, passen aber zum Rest der Handlung. Gleichzeitig spiegelt sich hier das Frauenbild der Adenauer-Ära wider. Den Frauen werden von den Männern die Hosen angezogen und am Ende wieder weggenommen, damit sie zurück an den Herd können. Dort sind Kittelschürzen ja sowieso viel praktischer.«

Der Film hatte das Potential, ein Kassenschlager zu werden, floppte jedoch bereits bei der Premiere. Der Regisseur wollte an Publikumserfolge wie Grün ist die Heide anknüpfen. Warum gerade unser Film floppte, weiß ich eigentlich bis heute nicht, vielleicht, weil in ähnlichen Schnulzen bekanntere Schauspieler wie Willy Fritsch mitspielten. Ich bekam als Gage dreihundert Mark, was mir wie ein kleines Vermögen vorkam. Das Geld wurde natürlich meiner Mutter ausbezahlt.

Nachdem der Film gefloppt war, meinte sie, dass Schauspielerei vielleicht doch nicht das Richtige für mich sei. Sie erinnerte sich wohl an die Empfehlung meiner Musiklehrer und verfügte, dass ich wieder professionellen Gesangs- und Klavierunterricht nehmen sollte, um dann nach der Schule aufs Konservatorium zu gehen. Dafür brauchte ich zwar kein Abitur, meine Mutter bestand aber darauf. Für mich hieß das, wie ein Wahnsinniger zu büffeln und nachmittags noch zum Musikunterricht zu gehen. Ich musste die Schule wechseln. Meine Mutter schickte mich auf ein humanistisches Gymnasium, wo die Musik besonders gefördert wurde. Leider wurde ich auch gezwungen, Latein und Altgriechisch zu lernen.

Generationen von jungen Künstlern mussten sich vom Zwang der Familie befreien, die wollte, dass sie einen bürgerlichen Beruf erlernten. Bei meiner Mutter war es umgekehrt. Ich sollte Berufsmusiker werden. Damals wünschte ich mir nichts anderes als die Schule abzubrechen und einen normalen Beruf zu ergreifen. »Mama, ich will kein Künstler werden. Ich möchte in einer Bank arbeiten.« »Was? Das kannst du deinem toten Vater und mir nicht antun. Du wirst Künstler! Und das ist mein letztes Wort!«

Das Weltgeschehen zog an mir vorbei auf flackernden Fernsehgeräten. Die Israelis verurteilten Eichmann zum Tode und richteten ihn hin, die Russen versuchten, auf Kuba Atomraketen zu stationieren und lösten damit beinahe den Dritten Weltkrieg aus. Während ich Abiturprüfungen hatte, liefen in Frankfurt die Auschwitz-Prozesse, die geisterhaften Gesichter der Angeklagten auf der Mattscheibe: Boger, Kaduk, Mulka.

Schließlich hatte die Quälerei ein Ende. Ich bestand das Abitur, zwar schlecht, aber es hatte gereicht. Das bedeutete aber nur eine kurze Verschnaufpause, denn meine Mutter hatte meinen Lebensweg ja schon vorherbestimmt. Im Herbst hatte sie mir ein Vorspielen im Konservatorium in Frankfurt organisiert, für das ich den ganzen Sommer üben sollte. Danke, Mama!

Der deutsche Staat jedoch sollte meiner Mutter vorerst einen Strich durch die Rechnung machen. Ich bekam nämlich meinen Musterungsbescheid. Ich wollte alles, nur nicht zur Bundeswehr. Also entschied ich mich zu verweigern. Ich erspare mir jetzt den ganzen Sermon über die Torturen, die man über sich ergehen lassen musste, wenn man 1964 den Kriegsdienst verweigern wollte: die Musterung, die Anhörung, das Wartenlassen, die nochmalige Anhörung, der ganze moralische Mist a là: »Wie, Sie können sich nicht vorstellen auf einen anderen Menschen zu schießen? Was machen Sie denn, wenn ihre Freundin von drei Russen vergewaltigt wird und sie haben gerade zufällig ein Maschinengewehr? Würden Sie das nicht benutzen?« Meine Mutter stand dem ganzen relativ neutral gegenüber. Sie sagte einmal zu Anna, meinem Kindermädchen: »Na ja, der Junge hat eben eine musische Natur. Er ist nicht zum Soldaten geboren.« Eines Tages kam endlich der Brief. Ich musste nicht zur Bundeswehr. Stattdessen leistete ich Wehrersatzdienst in einem Krankenhaus, das von Nonnen geleitet wurde. Bei dem ersten Gespräch mit der Schwester Oberin fragte sie mich, welcher Glaubensrichtung ich denn angehöre. Ich war Evangelisch. Die Oberin meinte, das sei kein Problem, das sei hier zwar ein katholisches Haus, aber sie seien anderen Religionen gegenüber sehr offen. Sie sagte wirklich »anderen Religionen«.

Zusammen mit mir traten vier oder fünf andere junge Männer ihren Zivildienst an: ein Lehrersohn aus dem Sauerland und einer, der aus Bingen kam und dessen Eltern eine Kneipe hatten. An die anderen kann ich mich nicht mehr erinnern. Der aus dem Sauerland erzählte ständig, dass er nach dem Zivildienst auf Lehramt studieren wollte, der aus Bingen hatte vor, die Kneipe seiner Eltern zu übernehmen. Irgendwie frustrierte mich das gewaltig!

Unsere Arbeit bestand darin, die schmutzigen Betten von den Stationen zu holen, unten im Keller zu reinigen und dann wieder zurückzubringen, wahnsinnig dumm und monoton. Offensichtlich wollten sie uns zeigen, was mit denen geschah, die sich weigerten ihrem Vaterland als Soldaten zu dienen. Das einzig Gute war, dass wir im Keller unseren eigenen Waschraum hatten. Dort im Schrank versteckten wir heimlich eine Flasche Schnaps und genehmigten uns zwischendurch einen Schluck.

So vergingen die Monate. Meistens tat ich nichts, außer leicht angetrunken Betten zu reinigen und neu zu beziehen. Ich erinnere mich allerdings noch sehr gut an einen Arzt von der Onkologie, Dr. Klaus Rickert, der sich mehr oder weniger heimlich Opiate spritzte. Er schwankte immer mit einem seligen Lächeln auf dem Gesicht über die Krankenhausflure. Und alle mochten ihn, seine Kollegen, die Nonnen, die Schwestern, auch wir Zivildienstleistende. Würde ich zu Esoterik neigen, würde ich sagen, er hatte eine sehr positive Aura. Einmal meinte der Lehrersohn zu mir: »Ich weiß nicht wieso, aber immer wenn ich Dr. Rickert sehe, kriege ich gute Laune.«

Entweder störte es niemanden oder keiner bemerkte, dass er die Opiatbestände plünderte, die eigentlich für die Krebspatienten vorgesehen waren. Das ging soweit, dass ich sogar einmal, als ich mich mit ihm unterhielt, in der Tasche seines Arztkittels eine Packung Dolantin entdeckte, die halb hervorschaute. Anscheinend hatte ihn niemand darauf angesprochen. Ich fragte einen anderen Arzt, was genau Dolantin denn sei und der meinte, es handle sich um ein sehr starkes Opiat, ein Syntheticum mit Nebenwirkungen von Muskelkrämpfen bis zu Gallenkolik. Allerdings habe ich bei Dr. Rickert so etwas nie feststellen können.

Meine Mutter verlangte, dass ich trotz Zivildienst weiterhin Klavier- und Gesangsunterricht nahm, um mich aufs Konservatorium vorzubereiten. Der Druck wurde unerträglich und ich trank auf der Arbeit immer mehr. Die Stunden fanden zu Hause bei einem pensionierten Musiklehrer statt. Ich wankte immer schon halb betrunken vom Krankenhaus zu seiner Wohnung. Der Zivildienst ging so schneller vorüber als gedacht. Es war inzwischen 1966 und ich wurde volljährig.

Da nun keine Arbeit mehr im Weg stand, übte ich also mit Verspätung den ganzen Sommer, bis zur Aufnahmeprüfung im Herbst am Konservatorium. Ich, oder besser meine Mutter, hatte mich für Gesang und Klavier angemeldet. Ich übte wie ein Wahnsinniger und es gelang mir tatsächlich die Aufnahmeprüfung zu bestehen und angenommen zu werden. Die Prüfer waren zwar nicht gerade begeistert von meinem Können, aber sie erklärten, es gebe Potential und sie wollten es einmal mit mir versuchen.

Als ich das erzählte, meinte Jessy, der eigentliche Witz meines Lebens sei ja, dass ich wirklich Berufsmusiker wurde, nur nicht so, wie meine Mutter es gewollt hatte. Das war das erste, was sie seit langer Zeit gesagt hatte. Den Schwarzwald hatten wir hinter uns gelassen und fuhren nun durchs nördliche Baden-Württemberg. Das Radio lief. Plötzlich eine Meldung: Angeblich haben die Flüchtlinge aus den Maghreb-Staaten in Frankreich weniger Integrationsprobleme, da viele von ihnen bereits Französisch sprechen. Die Leute müssen also nicht, wie in Deutschland, erst eine Fremdsprache lernen, um sich zu integrieren. Und die zynische Moral von der Geschichte? Hätten die Deutschen sich vor über hundert Jahren um mehr Kolonien bemüht und das Wettrennen gegen Frankreich und England nicht verloren und sich noch mehr als gewissenlose Arschlöcher aufgeführt, dann hätten die Flüchtlinge heute weniger Probleme, sprich: keine Sprachbarriere.

Ich sollte nun wohl etwas über das Konservatorium in Frankfurt erzählen, wie es damals dort aussah oder zuging, aber das kann man auch woanders nachlesen. Also spare ich mir das. Ich bezog eine möblierte Wohnung im Westend, die meine Mutter mir standesgemäß ausgesucht hatte und die sie auch bezahlte.

Der Professor, der am Konservatorium den Lehrstuhl für Klavier innehatte, war ein dicker, alter Nazi, der auch noch Wagner hieß. Sein Spezialgebiet war Bach. Der Unterricht war zweigeteilt. Morgens besuchte man die musiktheoretischen Seminare und nachmittags übte man. Professor Wagner war ein Bekannter meiner Mutter, was noch einmal ein ganz anderes Licht auf meine Aufnahme warf. Er schien mich besonders freundlich und aufmerksam zu behandeln, sowohl im Seminar als auch in den Übungsstunden. Er sah über meine Fehler hinweg und ermunterte mich immer wieder in einem breiten Hessisch, mir beim Kontrapunkt mehr Mühe zu geben oder mich auch schon einmal an die Fuge zu wagen. »Es is noch kei Meiste vom Himmel gefalle, junge Mann. Aber übe, übe, übe. Des is des wischtischste.«

Ich kann nicht sagen, dass ich ein besonders begabter Schüler war, aber ich war auch nicht der schlechteste. So sah mein Leben damals aus und ich fühlte mich, als hätte ich gerade meinen ersten Arbeitstag in einer Konservenfabrik begonnen und mir wäre klargeworden, dass ich mindestens die nächsten fünfzig Jahre nichts anderes tun würde als Tag für Tag Konserven herzustellen. Mit den meisten anderen Studenten verband mich wenig, bis auf eine Ausnahme, aber dazu komme ich gleich.

Man hätte meinen können, dass ich auf meinen Vater angesprochen worden wäre, aber der Bekanntheitsgrad Georg Fraunhofers schwand ziemlich schnell und bald konnten sich nur noch die Älteren an ihn erinnern. Er war eben eine temporäre Erscheinung gewesen.

Aus Langeweile begann ich, mich in den Jazzlokalen der Stadt umzusehen. Jazz war damals für die meisten Mozart- und Beethoven-Hörer immer noch nur »Neger-Musik«, künstlerisch-wertlos. Aber die Jugend hatte ihn schon lange für sich entdeckt und das bedeutet immer, dass der Erfolg vorgezeichnet ist. Ich betrank mich fast jeden Abend in einem der Jazz-Keller der Stadt.

Im Konservatorium besuchte ich auch Veranstaltungen, die keine Verpflichtung nach sich zogen, also für meinen Abschluss keine Rolle spielten. Eine dieser Veranstaltungen war die des Privatdozenten Alfred Oppermann. Oppermann war Jude und 1960 aus den USA remigriert. Es hieß, er habe während des Krieges in Kalifornien bei Arnold Schönberg und Hanns Eisler studiert. Man sah ihn immer allein auf dem Gelände des Konservatoriums herumspazieren. Von den anderen Dozenten war er isoliert, wahrscheinlich weil er Jude war und eine wandelnde Erinnerung an die zwölf Jahre, die auch die Nazis inzwischen die »schlimme Zeit« nannten.

Er war der erste Intellektuelle, den ich kennenlernte. Wenn er redete, schien es, als sei alles andere, was uns sonst so beigebracht wurde, bedeutungslos zu sein. Sein Spezialgebiet war die deutsche Romantik. Aber in seinen Seminaren ging es auch viel um Zwölftonmusik. Er war ein hochgewachsener, dünner Mann mit einem Hang zur Schlaksigkeit, meistens trug er einen Anzug mit Schlips und Kragen, einen schwarzen Mantel, im Sommer Jackett, mit einem weißen Schal und einem breitkrempigen Hut, der ein wenig an einen Schäfer erinnerte. Wenn man ihn auf der Straße traf und er einen erkannte, was im ersten Semester bei ihm grundsätzlich nicht vorkam, grüßte er kurz, indem er seine Hand an die Krempe des Hutes legte und irgendetwas Ulkig-Altmodisches sagte, wie: »Habe die Ehre« oder »Ihr Diener, mein Herr«. Er gab ein Seminar zum romantischen Kunstlied. Aber eigentlich redete er ebenso über alles andere. Er sprach über Schumanns Klavierstücke und wechselte plötzlich zum Bau der Sonate überhaupt, die er mit Beispielen von Clementi, Mozart und Haydn untermalte, welche er am Klavier vorspielte. Plötzlich dozierte er in der gleichen Sitzung über die Instrumentalwerke von Brahms und Bruckner, stellte Bezüge zu Beethoven her und zu Wagner und erklärte die Unerklärbarkeit des Tristan-Akkords, erläuterte, warum Mahler so wichtig für die Wiener Schule war und dass ohne ihn Schönberg die Zwölftontechnik gar nicht hätte entdecken können. Dies alles in einem rasanten Tempo, dem für einen Studiumsneuling schwer zu folgen war. Es waren häufig nur zehn oder zwölf Studenten in seinem Seminar. Einer davon war Amadeus Schneider.

Am Anfang fiel er mir eigentlich nur dadurch auf, dass er meistens fünf Minuten zu spät kam, mit brennender Zigarette im Mundwinkel, was damals niemanden störte. Er setzte sich dann ganz hinten auf einen alleinstehenden Stuhl und blieb dort unbeweglich sitzen bis zum Ende des zweistündigen Seminars, das immer Freitagabends um 18 Uhr cum tempore anfing. Auf mich wirkte dieses Verhalten sehr arrogant, bis ich einmal im Vorbei gehen bei ihm eine stechende Alkoholfahne wahrnahm. Ich konnte es kaum glauben, dieser Student kam einfach besoffen zum Seminar, blieb dabei die ganze Zeit ruhig sitzen und beteiligte sich nicht. Wir anderen beteiligten uns übrigens auch nicht, weil das Seminar darin bestand, dass Oppermann redete und dabei Beispiele am Klavier vorführte. Nur einmal erinnere ich mich, dass ein Student, ein Erstsemester, sich während des Oppermannschen Vortrags meldete und eine Frage, ich glaube, zu einer Brahmsschen Sinfonie, stellte. Nach dem Seminar bedankte sich Oppermann für die »rege Diskussion diesmal«.

Amadeus, dessen Namen ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht kannte, hatte also meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Ich stellte bald fest, dass er fast jedes Mal, wenn ich ihn im Seminar sah, eine Alkoholfahne hatte. Ich achtete verstärkt darauf und, sobald ich in seine Nähe kam, zog ich die Luft tief ein, um festzustellen, ob es diesmal wieder so sei und lernte dabei bald verschiedene Alkoholausdünstungen zu unterscheiden. Ich roch Whisky und Kirschwasser, Birnenbrand und Mirabelle, Bommerlunder und Korn. Dieser Student genehmigte sich kurz vor dem Seminar also noch schnell einen Drink. Den Kommilitonen schien nichts aufzufallen, jedenfalls bemerkte ich bei ihnen nichts, was darauf schließen ließ. Sie ignorierten ihn sowieso kollektiv. Sein Verhalten erregte bei mir keine Empörung, schließlich war ich ja auch häufig abends betrunken, wenn auch nicht im Seminar. Ich war eher neugierig. Im Laufe des Semesters rückte ich immer weiter nach hinten, da ich immer besessener davon wurde, zu erraten, was er diesmal getrunken hatte. Kurz vor den Weihnachtsferien fand ich mich, ohne dass ich es beabsichtigt hatte, auf dem Stuhl neben ihm wieder. Und dann geschah es. Er stieß mich mit seinem Fuß leicht ans Bein, fasste, als ich zu ihm sah, schnell in die Innentasche seines Jacketts und schob mir mit einem Grinsen heimlich einen Flachmann zu. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, aber da ich nicht unhöflich sein wollte, nahm ich einen schnellen Schluck, während Oppermann vorne erklärte, warum Beethoven die Sonatenform an ihr Ende geführt hatte. Ich konnte nicht genau unterscheiden was es war, aber ich tippte auf eine Art Obstbrand, unterdrückte ein Husten und gab ihm den Flachmann zurück.

Als das Seminar aus war, umringten die anderen Studenten wie immer Oppermann und stellten ihm auf dem Weg nach draußen Fragen. Ich hielt mich abseits und entdeckte, als wir aus dem Konservatorium kamen, meinen trinkfesten Stuhlnachbarn, der vor mir den Raum verlassen hatte, an einer Ecke stehend und scheinbar auf mich wartend, denn er steuerte, als er mich sah, direkt auf mich zu.

»Hallo. Amadeus. Amadeus Schneider«, stellte er sich vor.

»Heinrich Fraunhofer.«

»Aber nicht der Fraunhofer?«, fragte er.

»Du meinst wahrscheinlich meinen Vater. Das wundert mich. Du bist der erste, den ich in Frankfurt treffe, dem dieser Name noch etwas sagt.«

»Das liegt daran, dass ich so gebildet bin«, erwiderte er. »Was hältst du vom Seminar?«

»Na ja. Es ist recht …«, ich suchte das richtige Wort, »… eigen.«

Er lachte. »Das kann man wohl sagen.«

Dann deutete er mit dem Kopf in Richtung des von Studenten umringten Oppermann, der gleich um eine Ecke verschwunden war.

»Es heißt, die Nazis hätten seine ganze Familie umgebracht. Warum ist er wohl zurückgekommen?«

Es wirkte nicht so, als hätte er diese Frage an mich gerichtet. Er schien jedenfalls keine Antwort zu erwarten. Ich hätte sowieso keine gehabt. Nachdem wir eine Weile geschwiegen hatten, meinte er schließlich: »Komm, ich hab Durst. Gehen wir was trinken.«

Ich wollte erst Nein sagen, aber dann fiel mir kein Grund ein, der dagegen sprach. Also ging ich mit. Wir nahmen den nächsten Bus und stiegen an der Alten Oper aus. Amadeus wollte in den Club Voltaire, den es damals noch nicht so lange gab. Ich kannte mich nicht aus, also ging ich einfach hinterher. Der Club war noch nicht das, was später aus ihm wurde. Aber man traf dort auch 1966 schon viele linke Studenten, die endlose politische Debatten führten und Gruppen gründeten, die dann wieder aufgelöst wurden, da sich manche Mitglieder abspalteten. Ich war während meiner Zeit in Frankfurt sehr häufig dort, habe aber selten einen wirklich prominenten Vertreter der späteren 68er getroffen. Ein Bekannter von mir erzählte mir einmal, er habe gesehen, wie Hans-Jürgen Krahl bei einer Podiumsdiskussion, während er redete, sein Glasauge in ein vor ihm stehendes Schnapsglas legte, ohne seine Rede zu unterbrechen, nur um es danach wieder herauszunehmen und einzusetzen. So etwas habe ich nie beobachtet.

Damals, an dem Wintertag 1966, kurz vor Weihnachten, war das Einzige, auf das Amadeus und ich aus waren, ein ordentliches Besäufnis. Im Club Voltaire war allerdings eine Veranstaltung des SDS und der Laden sehr voll. Wir konnten uns kaum den Weg zur Theke bahnen. Schließlich schafften wir es doch und bestellten Bier.

»Und du hast tatsächlich in einem Film mitgespielt?«, fragte mich Amadeus.

»Hab ich dir doch gesagt. Nicht, dass ich stolz darauf wäre. Es war eher der Wille meiner Mutter.«

Amadeus brach in Lachen aus.

»Du bist wahrscheinlich der Erste, der sagt, dass er gezwungen wurde, in einem Film mitzuspielen«, meinte er, »und das auch noch von seiner Mutter.«

Auf dem Podium war gerade ein junger Student, der einen Vortrag hielt. Es ging um Kurt Eisner und die Münchner Räterepublik und was man heutzutage daraus lernen konnte. Er wurde ständig von irgendwelchen Zwischenrufen unterbrochen, während ich von einem Typen angesprochen wurde, der ungefähr so alt war wie ich. Er trug eine Lederjacke und so ein Barett, das später alle Che-Guevara-Fans der Welt trugen. Er erzählte mir, er sei Schriftsteller und ob ich nicht auch schreiben würde, mein Gesicht käme ihm irgendwie bekannt vor. Ich verneinte und sagte ihm, dass ich am Konservatorium studiere. Er schien das zu überhören und redete einfach weiter von sich. Er sagte, wir bräuchten eine neue revolutionäre Kunst in Deutschland, die den deutschen Spießer entlarven würde, so wie die Amerikaner, wie Ginsberg, Burroughs und Kerouac. Dann fragte er mich, was ich von Joyce hielte, ob der nicht trotz seiner bourgeoisen Herkunft revolutionäre Kunst gemacht habe. Ich sagte, ich habe keine Ahnung. Dann fragte er mich, was ich zuletzt gelesen hätte. Ich antwortete ihm, das sei ein Jerry Cotton-Heft gewesen. Er hielt das für einen Witz und lachte. Ich bestellte noch mehr Bier und einen Schnaps und wünschte mir, dass der Typ bald ginge.

Amadeus war im Gespräch mit zwei Studentinnen, die er mir als Anna und Susanna vorstellte.

»Die beiden wollten gerade gehen. Sollen wir nicht mit?«, fragte er mich und blinzelte verräterisch, weil die Antwort für ihn offensichtlich war. Der Typ mit dem Barett, der sich als Andreas vorgestellt hatte, meinte, es würde auch langsam Zeit zu gehen, da käme er einfach mit. Wir stolperten also alle auf die Straße, raus aus der Kneipe in die kalte Winterluft. Anna oder Susanna (ich weiß es nicht mehr) hakte sich bei mir unter und wir machten uns auf den Weg nach Sachsenhausen. Dort wollte eine der beiden zu einer Geburtstagsparty in einer Kneipe.

Anna oder Susanna schaute zum Sternenhimmel hinauf. Es war ein klarer, kalter Dezemberabend und da oben hatte jemand das Kitschpanorama aufgelegt.

Anna oder Susanna erzählte mir davon, dass sie Theologie studierte, dies aber in erster Linie wegen ihrer Familie tat und nächstes Semester das Fach wechseln wollte, um endlich ihren eigenen Weg zu gehen. Ich fragte sie, welches Fach sie denn gerne stattdessen studieren wolle. Sie antwortete Philosophie. Ich habe, um ehrlich zu sein, noch nie so genau den Unterschied verstanden, obwohl bei dem einen wohl das Wort Gott häufiger vorkommt.

Dann sagte sie etwas über den Sternenhimmel, wie weit und groß das alles sei. Ich musste an einen Film denken, den ich vor kurzem gesehen hatte, mit Bud Spencer und Terence Hill. In einer Szene, in der Terence Hill nachts mit einem Mädchen unterm Sternenhimmel liegt, redet die weibliche Darstellerin auch über die Schönheit der Sterne und Hill antwortet so etwas wie: »Ja, ja. Die großen sind ganz schön, die kleinen nicht so.« Seitdem muss ich in solchen Momenten immer daran denken.

An dieser Stelle unterbrach Jessy mich erneut. Sie meinte, dass das nicht stimmen könne. Sie kenne das Zitat auch und der Film sei erst viel später rausgekommen. In den Siebzigern. Sie sei sich da ziemlich sicher. Es entstand ein kurzes Streitgespräch zwischen uns, das damit endete, dass Jessy in diesem verdammten Internet nachschaute und verkündete, dass sie Recht habe. Der Film mit dem deutschen Titel Vier Fäuste für ein Hallelujah kam erst 1972 hier in die Kinos.

Was soll ich sagen? Sie hatte mir damit die Pointe versaut. Aber ich bin eben ein alter Mann und verwechsle manchmal Dinge.

Wir fuhren also nach Sachsenhausen und gingen in irgendeine Kneipe, deren Namen ich wieder vergessen habe. Dort trafen wir Freunde von Anna und Susanna, von denen einer Geburtstag hatte. Ich war schon ziemlich betrunken. Andreas versuchte, mich weiter in ein Gespräch über Literatur zu verwickeln, warum, weiß ich eigentlich nicht.

Er redete davon, dass Grass und Böll abgewirtschaftet hätten und der einzige moderne Schriftsteller in Deutschland Arno Schmidt sei, aber der sei leider kein Kommunist.

Dann erzählte er mir von einem Roman, den er schreiben wollte. Es ging um einen jungen, revolutionären Schriftsteller, der Romane im Stil von James Joyce und Henry James verfasste, dabei aber ständig Ablehnung erfuhr und sich gegen seine Familie und die Gesellschaft durchsetzen musste. Ich bestellte noch ein Bier.

Anna oder Susanna kam und forderte mich zum Tanzen auf. Sie hatten in der Kneipe eine Jukebox und es kam gerade ein Beatles-Song. Da ich schon betrunken genug war und von Andreas loskommen wollte, ließ ich mich darauf ein. Anna oder Susanna schlang die Arme um meinen Hals und wir tanzten, tanzten und dann wurde alles schwarz.

Am nächsten Morgen wurde ich von bohrenden Kopfschmerzen geweckt und stellte fest, dass ich auf dem Boden eines mir unbekannten Zimmers lag. An der Wand hingen verschiedene Fotos mit Personen, die ich in meinem ganzen Leben noch nie gesehen hatte, und ein Kruzifix. Ich war noch vollständig angezogen, aber jemand hatte trotzdem eine Decke über mich gelegt. Ich stand auf und suchte die Toilette, fand aber keine. Stattdessen stolperte ich im Flur über Amadeus. Endlich ein bekanntes Gesicht. Er grunzte kurz, öffnete die Augen und grinste mich an.

»Morgen.«

»Morgen. Wo, zum Teufel, sind wir?«

»Noch in Sachsenhausen. Ein Freund von Anna und Susanna hat uns angeboten, bei ihm zu übernachten.«

»Wo ist das Klo?«

»Draußen. Auf halber Treppe.«

Ich wankte aus der Haustür und die Treppe runter. Dort kotzte ich erst einmal und verrichtete andere Notdurft. Als ich wieder in die Wohnung kam, war Amadeus aus dem Flur verschwunden. Ich stellte fest, dass er es sich in dem Zimmer, in dem ich gelegen hatte, auf dem Boden bequem gemacht hatte und wieder eingeschlafen war. Aus einem anderen Zimmer kamen Geräusche. Es war die Küche. Dort stand ein junger Mann in Unterhosen und war damit beschäftigt, Kaffee zu kochen. Ich grüßte kurz und bedankte mich dafür, dass Amadeus und ich hier hatten übernachten dürfen. Er winkte jovial ab und stellte sich als jemand namens Karl vor, Student der Theologie, ein Kommilitone von Anna oder Susanna oder beiden. Ich sagte ihm, ich hieße Andreas, wäre Schriftsteller und würde Romane schreiben im Stile von James Joyce und Henry James. Dann bot er mir einen Kaffee an.

Es stellte sich heraus, dass Karl hier alleine wohnte. Sein Vater war Theologieprofessor in Tübingen und bezahlte ihm die Wohnung. So etwas wie WGs, die heute bei Studenten allgegenwärtig sind, gab es damals noch nicht.

Wir saßen da und unterhielten uns eine Weile bis Amadeus kam, weil er den Kaffee gerochen hatte. Er erzählte, dass wir nach der Kneipe, in der der Geburtstag gefeiert worden war, noch in drei weiteren gewesen wären. Irgendwann gingen Anna und Susanna, weil sie müde waren, und wir zogen mit Karl und zwei anderen Studenten noch weiter. Ich sagte, dass ich mich an überhaupt nichts erinnern könne, was Amadeus mit schallendem Gelächter honorierte.

Nach dem Frühstück bedankten wir uns nochmal bei Karl und machten uns auf den Weg. Von nun an saßen Amadeus und ich immer nebeneinander im Seminar von Alfred Oppermann und hatten leicht einen im Tee.

Schnulzenroman

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