Читать книгу Schnulzenroman - Daniel Borgeldt - Страница 12
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ОглавлениеWir waren gerade in unseren ersten Stau geraten. Jessy sagte, wir sollten in nächster Zeit eine Pause machen, sie müsse mal für kleine Mädchen. Ich versuchte, über den Verkehrsfunk zu erfahren, wie lange dieser Stau dauern würde. Aber ich fand ihn nicht und stieß einen Fluch aus.
»Jetzt schrei hier nicht rum wie ein Idiot! Du erinnerst mich gerade an meinen Vater. Der ist, wenn wir in Urlaub gefahren sind und im Stau standen, auch immer ausgerastet.«
Ich sagte, dass das nicht meine Absicht gewesen sei und um von meinem Ausbruch abzulenken, fragte ich sie noch einmal, wie sie denn nun eigentlich in den Lerchenhof gekommen war.
Es entstand eine kurze Pause, während der Jessy aus dem Fenster schaute. Ich dachte schon, sie würde nichts mehr sagen, da meinte sie plötzlich:
»Okay, na gut. Ich seh’ ja ein, dass ich auch mal mehr von mir erzählen muss. Weißt du, was du eben über deine Eltern gesagt hast, kenne ich irgendwie. Zumindest, was die Erwartungen angeht. Als ich nach Berlin ging, war meine Mutter enttäuscht und mein Vater sah es als persönliche Beleidigung an. Sie glaubten wirklich, dass ich in Ludwigshafen bleiben und so ein Leben wie sie führen würde. Um sie zu beruhigen, schrieb ich mich für dieses Studium ein und sagte ihnen, ich wolle Lehrerin werden.«
An dieser Stelle unterbrach ich sie mit hysterischem Gelächter.
»Haben sie dir das geglaubt?«, fragte ich.
»Ich denke, sie wollten es glauben. War mir im Grunde aber scheißegal. Ich wollte einfach nur weg; weg von ihnen und weg aus Ludwigshafen. Ich meine, als Kind war ich immer auf den Gartenpartys von Hannelore Kohl. Die hat solche Kinderfeste organisiert, wahrscheinlich, weil sie so alleine war und man so was als Kanzlergattin wohl macht. Traurig, aber total durch! Egal. Ich ging also nach Berlin, fand über Freunde, die dort wohnten, eine günstige Einzimmerwohnung in einem Hinterhaus in Friedrichshain und suchte mir einen Job in einer Bar, wo auch Konzerte stattfanden. Ich stieg bei verschiedenen Bands ein und gründete dann meine eigene. Ich weiß nicht, ob ich es schon mal erwähnt hab, aber ich mache schon seit ich fünfzehn bin Musik und schreibe selber Songs. Damals in Berlin, das war eine gute Zeit. Ich meine, ich war frei, ging viel feiern, trank ziemlich viel Alkohol und«, sie zögerte kurz, »nahm andere Substanzen.«
»Du brauchst mich gar nicht so schräg anzugucken«, meinte ich. »Ich war zwar Schlagersänger, aber wenn du wüsstest, was ich in den Siebzigern alles so getrieben habe … Also, erzähl einfach weiter.«
»Eines Abends war ich auf dieser Party in Kreuzberg. Da sah ich ihn. Er stand am Fenster, rauchte einen Joint und unterhielt sich. Je länger ich ihn heimlich beobachtete, desto besser gefiel er mir. Ich war allerdings auch schon ziemlich druff. Na ja, also, ich drängte mich ins Gespräch, eins kam zum anderen und morgens gingen wir zusammen nach Hause. Natürlich vögelten wir. Ich kann mich aber kaum dran erinnern. Anscheinend hatten wir nicht verhütet, jedenfalls blieb einige Zeit später meine Regel aus und ich machte einen Schwangerschaftstest, der positiv war. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Stundenlang saß ich einfach nur da. Ich mochte mein Leben, ich mochte meinen Job als Barkeeperin, meine Band. Ich mochte Berlin, den Dreck und die Drogen. Ein Kind passte da einfach nicht rein.«
»Und warum hast du nicht abgetrieben?«, fragte ich Jessy.
»Weiß ich selber nicht genau. Ich wollte kein Kind, aber ich wollte auch nicht abtreiben. Ich hatte noch so viele Dinge vor. Habe ich immer noch. Ich betrank mich sinnlos und hoffte, dass das Kind von alleine weggehen würde. Was es natürlich nicht tat. Ich war total fertig und dann sah ich irgendwann plötzlich dieses Messer und dachte, dass das die beste Lösung sei. Mein Kind hätte keine Mutter, die es nicht wollte, und mir würde ich auch den ganzen Scheiß ersparen. Aber dann, noch während das Blut aus der Wunde lief, wählte ich die Nummer vom Notarzt, der mich verband und dann in die Klapse einwies. Du siehst also, ich hab es nicht ernst genug gemeint. Schon als ich den Notruf wählte, war mir vollkommen klar, dass das, was ich getan hatte, richtig mies und scheiße gewesen war. Und, ich weiß auch nicht wie, aber plötzlich wollte ich dieses Kind. Mehr als alles andere auf der Welt.
In der Klapse durfte man keinen Besuch bekommen. Aber nachdem ich in den Lerchenhof kam, besuchten mich meine Eltern einmal. Ich hatte das Gefühl, sie schämten sich vor den Pflegern und den Ärzten dafür, dass ihre Tochter so etwas getan hatte. So was Beknacktes! Sie fragten mich nach dem Vater. Ich sagte ihnen, sein Name sei König Drosselbart und sie sollten mich in Ruhe lassen. Mein Vater sprach die ganze Zeit fast kein Wort. Er ließ nur durchblicken, dass er den Platz im Lerchenhof für mich organisiert hatte und bezahlte. Wahrscheinlich wollte er sich nicht nachsagen lassen, seiner Tochter nicht das Beste vom Besten bieten zu können. Oder was weiß ich. Und das ist alles, was ich dazu sagen kann.«
Nach dieser Beichte schwiegen wir eine Weile. Ich sah auf die verstopfte Autobahn. In einem Wagen vor uns stritten sich zwei Kinder. Man sah nur zwei schemenhafte Gestalten, die wild mit den Händen fuchtelten, wie in einem Schattentheater.
»Und hast du mit König Drosselbart mal drüber gesprochen?«
»Nein. Aber das ist auch nicht nötig. Ich werde das Kind alleine aufziehen. Außerdem bin ich mir ziemlich sicher, dass Drosselbart kein Interesse daran hätte.«
»Eine Frage noch: Warum nennst du ihn König Drosselbart?«
»Als ich noch klein war, hat meine Mutter mir immer dieses Märchen vorgelesen. Es geht da ja um eine Prinzessin, die verheiratet werden soll, aber sich über alle Männer lustig macht. Ihr Vater gibt sie dafür zur Strafe einem Bettler zur Frau, der sie die schwersten Arbeiten machen lässt. Am Ende stellt sich heraus, dass dieser Bettler König Drosselbart ist. Er hatte sich verkleidet, um sich dafür zu rächen, dass sich die Prinzessin über sein Aussehen lustig gemacht hatte. Sie sieht ihren Fehler ein und die beiden heiraten und werden glücklich und so weiter. Meine Mutter meinte immer, die Moral von der Geschichte sei, dass man die Leute so nehmen soll, wie sie sind. Und das wollte ich ihnen damit auch sagen. Wenigstens meine Mutter hätte das verstehen können. Von meinem Vater erwarte ich so was gar nicht. Aber sie hat’s auch nicht kapiert oder nicht kapieren wollen. Das ist das eine. Aber ich sag dir, warum ich dieses Märchen, trotz der patriarchalen Scheiße, die da abläuft, noch gerne mag.«
»Ich bin ganz Ohr.«
»Es will uns sagen, dass die Menschen häufig vorgeben zu sein, was sie gar nicht sind, dass wir alle Verstecken spielen und etwas zu verheimlichen haben, wie König Drosselbart, um sich zu rächen oder aus welchen Gründen auch immer.«
Ich fragte mich gerade, wie oft ich in meinem Leben Verstecken gespielt hatte, da meinte Jessy:
»Aber erzähl mal weiter. Du hast zum Beispiel noch nichts über Amadeus’ Eltern erzählt.«
Amadeus kam aus einer Industriellenfamilie. Sein Vater hatte sich unter den Nazis ein Firmenimperium errichtet und dabei natürlich Anteile von Juden für einen Spottpreis aufgekauft. Am Anfang sprachen wir häufiger über unsere Eltern. Er sagte so Sachen wie: »Diese ganze Generation gehört eigentlich weggesperrt.« Oder: »Ich habe beschlossen, meine Eltern auf meine Art und Weise zu bestrafen, da es ja sonst niemand tut. Ich werde Künstler und sie sollen für mich zahlen.«
Sein Vater war ein großer Mozart-Fan und er hatte sich gegen Amadeus Mutter bei der Namensgebung durchgesetzt (Amadeus: »Allein dafür gehört er schon bestraft!«).
Weihnachten kam. Ich besuchte meine Mutter. Sie wollte mit mir ins Weihnachtsoratorium, also tat ich ihr den Gefallen – nicht, dass es eine Alternative gegeben hätte. Sie duldete keinen Widerspruch und zahlte mir die Miete.
Halb Mainz schien zu der Aufführung gekommen zu sein. Im Publikum entdeckte ich Dr. Rickert, den Arzt von der Krebsstation aus dem Krankenhaus. Ich grüßte ihn und er nickte freundlich zurück. In der Pause unterhielt ich mich ein wenig mit ihm. Er machte auf mich einen guten Eindruck, schien seine Opiataffinität abgelegt zu haben. Was mir allerdings auffiel, war, dass er während der Pause ziemlich viel Alkohol trank. Meine Mutter kam dazu, ich stellte die beiden einander vor und wir plauderten eine Zeit lang zu dritt über Belanglosigkeiten.
Als die Aufführung weiterlief, beobachtete ich meine Mutter aus dem Augenwinkel und musste an Amadeus’ Worte denken. Ich versuchte, sie mir in einem Gefängnis vorzustellen, in Sträflingskleidung. Es war unmöglich. Sie würde versuchen, die anderen Gefangenen für sich arbeiten und sich bedienen zu lassen. Ich konnte sie mir einfach nicht ohne Anna, ihr Hausmädchen, vorstellen, die immer noch bei ihr war und sie wahrscheinlich bis zu ihrem Tod begleiten würde. Meine Mutter saß da, in ihrem Pelz und mit ihrem Schmuck, und schaute einem Stück zu, das vor über 200 Jahren geschrieben worden war und die immer wiederkehrende Geschichte von der Geburt Jesu erzählte. Ich muss dazu sagen, dass Bach mir nie besonders viel gegeben hat, er ist einfach zu perfekt. Glatt und ebenmäßig wie Marmor. Das war die Musik meiner Eltern. Etwas Neues musste her.
Zwischen Weihnachten und Silvester kam überraschend Professor Wagner vorbei. Er wollte uns nur einen kurzen Besuch abstatten und meiner Mutter von meinen Fortschritten beim Klavierspiel erzählen, sagte er. Aber eigentlich ging es ihm wohl eher um meine Mutter. Mit ihren einundfünfzig Jahren war sie immer noch eine sehr schöne Frau. Es war schon fast putzig mitanzusehen, wie dieser dicke kleine Hesse meiner Mutter den Hof machte. Sie hielt ihn auf Distanz, war aber höflich und respektvoll. Ich dachte damals, sie verwies ihn nicht des Hauses, um meine Ausbildung nicht zu gefährden.
Ich blieb bis nach Silvester in Mainz. An den ersten Januartagen des Jahres 1967 kehrte ich nach Frankfurt zurück. Amadeus schaute bei mir vorbei. Er hatte Aufnahmen von Pierre Boulez und Karl-Heinz Stockhausen dabei. Die Kompositionstechnik begeisterte uns beide, während wir immer betrunkener wurden.
Diese Abende kamen immer häufiger vor. Ich vernachlässigte mein eigentliches Studium, besuchte fast nur noch das Seminar von Oppermann. Im nächsten Semester wechselte ich mein Studienfach von Klavier und Gesang zu Komposition. Aus Pflichtbewusstsein besuchte ich weiterhin die Veranstaltungen von Professor Wagner. Ich begann, eigene Stücke zu komponieren, nach dem Vorbild Serieller Musik. Mit Amadeus traf ich mich weiterhin zu Besäufnissen, während wir über Kompositionstechniken sprachen. Meiner Mutter sagte ich nichts davon. Sie ließ in der Musik nur Bach und Brahms, vielleicht gerade noch Schubert und Mozart gelten. Ich hatte einmal gehört, wie sie über Neue Musik generell gesagt hatte, es höre sich an, »als würde man die Katze schlagen.«
Eines Abends, als Amadeus bei mir war, sagte er plötzlich: »Komm, wir gehen raus.«
Bisher waren wir fast immer bei mir gewesen und dort auch geblieben. Amadeus wohnte zur Untermiete bei einer alten Witwe, die sehr geräuschempfindlich war und mit Sicherheit ein Problem mit Musik gehabt hätte, die sich anhörte, »als würde man die Katze schlagen.«
Der Abend endete damit, dass wir in einer kleinen Kneipe landeten, in der ein einzelnes Piano stand. Betrunken setzte sich Amadeus daran und versuchte Boulez’ Structure ohne Noten zu spielen. In der Kneipe war eine Gruppe von jungen Studenten und Studentinnen, die konspirativ in einer Ecke zusammensaßen. Nachdem wir das Klavier in Beschlag genommen hatten, kam kurze Zeit später eine von ihnen zu uns und fragte, ob wir nicht etwas von Ernst Busch oder ein anderes Arbeiterlied spielen könnten. Ich setzte mich an das Instrument und begann die Seeräuber-Jenny zu spielen. Die Studentin sang dazu. Sie hatte eine schöne Alt-Stimme, dunkelblonde Haare und blaue Augen. Wir spielten noch weitere Lieder aus der Dreigroschenoper. Eine halbe Stunde später standen die Leute, bei denen sie gesessen hatte, neben dem Klavier und begannen, Die Internationale zu singen. Dem Wirt wurde es daraufhin zu viel und er schmiss uns alle raus. So lernte ich Lydia kennen.
Wir machten gerade unsere erste große Pause. Baden-Württemberg hatten wir hinter uns gelassen, aber der Stau hatte uns viel Zeit gekostet. Wir waren an einer Raststätte auf der A6 in der Nähe von Speyer. Es war schon nach zwölf Uhr. Ich stand an einer Ecke, rauchte eine Gauloises und wartete auf Jessy, die auf dem Klo war. Es war heiß. Der Parkplatz war voller Familien, die ihren Urlaub antraten und Richtung Norden fuhren. Ich musste an Clara, meine Tochter, denken und fragte mich, ob sie jetzt wohl mit ihrem Mann und den Kindern auch im Urlaub sei. Vielleicht befanden sie sich gerade auf einer Fähre nach Schweden, in einem Flieger nach Spanien oder irgendwo im Auto auf der Autobahn, genauso wie Jessy und ich. Ich schüttelte den Gedanken ab. Einige der älteren Urlauber schauten mich im Vorübergehen an und überlegten, ob sie mich kannten. Ich konnte es an ihren Gesichtern ablesen. Aber mehr als ein flüchtiger Gedanke war es nicht. Mein Bart und meine langen Haare hemmten sie, mich anzusprechen. Ich sah und sehe immer noch wie ein Althippie aus.
Viele Leute waren mit Wohnwagen unterwegs, was mich an meine eigene Zeit auf der Straße erinnerte. Das schien einem anderen Leben anzugehören. Clara war vier gewesen, als ich die Familie verlassen hatte. Nun war sie fünfunddreißig. Sie hat es mir nie verziehen.
Mein Freund Kurt Vechter hat einmal eine Geschichte geschrieben über ein Mädchen, das in einem Wohnwagen aufgewachsen ist. Ihre Eltern ziehen mit ihr von Stadt zu Stadt und unterrichten sie selbst. Aber schließlich kommen die Behörden ihnen auf die Schliche und das Jugendamt verfügt, dass das Mädchen zu einer Pflegefamilie kommt, in der sie ein normales Leben führt, alle Liebe bekommt, die sich ein Kind nur wünschen kann, und in eine öffentliche Schule gehen muss. Später, als sie erwachsen ist und schon einen Mann und Kinder hat, arbeitet sie als Sekretärin beim Jugendamt. Dort begegnet sie dem Beamten wieder, der damals ihren Fall bearbeitet und verfügt hatte, dass sie in einer normalen Familie aufwachsen sollte. Sie entführt diesen Mann und fährt mit ihm in einem gestohlenen Wohnmobil von Stadt zu Stadt. Als sie sich ihm zu erkennen gibt und er ihr sagt, dass er doch nur ihr Bestes gewollt habe und es Gesetze gebe, an die man sich halten müsse, antwortet sie: »Ich wollte doch nur ein normales Leben führen und mit meinen Eltern in einem Wohnwagen von Stadt zu Stadt ziehen. Mehr nicht.«
Meine Tochter hat recht, wenn sie mir meine eigene Wohnwagentour nicht verzeihen kann, dachte ich. Für Erwachsene gelten nicht die gleichen Rechte wie für Kinder. Wenn ein Vater so etwas tut, ist er ein verantwortungsloses Arschloch!
Während ich auf Jessy wartete, ließ ich meinen Blick über den Parkplatz schweifen und zuckte plötzlich zusammen. Dort stand der schwarze Facel Vega, der uns vom Lerchenhof aus gefolgt war, und etwas weiter sah ich den jüngeren der beiden Männer, der auf sein Smartphone blickte. Er schien auf seinen Begleiter zu warten und mich noch nicht entdeckt zu haben, wahrscheinlich weil der Parkplatz voller Urlauber war und er sich mehr für sein Smartphone interessierte als für die Leute. Ich verschwand schnell um die nächste Ecke und ging auf der anderen Seite der Raststätte bis zum Eingang, in dem Jessy verschwunden war. Da kam sie auch schon heraus. Ich hakte sie bei mir ein und drängte sie ohne viele Erklärungen Richtung Mercedes. Zuerst beschwerte sie sich lautstark, aber ihre Rufe gingen im allgemeinen Lärm unter. Wieder beim Auto erklärte ich ihr schnell alles.
»Ich wollte mir eigentlich was zu essen kaufen«, sagte sie.
»Das machen wir bei unserem nächsten Stopp. Wir fahren einfach bei der nächsten Raststätte wieder von der Autobahn.«
Als wir dort ankamen, gab es nur einen Burger King, aber wir fügten uns beide ins Unvermeidliche, da wir großen Hunger hatten. Während des Essens fragte Jessy mich:
»Warum glaubst du eigentlich, dass diese Typen hinter dir her sind?«
Ich sah sie an. »Warum? Denkst du, sie wollen etwas von dir?«
»Na ja. Das erscheint jetzt vielleicht etwas unwahrscheinlich, aber du kennst meinen Vater nicht. Er hat einmal einen Privatdetektiv angeheuert, weil er der festen Überzeugung war, dass meine Mutter fremdgeht. Das war allerdings bullshit. Der Detektiv hat nichts herausgefunden, da es nichts herauszufinden gab. Der Einzige, der mal fremdgegangen ist, war mein Vater, wie sich später herausgestellt hat. Aber das ist eine andere Geschichte. Ich glaube, es ist möglich, dass er mir Leute hinterherschickt, um herauszufinden, was ich weiter vorhabe. So wie ich ihn kenne, hat er den Schock überwunden und stellt schon Besitzansprüche auf sein Enkelkind.«
»Hmm, sag mal, ist das vielleicht der eigentliche Grund, warum du so scharf darauf bist, mit mir an die Nordsee zu kommen? Weil du dich ein wenig vor deinen Eltern verstecken willst?«
»Sagen wir mal, ich will eine Auszeit, um mir über verschiedene Dinge klarzuwerden und dazu ist das letzte, was ich brauche, mein Vater, der mir mit seinen Vorstellungen, wie ich mein Leben zu führen habe, im Nacken sitzt.«
»Wenn du das so sagst, klingt es irgendwie plausibel, dass diese Typen hinter dir her sind. Aber du sprichst da etwas an, was ich dich die ganze Zeit schon fragen wollte: In welchem Monat bist du eigentlich?«
»Im vierten. Wieso?«
»Ok. Und ist da alles in Ordnung?«
»Ja, ja. In der Klinik haben sie das regelmäßig überwacht. Da kam extra ein Gynäkologe. Vorher in der Klapse habe ich gleich gesagt, was los ist, damit sie die Medikamente so einstellen, dass dem Kind nichts passiert. Ich muss mich nur, sobald wir an der Nordsee sind, bei einem Frauenarzt melden.«
»Und willst du das Kind dann dort kriegen?«
»Das weiß ich noch nicht.«
»Ich meine nur, wenn das so ist, wäre es schön, wenn ich davon wüsste. Ich werde ja wahrscheinlich dann dein Mitbewohner sein.«
»Ich sag dir rechtzeitig Bescheid.«
Mehr war zu diesem Thema nicht aus ihr herauszukriegen. Nach dem Essen tankten wir und machten uns wieder auf den Weg. Eine Frau und ein Mann, der ihr Vater sein könnte, mehr als 550 km von ihrem Ziel, einem verlassenen Haus an der Nordseeküste, entfernt. Sie werden verfolgt von zwei Männern in einem Oldtimer, in dem Albert Camus umkam. Und sie bekommen ein Baby. Ist das nicht wunderbar?
Einer anderen Geschichte, die Kurt Vechter geschrieben hat, hat er den Titel Schund gegeben. Er sagte mir, er schrieb sie, nachdem er in Düsseldorf eine Ausstellung von Jeff Koons gesehen habe.
In der Geschichte geht es um einen jungen Mann, der unbedingt Künstler werden möchte. Bei allen avantgardistischen Ideen, die er hat, stellt er allerdings fest, dass sie bereits jemand anderes vor ihm gehabt hat. Es bringt ihn geradezu zur Verzweiflung. Also beginnt er, Collagen zu kleben, die er aus Zeitungsannoncen herstellt. Jede Annonce kündigt eine Veranstaltung an, bei der Menschen zusammenkommen: eine Kinovorstellung, ein Theaterstück, das Sommerfest einer Schule, Tanzveranstaltungen usw. Er stellt über hundert dieser Collagen her und schafft es tatsächlich, einen Galeristen zu überzeugen, sie auszustellen. Als ihn der Journalist eines Lokalblattes dazu interviewt, antwortet der Mann: »In der Kunst ist alles schon gemacht worden, also sollte man den Leuten zeigen, wo man sich amüsieren kann.«
Vor einem ähnlichen Problem standen auch Amadeus und ich. Die große Zeit der Seriellen Musik waren die Fünfziger gewesen. Die Auslotung der Parameter in der Musik. Nach Schönberg hatten die Seriellen Musiker sie weitergeführt und die Tonalität endgültig für obsolet erklärt. Sie hatten mit Räumen, der Zahl Pi und Fibonacci-Zahlen experimentiert. Was blieb also zu tun? Es sah nicht gut aus.
Eines Tages kam Amadeus zu mir und spielte mir ein Stück von György Ligeti vor. Lux Aeterna. Die Töne waren hier kaum noch unterscheidbar, ein einziger Klangteppich. Ligeti grenzte sich wiederum von Serieller Musik ab und erklärte sie für veraltet. Trotzdem machten wir weiter. Amadeus besuchte Seminare in Physik und versuchte, manche Formeln in Musik zu übertragen. Eines Tages zeigte ich Alfred Oppermann ein paar meiner eigenen Kompositionen. Der sagte, es seien schon ganz interessante Ansätze, aber es käme ihm alles irgendwie bekannt vor.
»Junger Mann, Sie kennen sicherlich Theodor W. Adorno, der hier in Frankfurt lehrt. Er hat bei Alban Berg in Wien studiert und auch eigene Stücke verfasst. Sie sind nicht schlecht, hören sich aber an, als kämen sie nicht von ihm, sondern von Berg. Avantgarde wiederholt sich nicht.«
Ganz ähnlich ging es Amadeus. Manchmal hatte ich das Gefühl, er suche irgendetwas, aber dass er das nicht in der Seriellen Musik fand. Er war übrigens im Gegenteil zu mir ein großer Bach-Verehrer. Einmal sagte er, dass Bach der eigentliche und einzige musikalische Avantgardist gewesen sei, der größte, der je gelebt habe.
Jessy fragte mich, ob ich ihr ein paar von meinen eigenen Stücken vorspielen könnte. Leider konnte ich das nicht. Ich habe alle meine eigenen Kompositionen aus der Zeit vernichtet oder verloren.
Stattdessen spielte mir Jessy Stücke von ihrem Laptop vor, zuerst Songs ihrer eigenen Band, der Paloma Pussies. Ich sagte ihr, dass ich die Sachen nicht schlecht finde, aber sehr viel komplizierter als Schlager seien sie auch nicht. Dann spielte sie mir etwas von einer Band namens Pere Ubu vor. Das erinnerte mich irgendwie an Ligeti, nur viel aggressiver.