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Erasmus: Manchmal liegt ein Spindoktor richtig*
ОглавлениеVor etwa 500 Jahren gab es eine bedeutsame Debatte zwischen Martin Luther und Desiderius Erasmus über Willensfreiheit. Luthers Text Assertio (Behauptung) von 1520 wurde erwidert von Erasmus’ Gespräch oder Unterredung über den freien Willen aus dem Jahre 1524, gefolgt wiederum von Luthers Vom unfreien Willen von 1525. Damals stand sie im Zentrum der intellektuellen Aufmerksamkeit in Europa, aber zu meiner Studienzeit gehörte sie nicht mehr zur Pflichtlektüre, und ich muss zugeben, im Laufe meiner Forschungen über den freien Willen habe ich sie nicht gelesen, bis vor kurzem, als ich eingeladen wurde, einen Aufsatz – diesen Aufsatz – über Erasmus zu schreiben. Für diese Einladung bin ich besonders dankbar, weil sie mir die Augen öffnete für einige unerwartete Parallelen zu einer Debatte zum selben Thema, in die ich zurzeit verwickelt bin und in der ich auf Erasmus’ Seite stehe, wenn auch unter ganz anderen Prämissen. Zu meiner Überraschung und Freude entdeckte ich, dass die Luther/Erasmus-Debatte, wenn ich sie mit einem halben Jahrtausend Abstand betrachte, meine Sicht auf die gegenwärtigen Auseinandersetzungen korrigiert und bereichert hat.
Luther argumentierte, wie Sie sich erinnern, lebhaft für die These, dass Menschen keinen freien Willen haben, ja gar nicht haben könnten, und dass sie daher auch keine Erlösung verdienten für irgendwelche guten Werke, die sie vollbracht haben, da alle ihre Taten letztlich durch Gottes Schöpfung bestimmt seien. Wir seien lediglich die Werkzeuge Gottes und sollten aus diesem Grunde für das, was wir tun, nicht gelobt oder belohnt werden. Erasmus beunruhigten diese Thesen zutiefst, die seiner Meinung nach menschliches Streben generell untergraben, so dass er kunstvoll eine Verteidigung der Willensfreiheit entwickelte, die sorgsam zwischen den verschiedenen durch die Heilige Schrift geschaffenen Hindernissen hindurchnavigierte, wobei er sich derjenigen Stellen in der Bibel bediente, die (nach seiner Interpretation) behaupteten oder darauf hinausliefen, dass wir einen freien Willen haben. Die Heilige Schrift war die einzige Autorität – abgesehen von der Vernunft selbst –, auf die sich Luther und Erasmus beriefen. (Die Wissenschaft war im Entstehen begriffen, aber noch lange nicht am Horizont sichtbar: Kopernikus machte astronomische Beobachtungen und sprach über seine Idee des Heliozentrismus, aber es sollte noch Jahrzehnte dauern, bis er seinen revolutionären Traktat Über die Umschwünge der himmlischen Kreise veröffentlichte. Wie Stephen Greenblatt in seinem brillanten Essay im New Yorker1 zeigt, hatte die Wiederentdeckung des antiken, aber erstaunlich modernen protowissenschaftlichen Gedichtes Über die Natur der Dinge von Lukrez im Jahre 1417 den epikureischen Atomismus wiederaufleben lassen, samt den zufälligen Abweichungen der Atome (atomic swerve), die uns angeblich einen freien Willen zugestehen. Diese subversiven Ideen fanden in den folgenden Jahrhunderten immer mehr Verbreitung, wurden jedoch ebenso schnell von der Kirche verurteilt und unterdrückt und werden in der Debatte zwischen Erasmus und Luther, die sicherlich beide mit ihnen vertraut waren, mit keinem Wort gewürdigt.)
Heutzutage erklären einige prominente Neurowissenschaftler und Psychologen sowie ein paar freimütige Physiker und Biologen den freien Willen zu einer Illusion, ähnlich wie Luther, und ich gehöre zu ihren Gegnern. Die Wissenschaft ist unsere einzige Autorität – abgesehen von der Vernunft selbst –, und die Heilige Schrift besitzt für die in Frage stehenden Themen nicht mehr Relevanz als Homers Odyssee. Beide Debatten betreffen zwar exakt dieselbe Frage – die Realität des freien Willens –, doch der Kontrast auf der Ebene der Methoden zwischen damals und heute ist sehr stark. Luther und Erasmus schwingen ihre ausgewählten biblischen Passagen, aber keiner von beiden kommt je auf die Idee, zu argumentieren, dass einige dieser Passagen schlicht falsch sein könnten; immerhin handelt es sich um die Bibel, so dass alles in ihr Enthaltene einfach für wahr gehalten werden muss. Der einzige Ausweg besteht darin, alternative Deutungen für diejenigen Passagen zu finden, die der eigenen Position Probleme bereiten. Die Auslegung einer Sammlung von Stellen zu einem Thema mag uns heute als interessante Übung erscheinen, aber es fällt schwer, sie als eigenständige Suche nach der Wahrheit über dieses Thema ernst zu nehmen, verglichen etwa mit einer Metaanalyse einer Reihe von empirischen Studien zu einem Thema, die eventuelle Vorurteile oder andere Defizite in dieser Forschungsliteratur aufdecken kann. Die meisten der heutigen Argumente für oder wider die Willensfreiheit, die sich auf Experimente berufen, in denen die Gehirne von Versuchspersonen auf die eine oder andere Weise untersucht werden, oder auf Studien, die statistische Muster im menschlichen Verhalten analysieren, standen Erasmus und Luther einfach nicht zur Verfügung. Nichtsdestotrotz wimmelt es von taktischen und rhetorischen Gemeinsamkeiten in diesen beiden Debatten. Beispielsweise betrachte ich, analog zu Erasmus’ Einwänden gegen Luthers krude Fehldeutungen der Bibelstellen, die Argumente der Wissenschaftler für den illusorischen Charakter der Willensfreiheit als grob vereinfachend, philosophisch naiv und letztlich unberechtigt angesichts der angeführten wissenschaftlichen Belege. Sowohl Erasmus als auch ich selbst benutzen einfache Gedankenexperimente – die ich Intuitionspumpen nenne –, um begriffliche Probleme in den von uns kritisierten Positionen aufzudecken.2 Manche dieser Wissenschaftler meinen, ihre angeblichen Entdeckungen würden etablierte repressive Ideen über den Haufen werfen und die Menschheit von der Tyrannei überholter Autoritäten befreien, so wie es auch Luther glaubte. Das weist Erasmus und mir die weniger ergreifende Rolle des Reformers zu, der einen faden Kompromiss verteidigt, der vieles von derjenigen Tradition erhalten möchte, die die Opposition umwälzen will. Diese Ähnlichkeiten sind aufschlussreich und etwas unbequem für mich, wie ich erklären werde, aber sie verblassen neben der festen Überzeugung, die Erasmus und ich teilen: Wir sind beide der Ansicht, dass die Lehrmeinung, der freie Wille sei eine Illusion, aller Wahrscheinlichkeit nach tiefgreifende, bedauerliche soziale Konsequenzen nach sich zieht, wenn sie nicht konsequent widerlegt wird.
Für mich bringt dies eine neue Herausforderung mit sich: Erasmus lag offenbar falsch mit seiner Vorhersage, dass in Luthers Position Unheil lauere. Werden sich meine Befürchtungen nicht als ebenso schwarzseherisch erweisen? Ich denke nicht, da unsere technologische Welt es uns erlaubt, uns Möglichkeiten auszudenken – und ernst zu nehmen –, die von keinem Angehörigen der Welt der Renaissance von Luther und Erasmus ernsthaft hätten in Erwägung gezogen werden können. Die Wissenschaft hat sich als viel eindrucksvollere Autorität erwiesen, als es die Bibel je sein könnte!
Ein Gedankenexperiment wird meine Bedenken verdeutlichen und uns helfen zu erkennen, inwiefern sich unser Dilemma von ihrem unterscheidet. Wir stehen am Anfang der neurochirurgischen und neuropharmakologischen Behandlung belastender psychischer Zustände. Um nur ein eindrucksvolles Beispiel dafür zu nennen, was uns bevorsteht: Tiefe Hirnstimulation durch implantierte Elektroden erweist sich als effektiv bei der Behandlung von Zwangsstörungen (OCD: obsessive compulsive disorder), wie die Pionierarbeit von Damiaan Denys in Amsterdam zeigt.3 Das ist ein wissenschaftliches Faktum, aber lassen Sie uns dieses für ein wenig Science Fiction benutzen:
Eines Tages sagte eine brillante Neurochirurgin zu ihrem Patienten, dem sie gerade in ihrem Hochglanz-Hightech-OP etwas implantiert hatte:
„Das Gerät, das ich Ihnen gerade implantiert habe, kontrolliert nicht nur Ihre Zwangsstörung; es kontrolliert alle Ihre Entscheidungen, dank unseres Hauptkontrollsystems, das per Funkkontakt mit Ihrem Mikrochip 24 Stunden am Tag kommuniziert. Mit anderen Worten, ich habe Ihren bewussten Willen ausgeschaltet; Ihr Gefühl, einen freien Willen zu haben, wird fortan eine Illusion sein.“
Tatsächlich hatte sie nichts dergleichen getan; es war lediglich eine Lüge, die sie ihm erzählte, um zu sehen, was passieren würde. Es funktionierte; der arme Geselle ging hinaus in die Welt, davon überzeugt, kein verantwortlicher Akteur, sondern bloß eine Marionette zu sein, und sein Verhalten begann dies zu belegen: Er wurde verantwortungslos, aggressiv, nachlässig, ließ seinen schlimmsten Launen freien Lauf, bis er gefasst und vor Gericht gestellt wurde. In seiner eigenen Verteidigung beteuerte er leidenschaftlich seine fehlende Verantwortlichkeit aufgrund des Implantats in seinem Gehirn: „Meine Neurochirurgin hat mich darüber informiert, dass sie von nun an all meine Gedanken kontrolliert.“ Die Neurochirurgin gab im Zeugenstand zu, diese Dinge gesagt zu haben: „Aber ich habe ihn nur ein bisschen durcheinanderbringen wollen – ein Schabernack, das ist alles. Ich habe nie gedacht, dass er mir glauben würde!“
An diesem Punkt könnte unsere Geschichte verschiedene Richtungen einschlagen. Der Richter könnte die Vorwürfe gegen den Angeklagten fallenlassen, die Aussage der Neurochirurgin anzweifeln und sie wegen Meineids anklagen oder erklären, dass sich die Frage der Verantwortung in diesem Falle nach dem Gesetz nicht aufklären lasse. Aber wie auch immer das Gericht Milderung oder Entlastung bemessen wird – wir können uns wohl darauf einigen, dass die Neurochirurgin das Leben ihres Patienten durch ihre unüberlegte Äußerung ruiniert, ihn seiner Integrität beraubt und seine Kraft, Entscheidungen zu fällen, gelähmt hat. In Wirklichkeit hat die falsche Nachbesprechung mit ihrem Patienten nichtchirurgisch genau das erreicht, was sie mit Hilfe des Eingriffs erreichen wollte: Sie hat ihn als moralischen Akteur unfähig gemacht. Aber wenn sie für diese schlimme Konsequenz verantwortlich wäre, besteht dann nicht die Gefahr, dass die Neurowissenschaftler, die derzeit mit Behauptungen die Medien füllen, ihre Forschungen belegten, dass der freie Wille eine Illusion sei, denselben Schaden massenhaft anrichten bei all jenen, die ihren Worten Glauben schenken? Wenn schon von Umweltbelastung die Rede ist: Neurowissenschaftler, Psychologen und Philosophen müssen ihre moralische Verpflichtung ernst nehmen und die Voraussetzungen und Implikationen ihrer öffentlichen Kommentare zu diesen unheilvollen Themen mit derselben Sorgfalt zu Ende denken, die wir von denjenigen verlangen, die sich zur globalen Erwärmung oder zu bevorstehenden Asteroideneinschlägen äußern. Ganz unabhängig davon, wie solide oder unsicher die Schlussfolgerungen sind, die die Wissenschaftler gezogen haben – da wir voraussehen können, dass zur Öffentlichkeit viele Menschen zählen, die ihre Aussagen missverstehen können, sollten die möglichen Effekte solchen Missverstehens einkalkuliert und bewertet werden. Der Schriftsteller und Sozialkritiker Tom Wolfe, um nur ein Beispiel zu nennen, hat auf ihre Ankündigungen – und die Wirkung, die diese auf die allgemeine Öffentlichkeit ausüben – in einem Essay mit dem Titel „Sorry, aber Ihre Seele ist soeben verstorben“ geantwortet.4 Hier ist seine Meinung:
„Die Schlussfolgerung, die die Menschen draußen, außerhalb der Laborwände, ziehen, lautet: Das ist doch eine abgekartete Sache! Wir sind alle verkabelt! Das – und: Beschuldigen Sie nicht mich! Ich bin falsch verkabelt!“
Falsch verkabelt? Wie wäre es dann, richtig verkabelt zu sein – oder haben die Wissenschaftler „herausgefunden“, dass in Sachen moralische Verantwortung keiner richtig verkabelt ist oder sein könnte?
Ich glaube, Erasmus hätte dieses Gedankenexperiment gefallen, da es auf so dramatische Weise sein eigenes Hauptanliegen illustriert: „Es gibt gewisse Dinge derart, daß es, auch wenn sie wahr wären und gewußt werden könnten, dennoch nicht förderlich wäre, sie gemeinen Ohren preiszugeben.“ Er erläutert:
„Ein wie großes Fenster würde diese Behauptung, wenn man sie im Volke bekanntmachte, unzähligen Sterblichen zur Gottlosigkeit öffnen, besonders bei der Sterblichen großen Trägheit, Gedankenlosigkeit, Bosheit und unverbesserlichen Geneigtheit zu jeder Art von Frevel? Welcher Schwache wird den ewigen und mühevollen Kampf gegen sein Fleisch weiterführen? Welcher Böse wird danach streben, sein Leben zu bessern?“5
Erasmus schreckt nicht vor der offenkundigen Schlussfolgerung zurück:
„Einiges ist aus sich heraus schädlich, weil es nicht geeignet ist, wie z.B. Wein für einen Fiebernden. Daher wäre es vielleicht erlaubt gewesen, solche Gegenstände in Unterredungen mit Gebildeten oder auch in den Theologieschulen zu behandeln, obwohl ich meinen möchte, daß es nicht einmal hier nütze, wenn es nicht maßvoll geschieht; im übrigen scheint mir, diese Art Theaterstücke vor einer gemeinen Menge aufzuführen, nicht nur unnütz, sondern geradezu verderblich.“6
Diese bemerkenswerte Passage verlangt zwei Bemerkungen: Erstens, verstrickt sich Erasmus hier nicht in einen pragmatischen Widerspruch, indem er einen Essay veröffentlicht, eine Unterredung gar, die die Empfehlung, über dieses Thema nur mit gedämpfter Stimme hinter verschlossenen Türen zu disputieren, jedermann preisgibt? (Eltern wissen, ein vor den Kindern ausgesprochenes „Psst! Nicht vor den Kindern!“ weckt mit Sicherheit deren Neugier auf das, wovor sie beschützt werden sollen.) Auf den ersten Blick scheint die Antwort Nein zu lauten, da die Streitschrift in lateinischer Sprache publiziert wurde, und des Lateinischen waren nur „die Studierten“ mächtig, ebendie Elite, der man zutraute, dass diese Themen innerhalb der theologischen Seminare verblieben. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass sowohl Erasmus als auch Luther berühmt waren und dass die allgemeine Öffentlichkeit, sogar die Analphabeten, ein großes Interesse an ihren Worten, wenn auch nicht wörtlich, so doch wenigstens der Sache nach, zeigte. Daher verschwindet der pragmatische Widerspruch nicht zur Gänze, und tatsächlich sah sich Erasmus einem unangenehmen Dilemma ausgesetzt: Sollte er Luther einfach ignorieren und hoffen, dass seine schädlichen Ideen irgendwann verblassen, oder sollte er ihn attackieren, auch wenn dies der Meinung seines Gegners zu noch größerer Bekanntheit verhelfen und ihr eine gehörige Portion Prestige zuerkennen würde? Im ersten Absatz bringt er seine Ambivalenz zum Ausdruck: Luthers Assertio von 1520 habe die strittige Frage nach dem freien Willen „in eher erhitzter Weise aufgegriffen“, und daher „werde auch ich, durch meine Freunde ermutigt, versuchen, durch die folgende kurze Diskussion, die Wahrheit ans Licht zu bringen“. In unseren Tagen befinden sich jene von uns, die wiederholt von den Ideologen des intelligenten Designs herausgefordert werden, in derselben Verlegenheit, wenn sie die Theorie der Evolution durch natürliche Auslese in der Öffentlichkeit verteidigen müssen. Wir weigern uns meistens und ermutigen auch andere dazu, da die kapitalkräftige PR-Maschine der Kreationisten jede so gelagerte Debatte – wie gründlich auch immer ihre Wortführer verdroschen werden – ausnahmslos als weiteren Beleg dafür verkauft, dass ihre Position es verdient, von Wissenschaftlern ernst genommen zu werden. Soweit ich es überblicken kann, ist unser Problem schwieriger als das von Erasmus, da Analphabetismus kein großes Problem mehr darstellt und die Propagandatechniken, dank der modernen Medien, garantiert jede schlechtgewählte, aus dem Kontext gerissene Phrase verstärken werden. Wissenschaftliche und philosophische Debatten hinter verschlossenen Türen sind heute fast unmöglich, so dass wir besser auf unsere Wortwahl aufpassen sollten.
Meine zweite Bemerkung lautet, dass diese Offenheit heutzutage eigentlich ein Segen ist, kein Fluch, wie unbequem sie auch manchmal sein mag. Denn Erasmus’ Empfehlung – und es war natürlich nicht bloß seine –, dass theologische Schulen eine Freistatt für Diskussionen sein sollten, die nicht für die Ohren der Massen „geeignet“ seien, wurde über die Jahrhunderte nur allzu gut befolgt, mit dem Ergebnis, dass es nun eine Tradition systematischer Scheinheiligkeit in allen christlichen Kirchen gibt, die das Verhältnis zwischen Geistlichen und Gemeindemitgliedern infiziert und dazu führt, dass viele Geistliche sich in einem Netz aus Unaufrichtigkeit und unverblümtem Lügen verfangen, das ihr Leben verschandelt.
In den Vereinigten Staaten beschließen nicht wenige junge Menschen mit guten Absichten, die in Gemeinden mit einer starken Tradition zum Kirchgang aufgewachsen sind – nicht nur im sogenannten Bibelgürtel –, dass der beste Weg, Gutes zu tun in dieser Welt, darin bestehe, dem Stand der Geistlichen beizutreten. Wenn sie dann in die Seminare kommen, sind sie oft schockiert, wenn sie eine anspruchsvolle Welt der Bibelexegese und theologischen Nuancen entdecken, von der man ihnen in der Sonntagsschule oder in den Predigten ihrer Pfarrer nie berichtet hat. Diejenigen, die ihren Lebensplan nicht abrupt über den Haufen werfen und den Klauen der Kirche entkommen wollen, finden sich recht bald wieder als Mitschuldige in einer Verschwörung der Doppelzüngigkeit – mit einer Reihe vorherrschender stillschweigender Annahmen im Inneren der Seminarräume und einer zweiten Art und Weise, sich zum Wohle der Kirchgänger auszudrücken. Sie bewältigen den Drahtseilakt zwischen Taktgefühl am äußersten unschuldigen und dreister Lüge am äußersten unredlichen Ende mit variierenden Graden von Anstand und innerer Bequemlichkeit, wobei sie sich manchmal selbst quälen mit dem Bewusstsein ihrer tiefen Arglist und gelegentlich auch erfolgreich Kokons aus Metaphern entwerfen (oft verbunden mit einem Schuss Selbsttäuschung), in denen sie den Widersprüchen ihrer Lebensarbeit entfliehen können.
Linda LaScola und ich haben systematisch und streng vertraulich über mehrere Jahre hinweg vom Glauben abgekommene Geistliche interviewt, und wir erfahren eine Menge darüber, wie unterschiedliche Pastoren, von den liberalsten bis zu den am strengsten am Buchstaben hängenden Konfessionen, mit der Unstimmigkeit zwischen dem, was ihre Kongregationen von ihnen hören wollen, und dem, was sie selbst glauben, umgehen.7 Das Fehlen einer klaren Trennlinie zwischen Diplomatie am einen Ende des Spektrums und krasser Verlogenheit und Heuchelei am anderen Ende stürzt die Pfarrer fast unweigerlich in beunruhigende Gewissensbisse. Wir, die wir keine Pastoren sind, können uns glücklich schätzen, dass wir nicht allzu häufig im Leben schwierige Entscheidungen zwischen Höflichkeit und Ehrlichkeit treffen müssen, und jeder, der einen ungläubigen Prediger, der dennoch auf der Kanzel bleibt, kurzerhand zu verurteilen bereit ist, sollte wie wir einen genauen Blick darauf werfen, wie sie in dieses entsetzliche Dilemma geraten sind. Es sind gute Menschen, die durch ihre eigene Güte gefangen sind.
Obwohl wir noch keine genaue Schätzung abgeben können, wie verbreitet dieses Phänomen ist – vermuten doch einige Geistliche, die wir befragt haben, dass die Mehrheit ihrer Kollegen ihre Situation teile, obwohl sie dies nicht sicher wissen können –, hat keiner der Religionsführer, die unsere erste Studie kommentiert haben, seine Überraschung über unsere Entdeckungen oder gar Skepsis ihnen gegenüber zum Ausdruck gebracht. Ein Ableger unserer Studie, The Clergy Project (clergyproject.org), wurde 2011 ins Leben gerufen, um eine vertrauliche Online-Gemeinschaft für amtierende und ehemalige Geistliche anzubieten, die nicht an das glauben, was sie auf Geheiß ihrer Kirchen aus der Liturgie lesen oder von der Kanzel herab bekennen sollen. Es gibt bereits Hunderte von Mitgliedern und eine Reihe von Kandidaten, die darauf warten, überprüft zu werden. Es verlangt Mut, sich dort einzureihen, und Vertrauen in die Sicherheit dieser Webseite, so dass neue Bewerber um die Mitgliedschaft einer sehr sorgfältigen Überprüfung unterworfen werden, um sicherzustellen, dass keine Betrüger Zugang erlangen.8
Je mehr ich über das Wesen dieser heimlichen Absonderung des klerikalen Verständnisses vom laienhaften Verständnis gelernt habe, umso dankbarer bin ich dafür, dass sich die Wissenschaft noch keiner vergleichbaren Vorgehensweise verschrieben hat, trotz einiger Ermunterungen eminenter Denker. Im Chor der Wissenschaftler und Philosophen, die heutzutage erklären, der freie Wille sei eine Illusion, folgen einige unabsichtlich Erasmus’ Vorbild, indem sie öffentlich erklären, dass Schritte unternommen werden sollten, um diese Tatsache von der öffentlichen Aufmerksamkeit fernzuhalten, scheinbar ohne die schon fast skurrile Diskrepanz zwischen ihrem Ziel und ihren Mitteln zu bemerken. James B. Miles9 hat, was sehr nützlich ist, einen beeindruckenden Kader dieser „Illusionisten“ zusammengestellt, und unter ihnen finden sich meine guten Freunde, die Psychologen Steven Pinker und Daniel Wegner aus Harvard sowie Marvin Minsky vom MIT.
Interessanterweise kommt die am besten durchdachte Version dieser Empfehlung von dem Philosophen Saul Smilansky,10 aber er war nicht sehr erfolgreich darin, andere Philosophen für seine Sache zu gewinnen:
„Die Menschheit täuscht sich zum Glück über den freien Willen, und dies scheint eine Voraussetzung zivilisierter Moralität und persönlicher Werte zu sein […] Wir müssen der Tatsache ins Auge sehen, dass es grundlegende Überzeugungen gibt, die aus moralischen Gründen nicht aufgegeben werden sollten, obwohl sie einander zerstören könnten oder sogar teilweise auf inkohärenten Konzeptionen beruhen. Zumindest bei der Mehrzahl der Menschen bedürfen diese Überzeugungen potenziell der motivierten Mediation und einer Abschottung durch Illusion, die von Wunschdenken bis hin zur Selbsttäuschung reicht.“
Der diesen Vorschlägen innewohnende Paternalismus ist auf atemberaubende Weise herablassend: Wir Erkennende können mit der Wahrheit umgehen, aber „die Mehrzahl der Menschen“ muss mit einer noblen Lüge eingelullt werden. Miles zitiert John Horgan, ehemals Redakteur beim Scientific American, aus einem Aufsatz auf der sehr einflussreichen Webseite Edge.org: „Die Wissenschaft hat zunehmend klargemacht (mir zumindest), dass der freie Wille eine Illusion ist. Aber er ist – noch mehr als Gott – eine prächtige und absolut notwendige Illusion.“ Doch anscheinend nicht absolut notwendig für Horgan.
Erasmus ist dieser Falle entkommen. Er stellt sich nie explizit der Frage, ob er Heuchelei befürworten würde, um die lebenserhaltende Illusion der Willensfreiheit aufrechtzuerhalten, da er argumentiert, dass der freie Wille keine Illusion sei. Die Willensfreiheit sei etwas Reales, und Erasmus kann das anhand seiner geschickten Interpretationen der Heiligen Schrift demonstrieren. Immerhin ist das das angekündigte Ziel seines Essays.
Aber trotz all seiner Cleverness – oder vielleicht gerade wegen all seiner Cleverness – erscheint mir das Ergebnis für unseren modernen Blick (zumindest für meinen) wie ein Paradebeispiel für einen „Spindoktor“ bei der Arbeit. (Der Verkehr auf dieser fünfhundert Jahre alten Brücke verläuft in beide Richtungen; als mich die anachronistische Überzeugung einmal überkommen hatte, dass Erasmus einer der Gründerväter der Spindoktor- Gilde war, konnte ich diesen Eindruck beim Lesen seines Textes nicht mehr ablegen.) Man bedenke, dass Luther und Erasmus darin übereinstimmen, dass die Bibel die einzige zugängliche Autorität darstellt; was kann Erasmus also sonst tun, außer diese Autorität, so gut er kann, nach brauchbaren Leckerbissen zu durchforsten, die seine These, die zu verteidigen er genötigt ist, stützen? Die Details sind interessant, aber bei den meisten handelt es sich um ausgeklügelte theologische Schachzüge, die für die heutige Diskussion kaum relevant sind. Meine Favoriten sind Erasmus’ rhetorische Fragen, wie zum Beispiel „Was aber haben die zahlreichen Prüfungen der Gebote für einen Sinn, wenn es niemandem in irgendeiner Hinsicht möglich ist, in seiner Hand zu bewahren, was geboten wurde?“,11 und Analogien:
„Hier hört man wieder das Wort ‚vorlegen‘, man hört das Wort ‚wählen‘, man hört das Wort ‚sich abwenden‘, die alle unpassend gesagt würden, wenn der Wille des Menschen nicht frei zum Guten wäre, sondern nur zum Bösen. Sonst wäre es genau so, wie wenn jemand einem Menschen, der so gefesselt ist, daß er seinen Arm nur nach links ausstrecken kann, sagte: Siehe, du hast zur Rechten besten Wein, du hast zur Linken Gift, strecke die Hand aus, nach welcher Seite du willst.“12
Luthers (Fehl-)Interpretationen der Bibelstellen erklärt er mit demselben Schwung weg, wobei er an den gesunden Menschenverstand des Lesers appelliert, aber am Ende auch ein wenig zu viel von seinem Ziel preisgibt:
„Warum, wird man sagen, wird dem freien Willen etwas zugestanden? Damit es etwas gibt, was den Gottlosen mit Recht angerechnet wird, die sich freiwillig der Gnade Gottes versagt haben, damit der Vorwurf der Grausamkeit und Ungerechtigkeit von Gott abgewendet werde, damit von uns die Verzweiflung abgewendet werde, und die Sorglosigkeit abgewendet werde, damit wir zum Bemühen angespornt werden. Aus diesen Gründen wird von fast allen der freie Wille behauptet.“13
Man beachte, dass dies alles Gründe dafür sind, zu behaupten, der Wille sei frei, aber nicht dafür, zu glauben, er sei es tatsächlich! Indem er die Hintergedanken seiner Kampagne so ehrlich offenlegt, untergräbt er sie, weist aber zugleich auf ein Problem hin, das uns auch heute umtreibt: Wie kann jemand ernsthaft – und glaubhaft – eine Kampagne anzetteln, um zu zeigen, dass die Willensfreiheit real ist, wenn doch „jeder weiß“, dass wir große Probleme bekommen, wenn sie es nicht ist?
Wenn mir Erasmus wie ein Spindoktor vorkommt, dann muss ich all jenen als Spindoktor erscheinen, die bisher von meinen sorgfältig durchgeführten Analysen der erstrebenswerten Arten von Willensfreiheit unbeeindruckt geblieben sind. Ich habe versucht zu zeigen, dass nichts, was wir in der Wissenschaft (der Autorität, die ich gemeinsam mit den Wissenschaftlern teile, die den freien Willen als Illusion ansehen) finden, irgendeinen Zweifel an der wichtigen Art von Willensfreiheit nährt, der Art, die der moralischen Verantwortung zugrunde liegt. Das platziert mich solide im Lager der Kompatibilisten, also derjenigen, die darauf beharren, dass die Willensfreiheit mit dem Determinismus vollkommen vereinbar sei – wie auch mit dem Indeterminismus! (Ich behaupte, dass die Willensfreiheit sich mit der modernen Physik, der Biologie und Psychologie in Übereinstimmung bringen lässt und dass sie keine wundersame Flucht aus der physikalischen Kausalität erfordert, so dass der Indeterminismus der Quantenphysik irrelevant ist.) Der Kompatibilismus hat eine lange Geschichte, die sich mindestens bis zu David Hume ins 18. Jahrhundert zurückverfolgen lässt, und ist wahrscheinlich die vorherrschende Position seit Alfred J. Ayers (wenn auch zu simpler) positivistischer Variante14 Mitte des letzten Jahrhunderts.
Der Kompatibilismus hat trotz seiner Popularität unter Philosophen stets Argwohn hervorgerufen. Kant nannte ihn bekanntermaßen eine „elende Täuschung“, und heutige Autoren äußern oft ihre Zweifel an der Aufrichtigkeit derjenigen, die ihn vertreten. Und so sollte es eigentlich auch sein. Die Wissenschaft lehrt uns, gerade bezüglich des Wunschdenkens besonders wachsam zu sein, und viele der Regeln wissenschaftlicher Forschung wurden speziell zu dem Zweck entworfen, uns davor zu schützen, auf unsere Hoffnungen hereinzufallen, wenn wir glauben, von der Evidenz überzeugt zu sein. Stellen Sie sich vor, einige Astronomen würden verkünden, dass ein gigantischer Asteroid in zehn Jahren auf unserem Planeten einschlagen werde, alles Leben auslöschend, woraufhin eine andere Gruppe von Astronomen erklärte, ihre erneute Analyse der Daten zeige, dass wir alle aufatmen könnten; der Asteroid werde die Erde knapp verfehlen. Gute Neuigkeiten, aber woher wissen wir, dass sie sich nicht selbst betrügen – oder uns nur mit einer liebevollen Lüge täuschen? Prüfen Sie genau ihre Berechnungen; versuchen Sie, unabhängig davon die Daten zu reproduzieren; akzeptieren Sie nicht einfach ihre Schlussfolgerung, nur weil sie keine offensichtlichen Fehler enthält und Ihnen entgegenkommt! Aber vergessen Sie ebenfalls niemals, dass sie recht haben könnten. Machen Sie nicht den Fehler und diskreditieren – auf der Basis „allgemeiner Prinzipien“ – etwas, das scheinbar „zu gut ist, um wahr zu sein“! Ist der Kompatibilismus zu gut, um wahr zu sein? Ich denke nicht; ich glaube, er ist wahr, und wir können gründlich und entschieden die Panikmacher zurückweisen und zugleich unser Verständnis dessen, was unsere moralische Verantwortung rechtfertigt, reformieren und überdenken.
Jedenfalls kann man feststellen, dass, trotz all ihrer Plausibilität zu jener Zeit, Erasmus’ Sorge, Luthers Zurückweisung der Willensfreiheit würde eine soziale Katastrophe nach sich ziehen, scheinbar mit der Zeit gewaltig abgemildert worden ist. Lutheraner und andere Protestanten, die – weil es ein religiöses Dogma ist – verkünden, dass der freie Wille eine Illusion sei, waren offenbar deshalb nicht nutzlos oder weniger unternehmungslustig, nicht wahr? Max Weber argumentiert in Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus bekanntermaßen, dass der Fleiß, der dem Erfolg des Kapitalismus zugrunde liege, selbst eine direkte Wirkung der Theologie von Luther und Calvin sei. Er führt gute Argumente an. Wie kann das sein? Wie haben die Theologen die Schwierigkeiten vermieden, die von Erasmus so anschaulich beschrieben wurden? Die Antwort ist kompliziert, und ihre Evaluation übersteigt meine Kompetenz als historisch gebildeter Wissenschaftler, beinhaltet sie doch eine Reihe feiner Unterscheidungen zwischen Arten von Vorbestimmung, Gnade, „Auserwählung“ und natürlich Erbsünde, aber es gibt eine kurze Antwort, die, so glaube ich, alle geistreiche Theologie abdeckt: Sie haben Wege gefunden, Luther darin zuzustimmen, dass der freie Wille eine Illusion sei – und dennoch an die Willensfreiheit unter anderen Beschreibungen geglaubt! Die Calvinisten zum Beispiel – zumindest viele von ihnen – widersprachen den Lutheranern gerade bezüglich der These, Willensfreiheit sei in all ihren Bedeutungen eine Illusion; sie waren Kompatibilisten.15 Gott konnte nicht nur alle unsere Entscheidungen vorhersehen, sondern sie gingen auch alle von ihm aus; nichtsdestotrotz hatte man immer noch eine Art Wahlfreiheit, eine wünschenswerte Art, die unserem Streben einen Sinn gibt.
Dies legt nahe, dass auch viele derjenigen, die heute auf der Basis der Autorität der Wissenschaft den freien Willen zur Illusion erklären, ebenfalls ihren Wetteinsatz absichern, ohne gleich ihre Position so … theologisch zu formulieren. Vielleicht glauben auch John Horgan, Steven Pinker, Daniel Wegner, Marvin Minsky (und Paul Davies, Jerry Coyne, Paul Bloom, Chris Frith und, ja, Stephen Hawking und sogar Albert Einstein), ohne es zu merken, an eine Art von Willensfreiheit, die ihnen durch den Tag hilft, ohne zu verzweifeln.16
Vielleicht sind sie ja doch unabsichtlich Kompatibilisten und akzeptieren einfach nicht, dass das, woran sie glauben, es ebenso verdient, Willensfreiheit genannt zu werden, wie die Variante, die sie als Illusion verwerfen. Manch andere gehören nicht zu diesem Lager, da sie, wie Luther, meinen, bewiesen zu haben, dass niemand Lob oder Tadel für seine Taten verdiene: Wolf Singer, Sam Harris, Joshua Greene und Jonathan Cohen zum Beispiel, aber auf den zweiten Blick vertreten auch sie nuancierte Ansichten.17
Lassen Sie uns zu meinem Gedankenexperiment mit der ruchlosen Neurochirurgin und ihrem unglückseligen Patienten zurückkehren. Es sollte die „illusionistischen“ Wissenschaftler schockieren und dazu bringen, über die Gefahr nachzudenken, dass sie der Gesellschaft ernsthaften Schaden zufügen. Vielleicht war es nicht fair; vielleicht sind die Ähnlichkeiten zwischen ihren Behauptungen und den skrupellosen Äußerungen der Neurochirurgin zu oberflächlich. Lassen Sie uns genauer hinschauen. Zunächst einmal hat die Neurochirurgin absichtlich gelogen, hat sich einen groben Scherz erlaubt, während die Illusionisten die Wahrheit sagen wollen. Das macht einen riesigen, aber keinen hinreichenden Unterschied. Wenn mein Gedankenexperiment von einer irregeführten Neurochirurgin gehandelt hätte, die ernsthaft davon überzeugt ist, die Entscheidungen ihres Patienten kontrollieren zu können, indem sie in ihrem Labor Hebel hin und her bewegt, wären ihre Aussagen immer noch bedauerlich und rechtlich gesehen sogar fahrlässig, sofern sie für ihre Überzeugungen keine gute Evidenz vorweisen kann. Unsere Illusionisten sollten sich also dennoch über die Aussicht Gedanken machen, dass sie mit ihren Ankündigungen vorschnell gehandelt und voreilige Schlüsse gezogen haben aus dem, was ihre Wissenschaft tatsächlich zeigt, und zwar speziell angesichts der möglichen düsteren Folgen für diejenigen, die ihnen glauben.
In der Tat waren sie vorschnell, da sie die Bedeutung eines Details in der Geschichte der Neurochirurgin übersehen oder unterschätzt haben, das kein Gegenstück in der wissenschaftlichen Fundierung ihrer Überzeugung hat: Auf schockierende Weise schädlich an ihrer Aussage war weniger der Teil darüber, dass das Gefühl des Patienten, sein Wille sei frei, eine Illusion sei, sondern ihre spezifischere Behauptung, dass sie selbst seine Entscheidungen kontrolliere. Aus diesem Grund wäre er – wenn sie die Wahrheit gesagt hätte – tatsächlich kein moralisch verantwortlicher Akteur mehr gewesen: Seine Agentenschaft wäre von der Agentenschaft einer anderen Person usurpiert worden.
Wir kümmern uns alle zu Recht darum, unsere Integrität als Entscheider aufrechtzuerhalten, damit wir für die Handlungen, die unser Körper ausführt, verantwortlich sein können – mit anderen Worten, damit wir keine Marionetten sind, deren Handlungen unter der Kontrolle eines anderen stehen. Viele philosophische Gedankenexperimente zur Willensfreiheit setzen genau einen solchen Puppenspieler (oder eine ruchlose Neurochirurgin) voraus, der (oder die) heimlich jemanden so verdrahtet hat, dass er seine (oder ihre) Befehle ausführt. Womöglich ist die Moral all dieser Schauergeschichten folgende: Selbst dann, wenn es keinen eigentlichen Puppenspieler gibt, zeigt die Tatsache, dass unser Verhalten von verschiedenen Merkmalen unserer Umgebung verursacht wird, die von unserem Wahrnehmungsapparat und im Gehirn verarbeitet werden, dass es genauso gut einen Puppenspieler geben könnte. (Die Umschlaggestaltung von Sam Harris’ kleinem Buch Free Will18 zeigt eine Menge Marionettenfäden.) Aber dieses Fazit ist ein klarer Fehlschluss. Wenn die „Kontrolle“ durch Ihre Umgebung Ihr gut funktionierendes Wahrnehmungssystem und ihr gesundes Gehirn durchläuft, gibt es nichts zu befürchten; es ist doch nichts wünschenswerter, als durch die Dinge und Ereignisse um uns herum veranlasst zu werden, wahre Überzeugungen über sie zu generieren, deren wir uns dann bei der Modulierung unseres Verhaltens zu unserem Vorteil bedienen können! Photonen, die in meinen Augen ein Abbild der Luftbläschen im Watt erzeugen, bringen mich wahrscheinlich dazu, nach meinem Muschelrechen und einem Korb zu greifen und anzufangen zu graben. Wenn dies ein Fall ist, in dem ich von meiner Umgebung kontrolliert werde, dann bin ich sehr dafür. Und wie die meisten Menschen fühle ich mich nicht bedroht oder manipuliert, wenn meine Freunde mir kostspielige Mahlzeiten anbieten in der vollen Gewissheit, dass ich außerstande sein werde, der Versuchung zu widerstehen, sie zu essen.
Wir können den Unterschied zwischen der alltäglichen Welt und einer Welt voller lauernder geheimer Akteure (oder Puppenspieler) klarer sehen, wenn wir ihn schrittweise aufbauen.
Fall 1
Mein Arzt, den ich sehr gut kenne und dem ich vertraue, rät mir, zum Frühstück Kleieflocken zu essen, weil dies der beste Weg sei, meinen Cholesterinwert zu senken. Diese audiovisuelle Erfahrung bewirkt, dass ich zum Supermarkt laufe und mir Kleieflocken kaufe.
Fall 2
Im Supermarkt entscheide ich mich, neue Frühstücksflocken auszuprobieren. Obwohl ich noch nie von Kleieflocken gehört habe, nehme ich eine Packung aus dem Regal und lese mir sorgfältig alle Informationen darauf über ihren Nährwert und pikanten Geschmack durch (in Gelb hervorgehoben). Da ich sehe, dass sie – dem Namen nach – von einer angesehenen Firma hergestellt werden, die für ihre Ehrlichkeit bekannt ist, entscheide ich mich, der Information zu vertrauen. Ich kaufe eine Packung Kleieflocken.
Fall 3
Im Supermarkt entdecke ich im Regal eine Packung Kleieflocken mit einem reizenden Foto von Cameron Diaz darauf. Ich kaufe die Packung.
Fall 4
Im Supermarkt nähere ich mich einer Packung Kleieflocken, die einen versteckten Mikrochip-Sender enthält, der den Nucleus accumbens in meinem Gehirn optimiert. Ich kaufe eine Packung Kleieflocken.
In jedem dieser Fälle verursachen einige Merkmale der Umgebung und ihre Reizung meines Nervensystems, dass ich eine Packung Kleieflocken kaufe. Darüber hinaus gibt es in jedem Fall den Versuch, meine Wahl durch andere Akteure zu beeinflussen. Aber während die ersten beiden Fälle offen meine Rationalität ausnutzen und mir Gründe dafür liefern, warum ich den Kauf tätigen sollte, umgehen die nächsten beiden erfolgreich meine Rationalität. Fall 3 mag ernsthaft manipulativ sein bei einer sehr naiven und behüteten Person, aber ich bin kein Hinterwäldler; ich weiß alles darüber, wie die Firmen Sexappeal benutzen, um ihre Sachen zu verkaufen, und so entscheide ich mich in Fall 3 dazu, dem nachzugeben, sozusagen als Belohnung für den guten Geschmack, den die Firma bewiesen hat! Der Hauptunterschied zwischen den Fällen 3 und 4 besteht darin, dass ich in Fall 4 nicht die leiseste Ahnung habe, dass überhaupt ein Manipulationsversuch stattfindet. Bedenken Sie: Sollten solche Mikrochip-Verführer die Welt verseuchen, werden wir uns alle nach Gegenmaßnahmen umsehen, nach Geräten, die die geheimen Verführer entdecken und entwaffnen, damit wir unsere Integrität als rational Handelnde aufrechterhalten können. Es gibt – und das war schon immer so – ein Wettrüsten zwischen Verführern und ihrer Zielgruppe oder den Opfern, die sie im Visier haben, und die volkstümlichen Überlieferungen sind voll von Geschichten über Unschuldige, die auf die Schmeicheleien von Überredungskünstlern hereingefallen sind. Diese Überlieferungen sind Teil der Verteidigungsstrategie, die wir an unsere Kinder weitergeben, so dass sie sich davor wappnen können. Wir wollen nicht, dass unsere Kinder zu Marionetten werden! Wenn die Hirnforscher uns erzählen, dass das nichts bringe – weil wir bereits Marionetten seien, die von der Umgebung kontrolliert werden –, dann machen sie einen großen Fehler und richten möglicherweise Schaden an.
Zauberkünstler wissen, wie sie Sie mit „psychischer Kraft“ dazu bringen, („aus freiem Entschluss“) genau die Karte vom Stapel zu nehmen, die Sie nehmen sollen. Es gibt viele Methoden, alle subtil und schwer zu erkennen, und ein wirklich guter Zauberkünstler schafft es meistens. Dies ist eine echte Beschneidung Ihrer Agentenschaft, eine Manipulation, die Sie zu einem Werkzeug macht, einem Pfand, einer Verlängerung des Willens des Magiers, nicht zu einem freien Akteur. Ist die Welt demnach bloß ein allumfassender Zauberkünstler, der auf psychischem Wege alle unsere Entscheidungen erwirkt? Das scheinen die „illusionistischen“ Wissenschaftler zu sagen, aber es ist Nonsens. Es braucht echtes Können, um psychische Kräfte auszuüben, und tollpatschige Versuche sind leicht zu entdecken und zu entwaffnen. Wenn Sie eine Karte aus dem Stapel eines Zauberkünstlers nehmen, sollten Sie über die Aussicht informiert sein, dass Ihre Wahl erzwungen wurde, aber wenn Sie eine Muschelschale am Strand aufheben, müssen Sie sich nicht sorgen (außer in bizarren, aber vorstellbaren Szenarien), dass irgendein Akteur Sie manipuliert. Natürlich muss an der Muschel etwas dran sein, das Sie dazu bringt, diese statt einer anderen aufzulesen, na und? Entweder gibt es einen speziellen Grund (Sie suchen nach bläulichen Muscheln, die genau so aussehen, oder diese ist ganz besonders schön, oder sie eignet sich gut als Aschenbecher für Ihre Zigarre), oder es gibt keinen besonderen Grund, und Sie haben es dem Zufall überlassen, für Sie die Wahl zu treffen, was völlig rational ist, wenn Sie bloß eine Muschel haben wollen, aber keine bestimmte. In keinem dieser Fälle ist Ihr Gefühl, dass Sie sich frei entscheiden – in dem Sinne, auf den es ankommt – gefährdet.
Was wir alle wollen, und wollen sollten, ist, dass unsere Handlungen immer auf der Basis guter Information über die besten uns zur Verfügung stehenden Handlungsmöglichkeiten erfolgen. Wenn die Umgebung doch nur herbeiführen würde, dass wir eine ganze Menge zeitgemäßer und relevanter Überzeugungen darüber haben, was um uns herum los ist, und wenn sie doch nur verursachen würde, dass wir immer auf der Basis der vernünftigsten uns möglichen Bewertung der Evidenz handeln! Das würde uns fast alles geben, was wir als Akteure wollen – bis auf Folgendes: Wir würden nicht wollen, dass die Umgebung unsere besten Züge für die anderen Akteure allzu offensichtlich erkennbar macht. Denn dann können sie uns ausnutzen, da sie zu viel darüber wissen, was wir wollen und wie sehr wir es wollen. Also fügen wir der Wunschliste die Fähigkeit hinzu, unsere Gedanken und Entscheidungsprozesse für uns behalten zu können, auch wenn das bedeutet, dass wir hin und wieder nur die zweitbeste Wahl treffen, nur um die anderen fernzuhalten.19 Es gibt eine Menge Belege dafür, dass die Evolution uns mit genau diesen wunderbaren Fähigkeiten ausgestattet hat, nicht perfektioniert natürlich, aber immerhin so gut, dass man sich im Allgemeinen darauf verlassen kann, dass wir verantwortungsvoll handeln und daher billigerweise auch für unsere Handlungen verantwortlich gemacht werden können.
Nichts von dem, was wir von den Neurowissenschaften lernen, gefährdet diese Art Willensfreiheit. Ja, wir haben erfahren, dass Hirnforscher unter sehr anspruchsvollen Bedingungen manchmal „vorhersagen“ können, welche „zufällige“ Wahl wir ein paar Sekunden später treffen werden. Das hat praktische Folgen, die wir uns zu Herzen nehmen sollten: Spielen Sie mit niemandem Schere, Stein, Papier um Geld, wenn Sie in einem Kernspintomographen liegen!20 Die Tatsache, dass unsere Entscheidungen Ereignisse in unserem Gehirn darstellen, die von vorhergehenden Ereignissen in unserem Gehirn verursacht werden, die wiederum von ihnen vorhergehenden Ereignissen im Gehirn hervorgebracht werden, und selbst die Tatsache, dass diese Ereignisse „prinzipiell“ vorhersagbar sind, auch wenn dies praktisch noch nicht möglich ist – beides hat einfach nicht zur Konsequenz, dass unser freier Wille eine Illusion ist, es sei denn, Sie definieren Willensfreiheit so, dass dies trivialerweise daraus folgt. Aber dann liegt die Beweislast bei Ihnen, zu zeigen, warum Willensfreiheit, so definiert, irgendjemanden interessieren sollte außer Theologen und Philosophen, die zu viel Zeit haben.
Nun noch eine weitere Reise über die fünfhundert Jahre alte Brücke: Die Theologen zu Erasmus’ Zeit machten sich Sorgen über Gottes Vorherwissen und Seine Macht (wenn Er sie nutzte), die Entscheidungsfindungen Seiner Kreaturen zu manipulieren. Wie das praktisch vonstatten gehen sollte, blieb natürlich ein Rätsel, ein bequemes Geheimnis, weil es den Theologen erlaubte, alle möglichen subtilen Unterscheidungen zu erfinden, die – wie sie mit einem gehörigen Grad an Überzeugungskraft behaupten konnten – die Rolle des selbstverantwortlich Entscheidungen treffenden Menschen nicht völlig aufsogen. Diesen theologischen Luxus haben wir nicht mehr; wir gehen den neuronalen Mechanismen auf den Grund, auf denen menschliche Entscheidungsprozesse beruhen, und die Standards für die wissenschaftliche Argumentation sind erheblich anspruchsvoller als in der Theologie, wo man die Regeln mehr oder weniger selbst erfinden kann, während man fortschreitet. Als Luther behauptete, dass Gott unseren Willen kontrolliere, gab es prinzipiell keine Möglichkeit, dies empirisch zu testen, eine Tatsache, die Luthers Behauptung vor der Falsifikation schützte, es aber auch seinen Nachfolgern leichtmachte, ihm seine Schlussfolgerung zuzugestehen und gleichwohl davon überzeugt zu sein, dass sie in Wirklichkeit ihren Willen selbst kontrollierten. Wer vermochte das schon zu entscheiden? Ganz im Gegensatz dazu können Sie, wenn unsere Neurochirurgin Ihnen sagt, sie kontrolliere Ihren Willen, sie einfach entschlossen widerlegen – wenn Sie nicht zu sehr von ihrem weißen Arztkittel und ihren extravaganten Apparaturen beeindruckt sind –, und sollte sie Recht behalten, tun Sie natürlich gut daran, zu hoffen, dass ein paar gute Freunde Sie ihren Klauen entreißen. Aber bis dieser vorstellbare, logisch mögliche, doch außerordentlich unwahrscheinliche Zustand der Neurotechnologie eingetreten ist, können Sie ziemlich sicher sein, dass Ihr freier Wille ganz und gar keine Illusion ist.
2012 Erasmus Prize Lecture, reprinted with the kind permission from the Praemium Erasmianum Foundation