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Rue Duval

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Es beginnt in Paris. Der Ermittler geht halb nackt durchs Zimmer und greift zum Telefon. Der Anruf kommt aus Hamburg, vom Chefredaktor von Das Blatt. Es ist der 22. September 1977, wir befinden uns in einer kleinen Dachwohnung im Marais, Rue Duval 7. Miete siebzig Franken im Monat.

Das Gespräch dauert eine gute Viertelstunde.

Im Zimmer findet man ein großes, zerwühltes Bett, eine zweite Matratze voller Bücher und Kleider, ein Tisch mit der Schreibmaschine, lose Blätter, ein Schaukelstuhl, ein Spülbecken mit schmutzigem Geschirr, ein zerbrochener Spiegel, eine Elektroherdplatte, zwei angebrochene Tetra-Pak-Milchtüten in Pyramidenform, nackte Glühbirnen, davon eine über dem Kissen, wo der Ermittler und Flavia nach dem Sex noch ein bisschen geturtelt haben. Sie ist dreiundzwanzig, schönes Gesicht, große Augen, ihr Mund ist, wie beim Vater, etwas zu klein geraten. In Paris will sie ihre Karriere als Schauspielerin vorantreiben. Träge, aber bestimmt zieht sie eine Parisienne aus der Packung, knipst ihr Feuerzeug an. Bläst den Rauch durch die Nase aus.

Der Ermittler, in knapper Unterhose, kehrt zu ihr ins Bett zurück. Sie fragt: Worum geht’s? Und er antwor­tet: Wusstest du, dass dein Vater den Bundespräsidenten und den Vize-Kanzler der Bundesrepublik Deutschland empfängt? Sie meint, dies gehöre zu seinen Aufgaben. Er sei ja für ein Jahr Schweizer Bundespräsident. Der Er­­mittler sagt, er wisse es, aber jetzt, wo sie Schleyer entführt hätten …

Tatsächlich ist die Großwetterlage düster. Die Bun­desrepublik sucht flächendeckend nach den Entführern von Hanns Martin Schleyer, dem seit siebzehn Tagen spurlos verschwundenen Arbeitgeberboss. Krisenstäbe in sämtlichen Ministerien, hunderte Hausdurchsu­chungen, tausende Identitätskontrollen, verriegelte Grenzen, um den Gefangenen des linksextre­men Kommandos ausfindig zu machen, das diesen nur gegen elf seiner in deutschen Gefängnissen schmorenden oder gar gefolterten Mitglieder freilassen will.

Der Ermittler hat, Flavia weiß es, für das Opfer nur ge­ringen Respekt. Ab 1931 zuerst Mitglied der Hitlerjugend, dann der SS, Aufstieg vom SS-Untersturmfüh­rer bis zum SS-Hauptsturmführer. In der von Deutschland besetzten Tschechoslowakei leitet Schleyer den Zentralverband für Industrie in Böhmen und Mähren, ist dort mitverantwortlich für die Rekrutierung von Zwangsarbeitern. Nach dem Krieg geht er zu Daimler-Benz, erklimmt alle Karrieresprossen bis in den Aufsichtsrat und wird schließlich Präsident des Deutschen Arbeitgeberverbandes. Seine Entführung hat seinen Chauffeur, seinen Bodyguard und zwei Polizisten das Leben gekostet. Wie kommt es, dass in dieser aufge­la­denen Stimmung, im hysterischen Kontext einer Terro­ristenjagd, der Besuch eines Staatsoberhauptes ins befreundete Nachbarland Schweiz – eine reine Formalität – nicht verschoben wird?

Das Blatt, sagt der Ermittler weiter, verdächtigt deinen Vater des Doppelspiels. Worauf Flavia bemerkt: Seit du seiner Tochter nachstellst, lässt dir mein Vater keine Ruhe.

Das hätte sie besser nicht gesagt. Der am Bettrand sitzende Ermittler schleudert ein Kissen quer durchs Zimmer: Wenn mir mein Kumpel Martin, Attaché der Schweizer Botschaft in der Rue de Grenelle, sagt, dass zwei extra aus Bern angereiste Bullen mich beschatten sollen, wer soll sie denn geschickt haben, wenn nicht dein Papa Bundesrat, Polizei- wie Justizminister? Rü­­cken die mir nicht deshalb auf die Pelle, weil seine Tochter bei mir schläft? Ich habe sie beim Telefonieren durchs Fenster gesehen, die beiden Typen, graue Trenchcoats, schwarzer Regenschirm! Die haben sich vor dem Bistro schon in Stellung gebracht. Solche Berner Witzfiguren erkenne ich schon von Weitem.

Auch Flavia findet es skandalös, fragt aber: Was wollte Das Blatt von dir? Der Ermittler lässt sich, seines Effekts sicher, etwas bitten: Stell dir vor, die geben mir einen fetten Vorschuss für eine ganze Artikelserie, du siehst, die wissen halt, was ich wert bin. Flavia antwortet mit einem ironischen Lächeln.

Der Ermittler ist siebenunddreißig, er sieht aus wie ein Rugbyspieler, geboren Anfang des Zweiten Weltkriegs in St. Gallen, die Familie ist kinderreich, katholisch, kleinbürgerlich. Seine Mutter liebt ihn und wird ihn immer hartnäckig verteidigen. Er besucht die Klos­terschule, dann weg nach New York, Zürich und Paris, dort Studium der Romanistik mit Schwerpunkt Ge­­schichte. Journalist beim Zürcher Tages-Anzeiger bis letz­­tes Jahr. Spezialität: Reportagen auf literarischem Niveau. Methode: Er besucht die Protagonisten, be­­fragt sie, unterstützt sie, wenn sie sich nicht ausdrü­cken können, provoziert, falls es ihnen zu leichtfällt. Es entstehen einmalige Porträts: Über einen Automo­bilrennfahrer, den Gatten einer Bundesrätin, den französischen Präsidentschaftskandidaten Mitterrand, einen Großindustriellen, einen Alphirten, einen Botschafter … Wer ihn liest, muss regelmäßig schmunzeln. Wie er von der Welt erzählt, mag auf den ersten Blick oberflächlich wirken, aber es bringt die Tiefgrün­digkeit ans Licht. Seine Sprache ist nie dogmatisch, al­­lerhöchstens engagiert, sie spielt mit den Wörtern, um deren Mehrdeutigkeit freizulegen, und wird der Strich auch mal forciert, geht es darum, dem Leser ein Lächeln zu entlocken. Er wühlt und gräbt nach der Wahrheit, die er sich gerne komplex vorstellt. Seinen Kollegen gilt sein Stil als Vorbild. Meienbergeln. Viele wollen es ihm nachtun, doch er bleibt einzigartig. Ständig wirft er ihnen vor, saftlos zu schreiben, die Sprache nicht zu packen, sie nicht zum Klingen zu bringen: «Welcher Aufstand, welche Entwicklung er­­eignet sich in eurem Stil? Das Vergnügen am Text oder gar nichts.»

Doch seit einem Jahr plagen den Ermittler Sorgen. Er hat über den Prinzen von Lichtenstein einen Artikel geschrieben, der dem Fürsten missfallen hat. Dessen Beschwerde beim Besitzer der Zeitung führt zur Entlassung ihres besten Journalisten. Seither ist sein Vertrauen bei der Schweizer Presse angeschlagen. Er ist deshalb sichtlich stolz, von der renommierten Hamburger Zeitung Das Blatt angeheuert zu werden, ohne dafür den Finger zu rühren, und eine Artikelreihe über die Geschichte der Beziehungen zwischen Deutschland und der Schweiz schreiben zu dürfen.

– Die wollen, dass ich mehrere Folgen über diesen Staatsbesuch schreibe. Ich weiß genau, was ich ihnen liefern werde. Ich werde vom Zweiten Weltkrieg be­­rich­ten, von der Pseudoneutralität der Schweiz, den Schweizer Banken und den herrenlosen jüdischen Vermögen. Ich bringe den Kalten Krieg und am Schluss ein Interview mit deinem Vater. Herr Bundesrat und Präsident der Eidgenossenschaft, was macht das mit Ihnen, dem Deutschen Vizekanzler, der mit siebzehn in der NSDAP war und als Soldat 1945 in Berlin den Bunker Hitlers verteidigte, die Hand zu schütteln?

– Du weißt doch, sagt Flavia, dass mein Vater sich von dir nicht interviewen lässt.

– Außer ich bringe schlagkräftige Argumente. Der Unterhändler zwischen Schleyers Entführern und der deutschen Regierung ist ein Anwalt aus Genf. Denis Payot, 35-jährig, ist Präsident der Schweizerischen Liga für Menschenrechte und genießt das Vertrauen der Geiselnehmer. Dein Vater ist da nicht involviert und schiebt vor, die Schweiz würde ihre Guten Dienste spielen lassen. Das Blatt hat die mit einer Sperrfrist belegte Rede eingesehen, die er beim Empfang der deutschen Delegation am Flughafen halten will. Da kommt der Satz vor: «Wer würde sich, zusammen mit der Familie des Entführten, nicht wünschen, dass die Tötungsse­rie aufhöre?» Dein Vater tut also, als gehöre er wie die Fa­­milie zu denen, die Verhandlungen mit den Geiselneh­mern wollen. Er weiß, dass ihn die Deutschen um poli­zeiliche Unterstützung bitten werden, um Payot und sein Umfeld eng zu überwachen. Dein Vater wird mit alten Nazis zusammenarbeiten.

– Du spinnst völlig.

– Ich schicke dem Blatt heute Abend schon mal einen ersten Artikel. Und freue mich schon auf die roten Köp­fe bei den Schweizer Zeitungen, die mir das Schreiben verboten haben, kannst du mir folgen, Lydia?

Er nennt sie spaßeshalber Lydia, weil sich vor hundert Jahren ein junger und talentierter Schweizer Maler in die hübsche, Lydia genannte Schwiegertochter des Schweizer Bundespräsidenten verliebt hatte. Der Er­­mittler liebt dieses Spielchen: Lydia, die Tochter des jetzigen Schweizer Bundespräsidenten. So wird er selbst zum verfemten Künstler, den die Staatsgewalt verfolgt und zu brechen versucht und der sich mit einer romantischen Tat unsterblich macht. Er ist ein großer, von seiner Landesregierung drangsalierter Künstler, eine zukünftige Legende.

Flavia lässt diese Inszenierung inzwischen eher kalt. Sie zieht den Melancholiker dem Choleriker vor. Oder weit schlimmer, dem, der in Solothurn ein paar Tage zu­­vor einen Schriftstellerkollegen mit den Worten an­­gesprochen hatte: Schau, wen ich mir da geangelt habe? Das ist die Tochter des Bundesrats, hättest du mir das zugetraut! In solchen Momenten schämt sich Flavia, an seiner Seite zu stehen.

Als ihr Vater vor fünf Jahren in die Landesregierung gewählt wurde, zog die Familie mit den drei jüngeren Töchtern nach Bern. Jetzt behauptet Flavia, frei zu sein, obwohl ihr Studium von den Eltern finanziert wird. Sie fotografiert ein bisschen, platziert ihre Bilder ab und zu in Zeitschriften. Statt sie immer auf ihre Familienge­schichte zu reduzieren, sagt sie, würde der Ermittler gut daran tun, für sie eine kleine, einträgliche Reportage zu finden. Sie könnte zum Beispiel die Verliebten von Paris fotografieren.

Er aber scheint vergessen zu haben, dass sie sich im Bett eben noch liebkosten, als plötzlich das Telefon klingelte. Er steht auf, immer noch im Slip, für ein Hemd ist das Leben zu kurz, zieht ein Blatt Papier in die Schreibmaschine, zündet sich eine Zigarre an. Und hackt bei laut schepperndem Wagen eine Zeile nach der anderen in die Maschine.

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