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Kapitel 1

Was ist Verlassenheit?

Die auf den folgenden Seiten vorgestellte Geschichte zeigt die verheerenden Auswirkungen der Verlassenheit auf die Persönlichkeit und das Liebesleben eines Menschen.

Martine leidet an Verlassenheit

Martine ist 50 Jahre alt. Vor einigen Monaten hat sie sich von ihrem Mann getrennt, mit dem sie einen achtjährigen Sohn hat. Sie hat ihren Vater nie kennengelernt, sondern wurde von dem Mann adoptiert, der ihre Mutter geheiratet hat, als diese mit ihr schwanger war. Ihre Mutter weigert sich hartnäckig, ihr etwas über ihren leiblichen Vater zu erzählen. Martine hat auch erst sehr spät von ihrer Adoption erfahren. Als Jugendliche hatte sie von ihrer Mutter Auskunft verlangt, denn sie ahnte, dass sie nicht zur gleichen Familie gehörte wie ihr Bruder und ihre Schwester. Sie hatte den Eindruck, anders zu sein, ohne zu verstehen, warum. Daraufhin hatten ihre Mutter und ihr Stiefvater sie über die Vergangenheit aufgeklärt und davon in Kenntnis gesetzt, dass sie von ihrem Stiefvater adoptiert worden war.

Martine hatte ihren Adoptivvater immer als sehr liebevoll empfunden, ihre Mutter hingegen als distanziert und hart. Trotzdem findet sie nicht, dass sie verlassen wurde, denn ihre Eltern haben sie ja von Geburt an umsorgt und ihr eine gute Erziehung und viel Liebe zukommen lassen. Als Älteste versteht sie sich gut mit ihrer Schwester und ihrem Bruder, obwohl sie zu Letzterem wenig Kontakt hat, weil er auf Abstand zur Familie gegangen ist.

Nach einer problemlosen Jugend und einem Universitätsstudium verliebt Martine sich in einen jungen Mann. Obwohl es ihrer bürgerlichen Erziehung widerspricht, lebt sie unverheiratet mit ihm zusammen. Sie bekommen zwei Kinder, trennen sich dann aber. Sie sagt: „Wir waren jung und eher so etwas wie gute Freunde als zwei Menschen, die sich wirklich eine gemeinsame Zukunft aufbauen wollten.“ Im Rahmen des Gesprächs ergänzt sie, dass sie außerdem einen wesentlich reiferen Mann kennengelernt hatte, in den sie sich verliebte. Diese Begegnung hatte ihr die Augen dafür geöffnet, was ihr wirklich in ihrer Partnerschaft fehlte: der verbindliche Wunsch, eine gemeinsame Existenz zu erschaffen. Die Trennung geht problemlos vonstatten, und sie ist ihrem Expartner weiterhin freundschaftlich verbunden, obwohl sie größtenteils die Versorgung der Kinder übernommen hat, auch in finanzieller Hinsicht.

Einige Zeit ist Martine Single, bis sie einen Mann trifft, in den sie sich bis über beide Ohren verliebt. Sie gibt sogar ihre Heimat auf, um mit ihm zusammen zu sein. Das führt zu Problemen bei der Versorgung der Kinder. Einige Monate später verlässt sie ihn wieder, obwohl dieser Mann sie heiraten und ein Kind mit ihr haben will. Sie erkennt, dass „die Liebe zu ihm nicht groß genug ist“.

Nur kurze Zeit danach lernt sie einen anderen alleinstehenden Mann kennen, der als Einzelkind aufgewachsen ist, ihr leidenschaftlich den Hof macht und sie davon überzeugt, ihn zu heiraten und ein Kind mit ihm zu haben. Erst mehrere Jahre später wird sie erkennen, dass der Wunsch nach einem weiteren Kind nicht der ihre war, sondern dass sie diesen Mann liebte und nur deshalb seinem Drängen nachgegeben hat. Sie bekommen einen Sohn, und von diesem Augenblick an verhält ihr Mann sich distanziert. Martine schreibt das zuerst den Veränderungen zu, welche die Geburt eines Kindes mit sich bringt. Doch im Laufe der Monate wird ihr klar, dass ihr Mann sie sowohl körperlich als auch psychisch auf Distanz hält. So verbringt sie die Ferien allein mit ihren Kindern. Des Weiteren ist ihr Mann sehr häufig abwesend oder verreist, obwohl sein Beruf das nicht unbedingt erfordert. Sie verbringt den größten Teil ihrer Freizeit mit ihrem Sohn oder mit ihren älteren Kindern, die im Ausland studieren, und obendrein hat sie einen sehr stressigen Beruf.

Vonseiten ihres Mannes kommt immer häufiger Kritik: Er gängelt sie mehr und mehr und will nicht einsehen, dass sie so wenig präsent ist, wenn er schon einmal bei seiner Familie ist. Martine empfindet vage, dass „zwischen [ihnen] etwas nicht mehr stimmt, und dass das Verhalten [ihres] Mannes einfach abscheulich ist“. Im Freundeskreis stellt er sie überzeugend als psychisch krank hin. Die Folge: Martine ist immer stärker isoliert und flüchtet sich noch mehr in die Arbeit. Doch sie beißt die Zähne zusammen, denn sie möchte nicht allein sein. In der Tat befürchtet sie, mit ihrem Sohn in einer Stadt leben zu müssen, die nicht ihre Geburtsstadt ist, in einem fremden, wenig einladenden Land und in einem abgeschotteten Milieu.

So geht es drei Jahre lang, und die Beziehung zwischen Martine und ihrem Mann wird nicht besser. Eines Tages entdeckt Martine, dass er seit einigen Monaten eine Affäre mit einer jüngeren Frau hat. Zuerst gibt er nicht zu, dass er sie betrügt, gesteht dann aber doch und gibt ihr gleichzeitig die Schuld daran. Es kommt zur endgültigen Trennung, und Martine bleibt allein mit ihrem Sohn zurück, der aber auch regelmäßig Zeit mit seinem Vater verbringt. Sie nimmt stark ab, engagiert sich noch mehr im Beruf und bekommt von ihrem Arzt Antidepressiva verschrieben.

Sie reicht die Scheidung ein, in die ihr Mann zuerst nicht einwilligt. Anschließend schiebt er ihr die Schuld am Scheitern ihrer Beziehung zu. Allmählich erkennt Martine, dass sie mit einem perversen Narzissten zusammengelebt hat, doch es fällt ihr schwer, sich das einzugestehen. Sie glaubt, völlig wertlos zu sein und große Probleme mit Männern allgemein zu haben. Sie stellt ihre Fähigkeit, zu lieben und geliebt zu werden, infrage. (Diese Reaktion tritt sehr häufig bei den Opfern perverser Narzissten auf. Ein solcher Narzisst ist nämlich sehr geschickt, wenn es darum geht, andere glauben zu lassen, sie hätten ein Problem oder sie selbst seien das Problem, obwohl er selbst der Grund für das Problem ist.)

Martine kann einfach nicht akzeptieren, dass sie sich in einen solch gemeinen und zerstörerischen Menschen wie ihren Mann verlieben konnte. Die Tatsache, dass er sie angelogen und ihr seine Affäre verheimlicht hat, stürzt sie in eine tiefe Krise. Sie kommt sich natürlich verraten vor, aber auch besudelt von seinem Verhalten ihr gegenüber. Sie hat den Eindruck, verlassen worden zu sein, und dieser Eindruck ist umso stärker, „als [sie] diesmal die Beziehung weiterführen wollte, auch wenn sie unbefriedigend war. [Sie] wollte den Partner nicht verlassen, so wie [sie] das bisher immer getan hatte.“ Doch sie treibt diese Innenschau nicht voran, denn dazu hat sie weder Zeit noch wirklich Lust.

Martine zeigt absolut keine Emotionen, abgesehen von gelegentlicher Trauer und einigen Tränen, „denn im Leben muss man stark sein“. Körperlich hält sie mithilfe von Antidepressiva durch, obwohl sie abgeschlagen und gestresst ist. Sie funktioniert sowohl bei der Arbeit (dort neigt sie zwar gelegentlich zu Zornesausbrüchen, diese werden von ihrer Umgebung aber in Kauf genommen, weil man sie darauf zurückführt, dass sie aus einem Land kommt, wo die Menschen nun einmal temperamentvoller sind!) als auch im Freundeskreis und in der Familie. Gleichzeitig wird die Beziehung zu ihrer Mutter immer angespannter, denn diese weigert sich nach wie vor, ihr zu verraten, was sie über ihren Erzeuger weiß.

Diese Konstellation hält ungefähr zwei Jahre an. Kurz vor ihrem fünfzigsten Geburtstag lernt Martine einen Mann kennen, der etwa zehn Jahre älter ist als sie. Er hat sich vor einigen Jahren von seiner Partnerin getrennt und gibt zu, mit dem Alleinsein gut klarzukommen. Gleichzeitig erklärt er ihr, nicht mehr so lose Bindungen haben zu wollen, wie das bisher der Fall war. Es funkt zwischen den beiden, sie fühlen sich zueinander hingezogen. Martine beginnt eine Beziehung mit ihm. Sie wünscht sich, so oft wie möglich mit ihm zusammen zu sein, und gleichzeitig flieht sie vor seiner Gesellschaft, „aus Angst davor, [sich] zu sehr auf einen so unsteten Mann einzulassen“. Sie unterdrückt ihre Gefühle und kontrolliert die Beziehung. Das heißt, dass sie schwankt zwischen den Momenten, in denen sie ihren Neigungen nachgibt, und anderen, in denen sie ihrem Freund alles und jedes vorwirft. Sie ist sich der Widersprüchlichkeit ihres Verhaltens bewusst, kann aber nicht anders. Sie möchte mit ihm ausgehen oder in einem Restaurant essen, will aber gleichzeitig nicht, dass ihr Ehemann davon erfährt, um zu vermeiden, dass die Scheidung, die sich sowieso schon lange hinzieht, noch komplizierter wird.

Auch in sexueller Hinsicht ist Martine auf dem Rückzug, verlangt aber gleichzeitig von ihrem neuen Partner in diesem Bereich eine perfekte Harmonie. Sie versichert ihm, sie sei nicht eifersüchtig und er könne ruhig andere Freundschaften unterhalten, reagiert aber sehr heftig, sobald er mit einer anderen Frau zu Abend isst. Lässt sie sich einmal auf einen echten Austausch und echte Zweisamkeit ein, die ihnen beiden sehr guttut und die Bindung vertieft, ist sie beim nächsten Mal aus irgendeinem vorgeschobenen Grund schroff, abweisend und distanziert. Kurz gesagt: Sie macht einen Schritt nach vorn und zwei zurück. Martine wirft ihrem Freund vor, nicht im Einklang mit ihr zu sein, und kaum hat sie ihm erklärt, wie sehr sie ihn liebt, sagt sie das Gegenteil und verabreicht ihm damit gekonnt eine kalte Dusche. Trotzdem geht die Beziehung weiter und wird sogar stärker. Ihr Freund versteht, dass er es mit einem Menschen zu tun hat, der darunter leidet, als Kind verlassen worden zu sein, und dann auch noch Opfer eines Narzissten wurde. Er verzeiht Martine die wiederholte, heftige Ablehnung, die er mehr schlecht als recht erträgt.

Martine ernährt sich sehr ungesund und sehr unregelmäßig. Sie verbittet sich Hinweise darauf, dass ihr Essverhalten an Magersucht grenzt. Sie leidet unter heftigen Angstattacken und schlimmer Verstopfung. Sie versteht, dass ihr Körper ihr mittels dieser starken Signale etwas sagen möchte, unternimmt aber nichts. Dadurch kommt es zu starken Spannungen in ihrer Beziehung, und ihr Freund verliert allmählich die Geduld. Martine ist sich im Klaren darüber, dass ihr Verhalten manchmal zusammenhanglos ist, ist aber auch davon überzeugt, nichts dagegen tun zu können. „Als unabhängige, freie Frau von fünfzig Jahren [hat] sie außerdem das Recht, zu sein, wer [sie ist], und [sich] so zu benehmen.“

Gleichzeitig erkennt Martine, dass ihr Freund sie verlassen wird, wenn sie sich weiterhin so aufführt. Folglich darf sie sich auf keinen Fall zu sehr auf ihn einlassen, „umso weniger, als er noch nicht einmal geschieden ist, sondern nur getrennt lebt“. Dieses Argument lässt ihr Freund jedoch nicht gelten. Er hat ihr längst erklärt, warum er noch nicht geschieden ist und dass er nur noch einen rein freundschaftlichen Kontakt zu seiner Frau hat. Für Martine bedeutet dieses Verhalten aber, dass er die Beziehung zu seiner Frau noch nicht beendet hat. Somit hat sie einen „objektiven“ Grund, sich nicht wirklich auf diesen Mann einzulassen. Was empfindet sie? Eine leichte Gereiztheit, aber ganz sicher weder Wut noch Trauer. Sie hält ihre Einstellung für die richtige und sie will durch ihr Verhalten sicherstellen, nicht zu sehr zu leiden, falls die Beziehung auseinandergeht.

Nachdem ihre Scheidung einige Monate später endlich rechtskräftig wird, erkennt sie, dass sie „den Mann nicht [liebt], mit dem [sie] seit zwei Jahren eine Beziehung [hat]“. Sie teilt ihm ohne weitere Erklärung mit, dass sie die Beziehung beendet! Ihr Freund ist völlig überrumpelt. Nachdem er jedoch vergeblich versucht hat, sich mit Martine zu verständigen, die jede Diskussion verweigert, beschließt er, ihre Entscheidung zu akzeptieren, und meldet sich bei ihr nicht mehr. Angesichts dessen reagiert sie bestürzt und wirft ihm bei einem Telefonat vor, nicht um sie gekämpft zu haben – für sie ein Beweis dafür, dass er sie nicht wirklich liebte.

Also beschließt Martine, sich ganz ihrem Sohn und ihrer Karriere zu widmen, denn „das bringt [ihr] Glück und Freude, eine Beziehung jedoch führt nur zu mehr Leid“! Sie zeigt keinerlei Gefühle, denn jede Emotion wird sowieso durch die Einnahme der Antidepressiva unterdrückt. Sie widmet sich noch stärker der Arbeit und der Erziehung ihres Sohnes sowie der beiden anderen Kinder. Sie erleidet auch weiterhin heftige Angstattacken und Ohnmachtsanfälle, die laut ihrer Aussage ihrer Erschöpfung geschuldet sind. Gleichzeitig vergisst sie zu essen und leidet regelmäßig an Verstopfung.

Martine konnte sich nicht zu dem Schritt durchringen, der ihr Erleichterung verschaffen und sie von dieser Verletzung heilen könnte. Das ist eine Entscheidung, die es zu respektieren gilt.

Die Auswirkungen der Verlassenheit auf Säuglinge und Kinder

Martines Fall ist ein sehr gutes Beispiel für einen Menschen, der an Verlassenheit1 leidet. Der Begriff bezeichnet in unserem Zusammenhang sowohl das Gefühl, verlassen worden zu sein, als auch die zahlreichen, sehr unterschiedlichen körperlichen und seelischen Erkrankungen, unter denen ein von Verlassenheit, Zurückweisung oder Ausgrenzung Betroffener leidet.

Martine wurde von ihrem Vater bereits vor ihrer Geburt verlassen. Diese Zurückweisung wurde noch durch die Tatsache verstärkt, dass ihre Mutter, die einem sehr konservativen Milieu entstammt, sich gezwungen sah, einen anderen Mann zu heiraten, um der Schande zu entgehen, ein uneheliches Kind zu bekommen. Daher auch die emotionale Distanziertheit ihrer Mutter.

Martine hat all das im Körper ihrer Mutter gespürt, denn ein Fötus hat sehr bald nach der Zeugung die Fähigkeit, Liebe oder den Mangel an Liebe zu empfinden. Wie soll ein Kind reagieren, das spürt, wie wenig es willkommen ist? Was bleibt außer einer großen, tief sitzenden Wut? Und wie soll es damit umgehen? Ihm wird ja die Nachricht übermittelt, dass es kein Mensch sei, den man lieben kann. Sicher hat Martines Adoptivvater nicht nur die Mutter geliebt, sondern auch die Tochter, und das hat ihr sicherlich gutgetan und zu einer harmonischeren Entwicklung beigetragen. Das kann dennoch nicht den krassen Mangel an Liebe ungeschehen machen, den Martine empfindet. Und sie kann ja nur hinnehmen, was ihr von ihrem leiblichen Vater und ihrer Mutter aufgezwungen wurde.

Wir wollen hier niemanden verurteilen. Jeder Mensch hat das Recht, so zu leben, wie er leben will, und er mag gute (oder schlechte) Gründe anführen, um seine Entscheidungen zu rechtfertigen. Aber man muss auch sehen, dass die Konsequenzen für das Kind – und es geht hier um das Kind, nicht um die Eltern! – manchmal brutal und heftig sind. Denn ein Fötus kann sich nicht wehren. Er muss eine Möglichkeit finden, sich zu schützen, um zu überleben. Die Verwendung des Ausdrucks „überleben“ ist nicht übertrieben, denn es ist erwiesen, dass weitaus mehr ungewollte als gewollte Kinder im ersten Monat ihrer Existenz versterben2. Diese Tatsache sagt viel darüber aus, wie deutlich der Fötus Signale vernimmt, um dann zu entscheiden, ob er bleiben oder diese Welt verlassen will.

Das Kind kann nicht ohne die Hilfe Erwachsener leben und ist ganz und gar abhängig von denen, die verantwortlich dafür sind, es zu zeugen und ans Licht der Welt zu bringen. Sie sollten ihm eigentlich dabei helfen, auf die bestmögliche Art zu gedeihen und erwachsen zu werden. Und was ist die wesentliche Nahrung? Ist es die Muttermilch? Das Fläschchen mit Milchpulver des Herstellers x oder y? Nein! Liebe ist die wichtigste Nahrung, sie erlaubt einem Kind, harmonisch aufzuwachsen. Einem ungewollten Kind wird aber als Allererstes Nichtliebe signalisiert. Das äußert sich häufig nicht darin, dass es allein gelassen, sondern in affektiver Hinsicht verlassen wird.

Dieser Punkt ist ganz entscheidend: Zu den an Verlassenheit leidenden Menschen gehören nicht nur die, welche körperlich von ihren Eltern verlassen wurden, sondern all jene, die sich nicht um ihrer selbst willen geliebt fühlen. Auch hier ist es nicht am Erwachsenen zu beurteilen, ob er sein Kind geliebt hat oder nicht. Nein, es ist das Kind, das auf Basis seiner Erlebnisse und Gefühle darüber befindet, denn diese sind seine Wahrheit. Da ein Kind die Dinge häufig anders empfindet als ein Erwachsener, kann es natürlich zu großen Abweichungen in der Wahrnehmung und den daraus resultierenden Schlussfolgerungen kommen. So mancher Erwachsene mag der Meinung sein, er habe seinem Kind viel Liebe entgegengebracht, indem er ihm bestimmte Werte vermittelt hat, die in seinen Augen wesentlich sind. Das Kind nimmt das aber als Beweis einer lieblosen Erziehung wahr. Es könnte zu dem Schluss kommen, der Elternteil habe einzig und allein aus ihm einen Menschen mit Wertvorstellungen machen wollen. Da es keinerlei Liebe hinter dieser Erziehung gespürt hat, hat das Kind in Wahrheit nur eine Nachricht empfangen: Ich liebe dich nicht dafür, was du BIST, sondern nur dafür, was du schaffen oder werden musst. Diese unterschiedlichen Auslegungen derselben Realität können schlussendlich zu einer Konfrontation zwischen dem Elternteil und dem erwachsen gewordenen Kind führen. Bis dahin aber wird das Kind an Verlassenheit leiden und sich Überlebensstrategien zurechtlegen.

Untersuchungen belegen, dass ein Erwachsener, der als Kind eine derartige Misshandlung erlitten hat, unter großen Problemen leiden kann3. Der durch den Missbrauch in der Kindheit hervorgerufene Stress führt zu einer epigenetischen Änderung der Glukokortikoidrezeptoren (NR3C1), die in der Wissenschaft als genetische Methylierung bezeichnet wird und die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (HPA) beeinflusst. Diese Achse wird bei der Reaktion auf einen äußeren oder inneren Stimulus aktiv. Ist sie aber dysreguliert, beeinträchtigt das im Erwachsenenalter die Stressreaktion und kann zu psychischen Erkrankungen führen. Und wenn es in der Kindheit wiederholt zu Misshandlungen kommt, können die Mechanismen zur Stressregulierung dauerhaft geschädigt werden. So zeigt sich, dass die Folgen des Verlassenwerdens – eine klassische Form von Misshandlung – alles andere als harmlos sind und beim Erwachsenen zu schweren Störungen führen können.

Welche Überlebensstrategie kann ein Kind entwickeln, das zurückgewiesen oder verlassen wird? Es wird in diesem Moment sehr davon profitieren, seine eigene Denke zu erschaffen und zu nutzen.

Was ist die „Denke“?

Diese Bezeichnung wird sehr unterschiedlich verwendet. Hier die Definition, die diesem Buch zugrunde liegt:

Die Denke, die man genauso gut als Ego bezeichnen kann, könnte man einerseits mit „Krücken“ vergleichen, mit denen wir uns behelfen, andererseits mit einem sich unaufhörlich drehenden Hamsterrad. Die Denke verhindert,

dass wir in der Gegenwart leben. Sie verweist uns in die Zukunft mit ihrem Gefolge aus Befürchtungen, Beklommenheit, Angst, Panik, verlorenem Selbstvertrauen und Phobien. Sie lässt uns auch an die Vergangenheit denken, und dann überwiegen Bedauern, Reue und Schuldgefühle.
dass wir Emotionen wie Freude, Trauer und Wut anerkennen, zulassen oder gar ausleben.
dass wir in Kontakt treten mit unserem angeborenen Wissen, unserer Kreativität und unserem innersten Kern, also mit dem Menschen, der wir sind.

Indem die Denke den Kontakt zu uns selbst unterbindet, unterbindet sie auch den Austausch mit anderen Menschen und unserer Umwelt. Das führt zu Ausschluss, fehlender Kommunikation, Intoleranz, Ablehnung und sogar Rassismus. Die Denke lässt uns ein Machtgehabe an den Tag legen, durch das wir den Anderen kontrollieren und uns überoder unterlegen fühlen. Genauso verleitet sie uns dazu, uns selbst zu vergessen und nur noch im Hinblick auf andere, auf die Normen oder die Gesellschaft zu funktionieren. Unser Ego drängt uns Tag für Tag, unser Leben an Floskeln wie „Man macht“, „Ich muss“, „Es gehört sich“ auszurichten, obwohl wir genau wissen, dass wir am Ende jeden Tages eine Menge erreicht haben, nur nicht das, was wir wirklich erreichen wollten!

Die Denke verhindert auch den Kontakt mit dem Universum, das uns umgibt: Sie will uns glauben machen (was ihr auch bestens gelingt!), wir seien anders, der Pflanzen- und Tierwelt überlegen. Sie verleitet uns zu der Überzeugung, unser Gehirn mache uns zu besonderen Geschöpfen, die sich nicht in ihre Umwelt einfügen können, ohne über sie zu bestimmen. Die Denke ist das Gefängnis, das wir uns ganz alleine errichten und in dem wir uns selbst einsperren, sowohl in körperlicher als auch in seelischer Hinsicht. Für die Denke ist das Leben eine permanente Gefahr, genau wie Bewegung, Neues, Begeisterung und Spontanität. Die Denke verhindert, das sich etwas verändert und das alles im Fluss ist. Sie setzt alles daran, dass wir blockieren und uns an Ansichten und Verhaltensweisen festbeißen, die repetitiv und verknöchert sind. Wir neigen dann dazu, unsere Fehler und Niederlagen zu wiederholen. So gelingt es uns nicht, daraus zu lernen, um uns weiterentwickeln zu können. Die Denke liebt Stagnation, ja sogar Rückschritte, sie nährt unsere geistige Unbeweglichkeit. Sie ist die Größte, wenn es darum geht zu überleben, und das erhebt sie zu einer Lebenskunst! Parallel dazu trichtert sie uns fortwährend ein, was wir tun müssen, was gut und was schlecht ist. Sie redet so lange auf uns ein, bis wir den Normen entsprechen, die andere festgelegt haben. So macht sie aus uns Zwerge, obwohl wir das genaue Gegenteil sind! Das Ego beziehungsweise die Denke ist die Anti-Liebe par excellence.

Man muss jedoch zwischen der Denke, die wir gerade beschrieben haben, und unserem Gehirn unterscheiden. Letzteres ermöglicht uns, zu denken und Pläne zu schmieden. Unser Gehirn, das mit einem bedeutsamen Erinnerungsvermögen ausgestattet ist, kann uns dabei helfen, Lebenserfahrungen abzuspeichern und wieder abzurufen, sobald wir es wollen.

Leider wird unser Gehirn von einer nicht unbedeutenden Gruppe von Wissenschaftlern, die der materialistischen Bewegung anhängen, welche das ausgehende 20. Jahrhundert dominiert hat, als Sitz all dessen angesehen, was den Menschen ausmacht. Die gigantischen Mittel und Forschungen, die einigen Wissenschaftlern zur Verfügung gestellt wurden, haben bis zum heutigen Tag nur zu einem einzigen Befund geführt: Das Gehirn ist unendlich komplex, und es sieht immer mehr danach aus, als sei das, was wir für ein unabhängiges Steuerorgan halten, eine Illusion. Die Wahrheit sieht ganz anders aus! Unser Gehirn ist ein wunderbares und sehr mächtiges Organ, solange es uns zu Diensten ist. Aber nicht das Gehirn ist es, das uns im eigentlichen Wortsinn leben lässt. Auch die Denke lässt uns nicht leben: Sie hindert uns sogar daran, unser ganzes Potenzial auszuleben, sie engt uns ein und bringt uns dazu zu glauben, dass „handeln“ besser als „sein“ ist.

Welche Konsequenzen hat die Denke für unser Leben, sobald sie auftaucht? Die Antwort ist einfach: Stress, wie ihn Hans Selye zu Beginn des 20. Jahrhunderts definiert hat. Stress ist eine unspezifische Antwort des Organismus auf jedwede Stimulierung des Körpers, ob positiv oder negativ, äußerlich oder innerlich.

Das erste Symptom, das wir empfinden, wenn unser Ego auftaucht, ist eine Anspannung. Sie kann sich körperlich in einer Muskelverspannung im Nacken oder an anderer Stelle des Körpers zeigen, als Kloß oder Knoten in der Kehle, im Magen oder im Unterleib, durch kalten Schweiß oder einen beschleunigten Puls. All diese Anzeichen sind genauestens von der Medizin definiert. Sie folgen aus der Aktivierung der HPA-Achse, also der automatischen Antwort unseres Körpers auf eine (positive oder negative) Stimulierung. Diese Achse veranlasst die Nebennieren, eine ganze Reihe von Hormonen auszuschütten. Dadurch erhöht sich der Pulsschlag, der Blutdruck steigt an, die Muskeln kontraktieren und der Blutzucker erhöht sich, um verstärkt das Gehirn zu versorgen. Gleichzeitig nimmt der Verbrauch von Magnesium und Zink zu und es kommt zu einer gesteigerten Tätigkeit bestimmter Nierenfunktionen. Dieses System verbraucht viel Energie, und da es automatisch reagiert und Vorrang hat (weil es dem Überleben dient), lässt es keinen Platz für ein anderes sehr wichtiges System, das hauptsächlich dazu dient, den Angriffen die Stirn zu bieten, die von Viren, Bakterien und entarteten Zellen ausgehen: unserem Immunsystem.

Folglich ist unser Immunsystem geschwächt und sogar gelähmt, solange die HPA-Achse aktiviert ist. Da unser Körper sehr raffiniert aufgebaut ist, kehrt sich das Ganze um, sobald der äußere oder innere Stimulus verschwindet oder unter Kontrolle ist. Dann wird die Ordnung wiederhergestellt: Wir nehmen eine körperliche und seelische Entspannung wahr, die von der Deaktivierung der HPA-Achse herrührt. Sie zeigt sich im Nachlassen der Muskelanspannung, der Normalisierung des Pulsschlags und des Blutdrucks und der Wiederaufnahme der normalen Funktion unseres Immunsystems.

Der Mensch ist sehr wohl mit der Fähigkeit ausgestattet, auch starken äußeren und inneren Einflüssen standzuhalten. Er kann angemessen auf vielerlei Situationen und bedeutsamen Stress reagieren. Wenn das HPA-System lange Zeit ohne Unterbrechung aktiviert ist, führt das jedoch zu verschiedenen körperlichen und psychischen Störungen: zu Erschöpfung, Schlafstörungen – entweder hat man Probleme einzuschlafen (Hyperaktivität des Gehirns) oder man wacht ständig auf –, zu Konzentrationsstörungen und Erinnerungslücken, erhöhter Reizbarkeit oder Verletzlichkeit im Vergleich zum Normalzustand, zu verringerter Libido, Haarausfall und brüchigen Nägeln, um nur einige Beispiele zu nennen. Diabetes vom Typ 2 und Bluthochdruck können die Folge sein. Weil das Immunsystem defizitär ist, können Krankheiten auftauchen, die von einem einfachen Schnupfen bis hin zu schwerwiegenden Erkrankungen reichen.

Die negativen Folgen von Stress sind nicht den Stressfaktoren geschuldet, sondern der Tatsache, dass dem Körper keine Pause eingeräumt wird. Nehmen wir als Beispiel eine Person, die einem äußeren Stimulus ausgesetzt ist, zum Beispiel der Kälte. Wenn diese Person sich halbwegs regelmäßig in einem wohltemperierten Raum aufhalten und zwischen Warm und Kalt wechseln kann, wird das keinerlei Auswirkungen auf ihre Gesundheit haben. Das Gleiche gilt für einen Menschen, der einem inneren Stimulus ausgesetzt ist, zum Beispiel einer Emotion. Wenn es ihm gelingt, diese zum Ausdruck zu bringen, wird ihm die für sein körperliches und seelisches Gleichgewicht so notwendige Pause guttun. Gärt diese Emotion aber weiter in ihm, besteht die Gefahr, dass die durch die Aktivierung der HPA-Achse erzeugte Anspannung negative Folgen hat, sowohl in körperlicher als auch in seelischer Hinsicht. So kommt es, dass viele Menschen wiederholt an der gleichen Krankheit leiden, denn sie erlauben sich nicht, ihre Emotionen auszuleben. Sobald ihnen das gelingt, funktioniert das Immunsystem wieder. Die Genesung kann dann sehr schnell eintreten.

Ein Beispiel: Joseph leidet an einer Entzündung der Nasennebenhöhlen, einer sogenannten Sinusitis. Er kommt in meine Sprechstunde. Ich frage ihn, was wenige Stunden vor dem Auftauchen der Sinusitis vorgefallen ist. Er sagt mir, dass eigentlich nichts Besonderes geschehen sei. Nach reiflicher Überlegung gesteht er mir dann, dass er drei Stunden, bevor er die Verstopfung der Nebenhöhlen wahrnahm, einen Streit mit seiner Frau hatte, bei der es um ihre Ausgaben ging. Ich erkundige mich, was er mit der Emotion gemacht hat, die mit diesem Vorfall verbunden ist. Er gesteht mir, dass die Wut immer noch in ihm steckt, und dass er sie nicht zum Ausdruck gebracht hat, einmal abgesehen davon, dass er seiner Frau gesagt hat, wie genervt und enttäuscht er von ihr sei.

Als er mir das erzählt, wird Joseph bewusst, dass er noch immer sehr erbost ist, obwohl er seiner Frau gesagt hat, was er empfindet. Ich schlage ihm vor, nach Hause zu fahren und zu versuchen, seine Wut nicht gegenüber seiner Frau zum Ausdruck zu bringen, sondern allein, um sich etwas Gutes zu tun. Als Vorsichtsmaßnahme verschreibe ich ihm noch das Antibiotikum, das üblicherweise benutzt wird, um jemanden von dieser Erkrankung zu „heilen“. Ich rate ihm aber, es nur zu nehmen, falls es ihm nicht gelingt, seine Emotion auszuleben. Nachdem Joseph das Antibiotikum beim Apotheker in seinem Viertel gekauft hat, gelingt es ihm, seine Wut auszuleben, indem er auf der Heimfahrt laut im Auto mit sich selbst spricht. Später ruft er mich an, um mir zu sagen, dass seine Nebenhöhlen nur wenige Minuten danach wieder frei gewesen seien. Einige Stunden später war er von seiner Sinusitis genesen.

Dieser Vorfall hat nichts von einem Wunder und so etwas kommt bei den Patienten, die ich seit bald dreißig Jahren betreue, häufig vor. Josephs Genesung ist leicht zu erklären: Die aus dem Unterdrücken der Wut hervorgegangene Anspannung hat die HPA-Achse aktiviert, das Immunsystem war geschwächt. Die Bakterien, mit denen unser Körper gut leben kann, solange er nicht angespannt ist, konnten deshalb den Körper entkräften. Joseph wurde krank. Sein Zustand verlangte nach einer Behandlung, doch bestand das Risiko eines Rückfalls bei Ende dieser Behandlung, denn der wahre Grund für diese Erkrankung wäre ja damit nicht beseitigt worden. Die nicht ausgelebte Wut hätte weiterhin Spannungen verursacht, folglich die HPA-Achse wieder aktiviert und das Immunsystem erneut angegriffen. Zusätzlich zu den Nebenwirkungen des Antibiotikums wäre Josephs Körper durch die unterdrückte Emotion beständig geschwächt worden. Indem er seine Wut zum Ausdruck gebracht hat, genehmigte Joseph sich die Pause, die sein Immunsystem benötigte, um die Arbeit wiederaufzunehmen und dem Körper zu helfen, die Bakterien zu bekämpfen. Joseph konnte sich entspannen und sich mit seiner Frau sehr viel höflicher austauschen, als es davor der Fall war. Ein Mensch kann also sehr schnell von einer Sinusitis genesen, ohne zwangsweise Medikamente nehmen zu müssen, die zwar die Symptome mildern, aber nicht die Ursache behandeln! Das Gleiche gilt für alle anderen Erkrankungen, doch davon wird später anhand anderer Beispiele noch die Rede sein.

Kehren wir zu unserer Denke zurück. Sie ruft zuerst einmal eine körperliche Anspannung in uns hervor. Was empfinden wir, wenn wir an die Zukunft denken? Eine Anspannung, der wir je nach Intensität verschiedene Namen geben: Furcht, Angst, Sorgen, Panik oder sogar eine Phobie. Mangelndes Selbstvertrauen geht ebenfalls auf eine vergleichbare Anspannung zurück. Denn wenn wir meinen, etwas werde uns nicht gelingen, dann denken wir ganz offensichtlich an die Zukunft, befinden uns folglich also nicht mehr in der Gegenwart. Und was empfinden wir, wenn wir in der Vergangenheit leben? Eine Anspannung, die wir je nach Intensitätsgrad als Reue, Bedauern oder Schuldgefühle bezeichnen. Was fühlen wir, wenn wir Freude, Trauer oder Wut unterdrücken? Anspannung. Das Gleiche gilt, wenn wir unsere Intuition und unser angeborenes Wissen unterdrücken. Die Denke ist der Ursprung all dieser Spannungen. Wir müssen also ihren schädlichen Einfluss im Alltag eingrenzen. Doch bevor wir uns ansehen, wie das gelingen kann, wollen wir versuchen zu verstehen, woher sie kommt und wie sie funktioniert.

Die Denke existiert nicht von Geburt an. Ein Neugeborenes oder ein Baby weiß nicht, was Zukunft und Vergangenheit sind. Es lebt allein in der Gegenwart. Erst über die Erziehung tauchen die Vorstellungen von Vergangenheit und Zukunft auf. Das kann der Fall sein, wenn ein Kind beispielsweise die Ängste seiner Eltern spürt oder wenn man ihm heute eine Belohnung gibt, weil es gestern brav war.

Das Gleiche gilt für unsere Emotionen. Ein kleines Kind, das in der Gegenwart verwurzelt ist, äußert sie ganz selbstverständlich. Was macht es, wenn es Lust hat zu lachen? Es lacht. Was geschieht, wenn es traurig ist? Es weint. Und was passiert, wenn es unzufrieden oder wütend ist? Es schreit. Niemand bringt ihm bei, sich so zu verhalten. Es macht all das von sich aus und stellt sich keinerlei Fragen. Es lebt seine Emotionen im Hier und Jetzt, äußert sie sofort und wechselt rasant von einer zur anderen, was Erwachsene häufig verblüfft. Erinnern wir uns daran, dass wir alle einmal Kinder waren und dass wir alle einmal umstandslos und sofort ausdrücken konnten, was wir empfanden. Doch dann kam die Erziehung mit ihrem Gefolge aus Vorschriften und Gemeinplätzen, die der Denke den Boden bereitet haben: Wütend sein gehört sich nicht, nur Jammerlappen weinen, sich zu freuen ist ja ganz gut, solange man es diskret tut.

Jedwede Erziehung, die ein Kind erhält, neigt dazu, unsere Emotionen in Kategorien einzuteilen. Da gibt es die gute, die positive Emotion: die Freude. Dann gibt es die Emotionen, welche nicht gut, also negativ sind: die Wut und die Traurigkeit. Also ist es gut zu lachen, solange man nicht zu sehr damit prahlt, und es ist schlecht zu weinen und zu schreien. Daraus erwächst die Denke und sie nimmt an Einfluss zu, je mehr das Kind durch die Erziehung formatiert wird, um aus ihm einen annehmbaren und von der Gesellschaft akzeptierten Jugendlichen zu machen. Denn die Gesellschaft gibt die Regeln und die Normen vor. Die Wut wird zum Feind, obwohl in Wirklichkeit die Denke der Feind ist. Die Traurigkeit wird zu einer unerfreulichen Gefühlsregung, obwohl ihre Blockade durch die Denke körperliches und seelisches Unwohlsein auslöst.

In der Psychiatrie hat man sich all dessen bemächtigt, um darüber zu bestimmen, wer „der Norm entspricht“ und wer nicht. So kommt es, dass turbulente Kinder, die auf eine schwierige Umgebung reagieren, häufig in die Schublade der hyperaktiven Kinder gesteckt werden. Diese Kinder müssen mit einem Medikament behandelt werden, das bereits lange vor der diagnostizierten Störung entdeckt wurde. So kommt es auch, dass ein schüchterner Mensch zu einem Kranken gemacht wird, der an einer Sozialpsychose leidet, weshalb er zur Behandlung Antidepressiva erhält. Die Bibel der psychischen Störungen, das berühmte DSM-54, hat es geschafft, aus jeder anormal gelebten Emotion eine psychische Erkrankung zu machen!

Unsere Gesellschaft hat entschieden, welche Emotionen akzeptabel sind und welche nicht. Aber sie haben dabei nicht an den Menschen gedacht, der im Namen dieser Normalität, die nichts mit seiner wahren Natur zu tun hat, Wut, Trauer und Freude unterdrückt. Wie beschrieben, ruft eine solche Blockade Anspannung hervor. Diese führt dann zu gravierenden körperlichen und seelischen Leiden, deren Behandlung astronomische Summen kostet. Außerdem äußert sich die unterdrückte Wut, wenn sie denn explodiert, als Zornesausbruch, der mit einfacher Wut nichts gemein hat. Diese Art Anfall ist für die Betroffenen selbst zerstörerisch, aber auch für die Gesellschaft. Man sehe sich nur einmal die Gewalt an, die an öffentlichen Orten herrscht, sei es im beruflichen oder im sozialen Umfeld. Wie soll man darauf reagieren? Noch ein wenig mehr Repression und ein Teufelskreis entsteht.

Das Gleiche gilt für Traurigkeit, die von der Denke blockiert wird. Diese Blockade führt zu gravierenden Störungen wie Depressionen, die gewöhnlich mit Antidepressiva behandelt werden. Sie hüllen die Leiden der Betroffenen in eine chemische Zwangsjacke und lassen sie funktionieren. Ein ausgeglichenes Leben ohne Anspannung ist damit nicht möglich. Als Produkt unserer Erziehung ist die Denke deshalb hauptverantwortlich für Unwohlsein und Übel, an denen nicht nur der Einzelne krankt, sondern die ganze Gesellschaft, in der er lebt.

Wie funktioniert die Denke?

Man kann die Denke nicht mit der eigenen Denke vertreiben, das ist unmöglich. Bewusst zu versuchen, nicht mehr an etwas zu denken, das uns beispielsweise Angst macht, funktioniert ganz und gar nicht. Versuchen Sie doch einmal, nicht mehr an das graue Huhn zu denken – Sie werden erst recht daran denken! Dabei ist es diese Art Ratschlag, den wir uns ständig vorbeten und von unseren Freunden zu hören bekommen, die uns wohlgesonnen sind: „Denk nicht mehr dran, lass gut sein, tu so, als gäbe es das gar nicht!“ Die Art Ratschlag, den wir uns selbst erteilen oder von anderen erteilt bekommen, um uns von unserem Ego zu befreien, steigert nur die Anspannung und stärkt dieses Ego im Alltag. Das Hamsterrad dreht sich mit schwindelerregender Geschwindigkeit und wir sind sehr angespannt. Das ist der Beweis, den uns unser Körper als unser bester Freund liefert, um uns bewusst zu machen, dass wir völlig von unserer Denke beherrscht werden. Wir sitzen im Sattel, aber das Pferd spielt verrückt, und wir leiden unter seiner Dominanz.

Um das Pferd zu beruhigen, können wir versuchen, es zu zähmen, indem wir die Techniken zur Beherrschung der Denke anwenden. Wir können uns ein beruhigendes Bild vor Augen führen, Gebete oder Mantras aufsagen oder positive Gedanken laut aussprechen, bis wir uns weniger angespannt fühlen. Wir benutzen dabei unsere Denke, damit nicht sie uns benutzt. Präsent ist sie aber weiterhin. Folglich zieht sie uns erneut in ihren Strudel, sobald wir die Übungen einstellen.

Es gibt mehrere Techniken, die auf die Beherrschung der Denke abzielen, doch sind sie alle mit derselben Gefahr verbunden: Sie erschaffen eine Entspannung, die nur vorübergehend und irgendwie auch illusorisch ist, denn sie beruht auf einem Bild oder einem Gedanken, die von der Denke generiert wurden. So bestimmt die Denke weiter über uns. Bei dieser Herangehensweise ist es außerdem unmöglich, in der Gegenwart zu bleiben, dem einzigen Moment, in dem wir leben. Wir rufen nämlich entweder ein beruhigendes Bild ab, das aus unserer Vergangenheit stammt, oder ein Traumbild, das nicht zur Wirklichkeit gehört. Wie auch immer wir es anstellen, diese Techniken verschaffen uns keinen Zugang zur Gegenwart, was nicht nur bedauernswert ist, sondern auch ein großes Problem nach sich zieht: Sind wir nämlich nicht in der Gegenwart, können wir auch nicht in Kontakt mit unseren Emotionen treten. Sie werden weiterhin vom Ego blockiert, und die daraus entstehende Anspannung kann nicht verschwinden.

Die Denke hat uns also fest im Griff. Jagen wir sie zur Tür hinaus, kommt sie in veränderter Gestalt wieder durchs Fenster. Doch unser Körper signalisiert uns ihre Anwesenheit sofort durch seine Anspannung. Unser Gehirn mag versuchen, uns vom Gegenteil zu überzeugen, doch unser Körper lügt nie! Es wäre falsch, nicht zu nutzen, was er uns verrät. Wir sind ja vierundzwanzig Stunden am Tag mit ihm zusammen. Statt anzunehmen, er sei unser schlimmster Feind (noch eine Idee unserer Denke!), sollten wir einfach auf ihn hören.

Wie schaffen wir es also, die Denke auszuschalten5, sie zum Schweigen zu bringen, um uns ganz im Hier und Jetzt wiederzufinden, in Kontakt zu treten mit unseren Emotionen und unserem innersten Kern, also dem Menschen, der wir wirklich sind? Um das zu erreichen, müssen wir eine Methode finden, die wir immer und überall anwenden können. Es wäre jedoch illusorisch zu glauben, dass wir allein durch ein bisschen Meditieren pro Tag die Denke von morgens bis abends zum Schweigen bringen. Kein Lebewesen auf dieser Erde ist fähig, vierundzwanzig Stunden zu schweigen, denn das Ego kommt ständig wieder an die Oberfläche. Doch es gibt eine ganz einfache Technik. Sie besteht darin, unsere Aufmerksamkeit auf unseren Körper und unsere Sinneseindrücke zu richten.

Der Ausdruck „die Aufmerksamkeit richten“ umschreibt sehr gut, was wir tun müssen. Es geht weder darum, die einzelnen Körperteile zu visualisieren, noch darum, sich derselben bewusst zu werden, und auch nicht darum, in den Körper einzutauchen. Es geht allein darum, unsere Aufmerksamkeit auf einen Bereich unseres Körpers zu richten, zum Beispiel unsere Finger oder Zehen, um sich dann auf ihre Bewegungen zu konzentrieren. Das dauert nur wenige Sekunden oder eine Minute und reicht häufig schon aus, um in die Gegenwart zurückzukehren. Wir müssen unsere Aufmerksamkeit nicht auf jeden einzelnen Körperteil lenken (es sei denn, wir nehmen uns die Zeit dafür), sondern nur auf einen. Ich persönlich bevorzuge die Zehen, denn die können wir bei der Arbeit, auf der Straße, bei Tisch oder wo auch immer in den Schuhen bewegen, ohne dass es jemand bemerkt.

Das Gleiche gilt für die Sinneseindrücke. Wir können einen unserer Sinne nutzen, um unsere Denke auszuschalten. Wir können zum Beispiel die Aufmerksamkeit auf die Textur des Stifts richten, den wir in der Hand halten, oder auf die Wärme, die wir zwischen der Kleidung und dem Körper spüren (das betrifft den Tastsinn), auf den Geruch des Ortes, an dem wir uns gerade aufhalten (Geruchssinn), auf den Geschmack unseres Speichels (Geschmackssinn). Beim Sehsinn muss man jedoch aufpassen, denn beim Schauen neigen wir dazu, wieder zu denken. Es ist bekannt, dass 60 bis 80 Prozent unserer Gedanken durch etwas Gesehenes ausgelöst werden.

Wir können (und müssen!) diese Übung viele Male im Lauf des Tages machen. Denn das Ego ist, wie wir herausgestellt haben, im Alltag sehr präsent und gewinnt die Oberhand, sobald wir ihm einen Platz einräumen. Je häufiger wir uns jedoch gestatten, unsere Denke auszuschalten, umso schneller merken wir es auch, wenn sie zurück ist. So gelingt es uns, viel mehr im Hier und Jetzt und bei uns zu sein.

Ein von vielen Menschen vorgebrachter Einwand lautet: „Wie soll ich es denn anstellen, so viel Zeit darauf zu verwenden, meine Aufmerksamkeit auf meinen Körper und meine Sinneseindrücke zu lenken? Schließlich arbeite ich oder bin mit anderen Dingen beschäftigt.“ Die Antwort ist einfach: Während man die Übung durchführt, wird man feststellen, dass sie keinerlei Zeit und Kraft kostet. Ganz im Gegenteil. Je häufiger man sie anwendet, desto konzentrierter und leistungsfähiger ist man. Unser gewitztes Ego wird uns höchstwahrscheinlich immer davon überzeugen wollen, dass die Übung unmöglich ist, frei nach dem Motto: „Wenn das so einfach wäre, wüsste das doch jeder!“

Die Denke ausschalten, indem man seine Aufmerksamkeit auf den Körper und die Sinneseindrücke lenkt, mag im Vergleich zu dem, was in gewissen spirituellen Kreisen gepredigt wird, geradezu banal erscheinen. Es stimmt, unsere Denke mag die schwer auszuführenden Sachen, denn so kann sie uns glauben machen, dass wir mit großen, geistigen Fähigkeiten ausgestattet sein müssen, wenn es uns gelingt, ach so komplizierte Übungen zu vollbringen. Unser Ego will uns weismachen, die wahre Spiritualität könne nur an bestimmten Orten und durch brillante, wenig verbreitete Handlungen erlebt werden, niemals aber ganz einfach und mittels alltäglicher Gesten. Dabei entsteht wahre Spiritualität aus den einfachsten Handlungen, wie Kartoffeln schälen, den Haushalt machen oder die Aufmerksamkeit auf den Körper und die Sinneswahrnehmungen richten. Letzteres wirkt so einfach, ist aber in Wirklichkeit extrem schwer umzusetzen. Ich kann nur all jene ermutigen, die diese Art, ihre Denke auszuschalten, grob vereinfachend finden, die Übung regelmäßig in die Tat umzusetzen. So wird ihnen bewusst, dass es sich um eine Übung von großem spirituellem Wert handelt.

Welchen Sinn hat es, seine Denke auszuschalten?

Seine Denke auszuschalten hat zur Folge, dass man sich mehr um sich kümmert, dass man sich selbst Aufmerksamkeit schenkt. Ich pflege meine Patienten zu fragen, ob sie auf ihre Angehörigen oder Arbeitskollegen achten, um zu erfahren, ob diese angespannt oder entspannt sind. Alle bejahen diese Frage, und manche fügen hinzu, das sei ein Automatismus. Wie viel Zeit benötigen sie, um zu erkennen, ob die Menschen in ihrer Umgebung angespannt oder entspannt sind? Den Bruchteil einer Sekunde! Wie viel Kraft kostet sie das? Gar keine! Warum tun sie das? Aus Interesse, Neugier, Liebe!

Stellen wir uns folgende Frage: Wie oft am Tag leisten wir das für uns selbst? Wie oft fragen wir uns selbst, ob wir angespannt oder entspannt sind? Wir werden sehr schnell feststellen, das wir es nur selten tun, wahrscheinlich sogar nie. Was bedeutet das? Ich überlasse Ihnen die Antwort auf diese Frage, und vor allem lasse ich Sie Ihre Schlüsse daraus ziehen. Sich regelmäßig zu fragen, ob man angespannt oder entspannt ist, kostet weder Zeit noch Kraft. Stellen wir aber fest, dass wir ein wenig, sehr oder extrem angespannt sind, dann haben wir die Möglichkeit, unsere Denke auszuschalten. Und dazu ist nur ein geringer Aufwand nötig. Wir profitieren davon, uns um uns selbst zu kümmern und uns so viel Interesse entgegenzubringen, wie wir es auch bei anderen tun. Wir schenken uns auf diese Weise Aufmerksamkeit und folglich Liebe.

Die Denke auszuschalten ermöglicht uns auch, uns in der Gegenwart wiederzufinden, dem einzigen Moment, in dem wir nun einmal leben. Das hilft uns dabei, uns von unseren Ängsten, unseren Sorgen, unserer Reue und unseren Schuldgefühlen zu befreien, was nicht gerade wenig ist. Wir leben in der Tat zu häufig außerhalb der Gegenwart, in der Zukunft und der Vergangenheit, und unser Körper versucht, uns durch die empfundene Anspannung darauf aufmerksam zu machen. Die Anspannung verschwindet, sobald wir uns im Hier und Jetzt wiederfinden, denn im Hier und Jetzt gibt es keine Angst oder Schuldgefühle.

Auf diese Aussage reagieren die Zuhörer sehr häufig: Jeder erinnert sich an ein Ereignis, bei dem er Angst hatte. Doch wenn der Betroffene sich genau daran erinnert, was geschehen ist, wird er schnell feststellen können, dass er zum kritischen Zeitpunkt ganz im Hier und Jetzt war, dass all seine Sinne geschärft waren, dass er beinahe einen kompletten Rundumblick von 360 Grad hatte und dass seine Intuition ihm genau vorgab, was zu tun war und was nicht. Erst nach dem Vorfall ist die Angst aufgetaucht, denn in diesem Moment kehrt die Denke zum Geschehenen zurück oder weicht in die Zukunft aus, um sich auszumalen, was alles hätte passieren können, wenn… Ins Hier und Jetzt zurückzukehren führt zu einer spürbaren körperlichen Entspannung, die sehr guttut und es uns gleichzeitig ermöglicht, ein aktives Immunsystem wiederherzustellen. So können auch verschiedene seelische Störungen geheilt werden, an denen wir eventuell leiden.

Der zweite Vorteil einer Rückkehr zur Gegenwart besteht darin, dass wir unsere Emotionen zulassen, empfinden und ausleben können. Es gibt drei große Gruppen von Emotionen: Freude, Trauer – in unterschiedlicher Stärke – und Wut. Zur Wut gehören beispielsweise auch Gereiztheit, Verdruss und Hass. Sie verbirgt sich hinter Ausdrücken wie Ohnmacht, Ungerechtigkeit, Groll und Frust. Vergessen wir nicht, dass Emotionen etwas Natürliches sind und dass wir sie als Säuglinge zu empfinden und auszuleben wussten. Emotionen sind weder gut noch schlecht, weder positiv noch negativ. Sie sind einfach da, und es geht nicht darum, sie zu verurteilen, zu kommentieren oder zu verdrängen. Sie gehören zu unserem Wesen und müssen akzeptiert werden. Schlecht jedoch ist es, Emotionen durch die Denke zu blockieren.

Es gab eine Zeit, in der die Emotionen in unserer Gesellschaft nicht gern gesehen wurden. Sätze wie „Lassen Sie Ihre Emotionen bei der Arbeit außen vor“ waren gang und gäbe. Es war nicht gut angesehen, etwas zu empfinden. Seit einigen Jahren haben die Emotionen aber etwas an Terrain gewonnen, und in den Medien und der Öffentlichkeit wird viel davon gesprochen. Es gehört inzwischen zum guten Ton, über dieses Thema zu schreiben, und eine ganze Reihe Bücher behandeln Emotionen im Rahmen der Persönlichkeitsentwicklung. Inzwischen wird es von einem Großteil unserer Gesellschaft fast schon als normal erachtet, Emotionen zu haben… solange der Andere oder die Anderen nicht von ihnen gestört werden! Also gibt es gute Emotionen wie die Freude, die von der Gesellschaft als positiv angesehen werden, und schlechte, negative Emotionen: Angst, Schuldgefühle und Wut. Trauer dagegen ist akzeptabel, solange sie nicht zu stark ausgeprägt ist und nicht zu lang anhält.

Meine Kollegen, Psychiater, Internisten und Allgemeinärzte, haben schnell reagiert und zahlreiche Medikamente verschrieben, um die Macht der Emotionen zu drosseln: Angstlöser, Antidepressiva, Schlafmittel und andere Neuroleptika. Nur zum Vergleich erinnere ich daran, dass in Europa und Nordamerika 40 bis 50 Prozent der Bevölkerung (ich zitiere hier die offiziellen Statistiken!) solche Medikamente nehmen! Wir haben (endlich!) das Recht, Emotionen zu haben, ABER sie sollen bitteschön normal empfunden und gelebt werden. Wer entscheidet, was normal ist? Sie oder die Gesellschaft? Die Experten in Sachen Emotionsverwaltung, also die Psychiater und andere Personen, die sich das Recht anmaßen zu definieren, was eine normale Emotion und was eine anormale Emotion ist, und folglich darüber befinden, ob Sie wohlauf oder krank sind? Auf welcher Grundlage tun sie das? Leider auf keiner echten, wissenschaftlichen Grundlage, sondern vielmehr aufgrund eines Wusts an Werturteilen und Pseudodiagnosen. Diese Experten haben mächtige Verbündete, welche die Instrumente erschaffen, die den an Anormalität Leidenden helfen können zu funktionieren, und das zur großen Freude der Gesellschaft: Die Rede ist von den pharmazeutischen Unternehmen und den Medikamenten, die sie herstellen.

Allerdings zeigt sich in der Gesellschaft auch eine neue Tendenz: Die Emotionen dürfen nicht unterdrückt werden, denn sie existieren nun einmal. Allerdings müssen sie verstanden werden, um gut mit ihnen umgehen und sie verwalten zu können. So wird es leichter, sie hinzunehmen und sich an sie zu gewöhnen.

Zuerst einmal ist es wichtig, sie genau zu identifizieren und zu definieren. Empfinden wir zum Beispiel angesichts eines Problems Trauer oder Wut? Erinnern wir uns daran, dass Trauer in sozialer Hinsicht eher akzeptiert wird als Wut, die nach wie vor als „schlechte“ Emotion gilt, da sie zu destruktiv und zu gewalttätig ist. Und da die Trauer nicht so „schlecht“ und weitaus zivilisierter ist, neigen wir dazu, Trauer zu empfinden. Und prompt sind alle zufrieden!

In einem zweiten Schritt empfiehlt es sich, uns selbst und vor allem dem (oder den) Anderen den Grund unserer Emotionen zu erklären. Warum sind wir traurig? Warum sind wir wütend? Die Erklärung muss für den (oder die) Anderen akzeptabel und nachvollziehbar sein. Es muss doch einen guten Grund für diese und jene Emotion geben! Und dieser Grund muss nicht nur uns einleuchten, sondern vor allem dem Anderen. Sein Urteil muss also mitberücksichtigt werden, damit wir uns in unseren Empfindungen bestätigt sehen können.

Ein Mensch muss also eine logische und vernünftige Erklärung finden, um sich und andere davon zu überzeugen, dass seine Emotion das Recht hat zu existieren. Solange er die Logik versteht, die seine Trauer und seine Wut erzeugt, ist er glücklich, denn das tröstet ihn in Anbetracht seiner Emotionen. Doch um zu diesem Verständnis zu gelangen, muss der Betroffene sich zwangsweise darauf stützen, was die Gesellschaft als „normal“ beschreibt, und nicht darauf, was er selbst normal findet. Obendrein wird diese Normalität so definiert, dass die Gesellschaft (und ihre Experten) nicht zu sehr bedrängt und gestört wird. Es läuft darauf hinaus, dass unser Verständnis dessen, was in uns vorgeht, zwangsweise zu dem passen muss, was die Anderen für statthaft und zumutbar erachten. Wenn wir traurig sind, darf unsere Trauer bestimmte Grenzen, die von anderen oder von der Gesellschaft festgelegt werden, nicht überschreiten. Die Intensität dieser Emotion muss nach den gleichen Normen gemessen werden.

Das Verständnis dafür, was wir empfinden, und die Erklärung, die wir formulieren, ermöglichen uns den nächsten, den wichtigsten Schritt: unsere Emotionen zu verwalten. Was bedeutet der Ausdruck „verwalten“ in diesem Zusammenhang? „Seine Belange regeln“ oder auch „einer schwierigen Situation so gut wie möglich die Stirn bieten“. Dieser Ansatz soll uns dahin bringen, unseren Emotionen „die Stirn zu bieten“ und sie zu „regeln“, so wie wir das bei einer Geschäftsangelegenheit machen würden, damit die Verluste möglichst gering gehalten werden. Mit anderen Worten: Beim Ausleben unserer Emotionen müssen die Verluste für uns und die Gesellschaft gering gehalten werden. Das bedeutet, dass Emotionen potenziell zerstörerisch für andere und für uns selbst sind. Und das wiederum hat Konsequenzen. Es verleitet dazu, eine Emotion nicht ganz auszuleben, sondern diese Handlung zu begrenzen. Dann aber laufen wir Gefahr, krank zu werden und uns schlecht in unserer Haut zu fühlen…

Diese gesamte Vorgehensweise ist gefährlich und kann nicht zu unserem Wohlergehen beitragen. Wenn wir darauf achten, was unser Körper uns sagt, werden wir feststellen, dass wir bei diesem Unterfangen die ganze Zeit angespannt sind – der Beweis dafür, dass unsere Denke das Sagen hat. Wenn wir aber dieses Hamsterrad zum Halten bringen, können wir unsere Emotionen vollständig und für uns ausleben, um uns etwas Gutes zu tun. Das setzt zwangsläufig voraus, dass wir unsere Wut nur ausleben, wenn wir allein sind, nicht aber in Gegenwart anderer oder gegenüber Menschen, die nicht verantwortlich sind für das Leid, welches durch die Blockade unserer Emotionen verursacht wurde.

Es ist schwer, das zu akzeptieren, denn wir neigen alle dazu, die Anderen für unsere Leiden verantwortlich zu machen: Ein Bakterium ist die Ursache für die Infektion, an der wir leiden, unser Partner ist schuld an unserem Unwohlsein, nach allem, was er uns angetan hat… In Wahrheit ist nicht das Bakterium verantwortlich, sondern unsere Denke, die unsere Emotionen blockiert und dadurch unsere Immunabwehr geschwächt hat. Und nicht unser Partner ist schuld an unserer Trauer oder Wut, sondern unsere Denke, die uns daran hindert, diese Emotionen zum Ausdruck zu bringen. Diese Wahrheit zu verstehen und zu akzeptieren gibt uns die Freiheit, ohne Hilfe von außen zu genesen. Wir tragen also sowohl die Möglichkeit in uns, krank als auch gesund zu werden. Das bedeutet, wir haben die Macht, unser Leben zu erschaffen statt es zu ertragen, und das ist eine wunderbare Erkenntnis.

Seine Denke auszuschalten ermöglicht uns auch, uns selbst wiederzufinden. Denn nur im gegenwärtigen Moment können wir in Kontakt kommen mit unserer Intuition, unserem angeborenen Wissen, unserer Kreativität und all unseren Stärken. In diesem Augenblick stehen wir auch in Kontakt mit dem Teil in uns, der verbunden ist mit dem gesamten Universum, von dem wir eine Komponente sind und das wir in uns tragen. Dieser innerste Kern, wie ich ihn gern bezeichne, ist einzig im Hier und Jetzt wahrnehmbar. Um in Kontakt mit ihm zu treten, müssen wir unsere Denke ausschalten. die ja alles daran setzt, uns einzuengen. Die Denke verhindert, dass wir uns kennenlernen und unser gesamtes Potenzial ausschöpfen, das immens ist.

Unsere Denke auszuschalten, erlaubt uns also zu leben, zu sein und uns so zu lieben, wie wir sind. Die Liebe gibt uns die Möglichkeit, uns anderen gegenüber zu öffnen. Es ist also ganz wesentlich, seine Aufmerksamkeit so häufig wie möglich auf den eigenen Körper und die Sinneseindrücke zu lenken. Wie wir gesehen haben, ist es gar nicht schwer. Es bedarf keiner großen Anstrengung, um dorthin zu gelangen.

Wie die Denke einem Kind nützt, das an Verlassenheit leidet

Kommen wir zu dem Kind zurück, das verlassen wird, und zwar von den Menschen, die es eigentlich lieben sollten, um es in seiner Entwicklung zu begleiten. Es erlebt großes Leid. Was es erleidet, ist derart grausam, dass es gut daran tut, sich der Gegenwart zu entziehen, damit es nicht zu wehtut. Das Ego stellt in diesem speziellen Fall die einzige Möglichkeit dar, die das Kind hat, um das Leid auszuhalten und zu überleben. Also entwickelt es sehr früh eine ausgeprägte Denke, die ihm erlaubt, sich von der Umwelt zu lösen und die Emotionen nicht zu verspüren, die durch das Erlebte wachgerufen werden. Was empfindet ein Kind angesichts dieses Mangels an Liebe, angesichts dieser Aggression? Trauer, sicher, aber doch hauptsächlich Wut. Und was für eine Wut! Was macht es damit? Wie jedes Kind bringt es die Wut ganz natürlich zum Ausdruck, indem es zum Beispiel schreit und weint. Was erhält es im Gegenzug? Aufmerksamkeit, aber nicht in Form von Liebe. Ganz im Gegenteil, es wird noch mehr Gleichgültigkeit erfahren, mehr Bestrafungen, Schreie und andere Reaktionen, die ihm schnell klarmachen, dass es besser ist zu schweigen, den Rücken zu beugen und das Wenige zu akzeptieren, das die Menschen, die sich um es kümmern, bereit sind zu geben.

In den Notaufnahmen werden oft Kinder behandelt, die Opfer des sogenannten Schütteltraumas werden. Ungefähr zehn Prozent dieser Kinder sterben an den Folgen, wenn sie von ihrem Vater, ihrer Mutter oder einer anderen Person, zum Beispiel der Tagesmutter, gewaltsam geschüttelt werden. 75 Prozent tragen bleibende Schäden davon. Diese „Unfälle“ treten meist bei Säuglingen unter einem Jahr auf. Die Eltern sind erschöpft oder wissen sich nicht mehr zu helfen, wenn ihr Kind ohne Unterlass weint. Das ist erschreckend, aber nur die Spitze des Eisbergs, denn wir sprechen hier von körperlicher Misshandlung. Es gibt weit subtilere Formen der Bestrafung, die leider sehr verbreitet sind. Eine der häufigsten besteht darin, Schreie oder Tränen unter einem erzieherischen Vorwand zu ignorieren. Wie nimmt das Kind diese Vorgehensweise wahr? Sie kann doch nur sein Gefühl der Verlassenheit vertiefen, sein Leid verschlimmern und es davon überzeugen, dass es keine Person ist, die man lieben kann.

Die Denke wird dem Verlassenen also von Kindheit an zum Weggefährten. Er wird Schutzmechanismen erschaffen, um das Problem zu lösen. Diese haben Konsequenzen:

Angst und Furcht: Der an Verlassenheit Leidende hat Angst davor, verlassen zu werden. Es ist das Schlimmste, was ihm passieren kann, denn das ruft jedes Mal die ursprüngliche Kränkung wach.
Schuldgefühle: Da das Kind nicht versteht, warum es zurückgewiesen wird, redet es sich ein, etwas Schreckliches getan zu haben, denn es wird ja nicht so geliebt, wie man es lieben müsste, und das weiß es in seinem Innersten auch. Diese Schuldgefühle werden es sein Leben lang begleiten, solange es das Problem nicht löst.
Urteile über sich selbst: Am häufigsten handelt es sich um eine Abwertung. Da der Verlassene glaubt, nicht geliebt werden zu können, meint er zwangsläufig voller Fehler, Unzulänglichkeiten und Beschränkungen zu sein, die aus ihm einen wertlosen, unzuverlässigen Menschen machen.
Mangel an Liebe: hauptsächlich gegenüber sich selbst, weshalb es Betroffenen auch schwerfällt, einen Anderen oder andere zu lieben.
Mangel an Gefühlen: Da der Verlassene häufig seit seiner frühen Kindheit seine eigenen Emotionen meidet, scheint er auch bei bestimmten Ereignissen nichts mehr zu empfinden, wodurch er hart, distanziert und kalt wirkt. Diese Haltung verstärkt natürlich den Mangel an Liebe, doch auch die anderen genannten Punkte.

Der Verlassene wechselt mit großer Leichtigkeit von einem zum anderen dieser Punkte, denn er kann nicht anders. Das erklärt einige der Verhaltensweisen, die ihn auszeichnen, und die Art, wie er eine Liebesbeziehung eingeht.

Die OGE-Methode

Diese Methode wurde 1997 begründet – hauptsächlich, aber nicht ausschließlich für all jene, die an Verlassenheit leiden. Sie hat sich als sinnvoll und wirksam erwiesen und soll hier kurz vorgestellt werden. Der Begriff OGE ist ein Wortspiel: die Umkehrung des Wortes Ego.

Als Allgemeinmediziner interessierte ich mich seit etwa zehn Jahren für das Thema Stress und sah mich häufig mit Patienten6 konfrontiert, die auf meine Frage, warum sie unter diesem und jenem litten, jedes Mal auf ein Ereignis oder eine Reihe von Ereignissen zu sprechen kamen, die ihnen wichtig schienen. Ihnen zufolge waren diese Ereignisse die Auslöser ihres Unwohlseins oder ihrer Erkrankung. Und jedes Mal waren die Emotionen, die durch diese Geschehnisse hervorgerufen wurden, nicht anerkannt, nicht empfunden und nicht ausgelebt worden.

Wie wir bereits gesehen haben, rufen diese nicht gelebten Emotionen Spannungen hervor, die das Auftauchen verschiedener Beeinträchtigungen begünstigen und die Ursache für eine geschwächte Gesundheit darstellen. Es geht also darum, den Betroffenen vorzuschlagen, ihre Probleme zu regeln, indem sie die von der Denke unterdrückten Emotionen ausleben. Erwachsenen fällt es jedoch sehr schwer, wieder in Kontakt mit allem zu treten, was sie freut, was sie traurig und was sie wütend macht. Ihr Ego ist darauf programmiert, sie von diesen Emotionen fernzuhalten. Das hat mich dazu geführt, das OGE-Konzept und die OGE-Methode zu entwickeln, ein sehr nützliches Instrument.

Das OGE-Konzept besteht darin, dem Betroffenen eine Begleitung anzubieten, die folgende Punkte berücksichtigt:

Der Einzelne soll in aller Freiheit und in geschütztem Rahmen Folgendes wiederfinden:► seine Selbstständigkeit (indem er sich von seinem Ego befreit)► seinen innersten Kern
Hemmschwellen, Ängste und Blockaden sollen aufgezeigt werden, um dem Betroffenen zu helfen, seine Selbstachtung, seine Emotionen, sein angeborenes Wissen, seine Kreativität und seine Intuition wiederzufinden, damit er lebt.
Jede Therapieform, bei der Macht ausgeübt wird, und alle Ansätze, die zu Entfremdung und Verleugnung des Betroffenen als einem autonomen Wesen führen, sind abzulehnen.
Liebe und Selbstrespekt sollen erlebbar werden, um das Wohlergehen zu wahren oder wiederherzustellen. Selbstrespekt und Liebe sind sowohl das Mittel als auch das Ziel dieses Vorgehens.

Bei diesem Konzept geht es darum, die Betroffenen zu begleiten. Ich will sie nicht leiten oder ihnen irgendwelche Haltungen oder Vorgehensweisen vorschreiben. Ich mache nicht die Arbeit, sondern stehe dem Betroffenen zur Seite, um ihm zu helfen, eigene Antworten und Lösungen für die Probleme zu finden, mit denen er sich konfrontiert sieht. Im gemeinsamen Voranschreiten kann der Betroffene genesen, indem er selbst den zu diesem Zweck geeigneten Weg findet. Diese Art von Begleitung kann nur im tiefsten, gegenseitigen Respekt stattfinden. Dazu gehören eine ordentliche Dosis Bescheidenheit aufseiten des Therapeuten oder Begleiters und großer Mut aufseiten des Hilfesuchenden. Ziel dieses Vorgehens ist es, dem Betroffenen dabei zu helfen, seine Autonomie wiederzufinden, also zu genesen. Der Autonomieverlust ist nämlich Synonym für Leiden, Unwohlsein sowie verschiedenste Symptome und Krankheiten. Seine Autonomie wiederzuerlangen bedeutet, sich hin zu mehr Wohlergehen zu entwickeln, indem man sich die Erlaubnis erteilt, sich zu lieben. Die Liebe ist das Fundament für diesen Ansatz, der höchst ambitioniert und vielversprechend ist.

Die OGE-Methode ist ihrerseits eines der Instrumente im Dienst dieses Konzepts, der Betroffenen sowie der Therapeuten und Begleiter. Sie fußt auf drei Stufen. Die erste ist eine unabdingbare Voraussetzung, ohne die der Übergang zu den nächsten beiden nicht möglich ist.

1 Seine Denke ausschalten.

2 Seine Emotionen anerkennen, spüren und ausleben.

3 Seine Intuition, sein angeborenes Wissen und seinen innersten Kern wiederfinden.

Dieses Vorgehen ermöglicht dem Einzelnen, sich so zu nehmen, wie er ist. Er wird dabei auf seine Stärken, seine Qualitäten und seine Kraft treffen. Und so wird es ihm gelingen, seinen Alltag besser zu leben. Die Methode kann auch bei Gruppen angewendet werden, die mit verschiedensten Widrigkeiten konfrontiert sind. Das Vorgehen ist nicht starr, es kann an die Bedürfnisse eines Einzelnen, einer Gruppe oder auch an ein ganzes Unternehmen angepasst werden. Die Wirksamkeit der Methode hat sich in unterschiedlichsten Zusammenhängen gezeigt. Sie eignet sich gleichermaßen für Erwachsene wie für Jugendliche und Kinder. Sie nützt zur Vorbeugung wie zur Heilung, bei Krisen wie bei chronischen Schwierigkeiten. Der Ansatz ist einfach darzulegen, aber schwieriger in der Umsetzung, denn die Denke ist sehr widerstandsfähig und gut organisiert. Die Methode steht jedem Menschen zur Verfügung, der an Verlassenheit leidet.

Mithilfe der in den folgenden Kapiteln vorgestellten Beispiele werden wir sehen, wie dieser Ansatz genutzt werden kann, um von einer Verlassenheit zu genesen, die sich häufig als Hinderungsgrund für ein erfülltes Gefühlsleben erweist, was immer auch unausweichliche Folgen für eine Partnerschaft hat.

Liebeskrisen

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