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Wettrennen im Morgengrauen

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Der Tanker mit dem exotischen Namen »Carcosa« war noch nicht ganz in die Fahrrinne eingeschwenkt, als Kevin den Wagen in Bewegung zu setzen versuchte. Natürlich war das für einen Achtzehnjährigen, der am Vortag seine Fahrprüfung bestanden hatte, nicht ganz so einfach wie für einen alten Hasen von Berufskraftfahrer. Mag sein, dass er mit seinem versuchten Schnellstart nur seiner sechzehnjährigen Schwester Sabine imponieren wollte, die neben ihm saß; auf alle Fälle wurde sein Vorhaben ein absoluter Schlag ins Wasser. Der Motor knurrte anfänglich bestialisch, dann begann er widerwillig zu tuckern und erstarb schließlich mit einem müden Schnaufer.

»Abgemurkst!«, sagte Kevin kleinlaut.

Zum Glück hatte sich ihr Vater inzwischen von der Reling der auslaufenden »Carcosa« entfernt und deshalb die Pleite seines Sohnes nicht mit angesehen. Er war als Ingenieur auf der »Carcosa« beschäftigt und hätte sich über das technische Unvermögen seines Sohnes vermutlich die Haare gerauft. Kevin stieß einen Seufzer aus. Und dabei war er so stolz darauf gewesen, dass sein Vater ihm für die Zeit seiner Abwesenheit zum ersten Mal die alte Familienkutsche überlassen hatte!

Sabine sagte nichts. Sie starrte immer noch gedankenverloren auf die blau gestrichene Außenhülle des mächtigen Schiffes, das jetzt von wendigen Schleppern aus dem Hafenbecken gezogen wurde, lauschte dem heiseren Tuten der Nebelhörner, träumte von Palmen und wünschte sich nichts sehnlicher, als mit an Bord gehen zu dürfen und die Reise in den Orient mitzumachen. Aber daraus wurde nichts. In elf Tagen waren die Schulferien zu Ende, und ihr Vater würde erst wieder in einem Monat nach Wilhelmshaven zurückkehren.

Der Winterurlaub hatte kläglich geendet, denn ihre Mutter hatte sich auf der Skipiste ein Bein gebrochen und saß nun zu Hause in der Obhut von Oma Hermine, die sofort mit dem D-Zug aus Wuppertal angereist war. Zu allem Übel hatte die Reederei Sabines und Kevins Vater unerwartet aus dem wohlverdienten Urlaub abberufen: Zwei andere Ingenieure der »Carcosa« waren erkrankt, und er musste für sie einspringen.

Obwohl Oma Hermine wenig vom Reisen hielt und selten über die Grenzen des Bergischen Landes hinausgekommen war, hatte sie zu Hause alles stehen und liegen gelassen, als der Hilferuf aus dem Norden per Telefon an sie ergangen war. Ihre Devise »Bleibe daheim und nähre dich redlich« vergessend, war sie — kaum mit einem Taxi vom Bahnhof gekommen — sogleich in die Küche geeilt und hatte ihrem Schwiegersohn Douglas ein kräftiges Frühstück bereitet. Dass sie bald wieder abreiste, war nicht zu erwarten. Sie wollte nach den Kindern sehen, solange ihre Tochter im Gips steckte.

Dass Sabine und Kevin sich nicht mehr für Kinder hielten, war natürlich eine andere Sache.

Kevin stellte fest, dass Sabine immer noch aus dem Wagenfenster starrte, beglückwünschte sich zu seiner verträumten Schwester und unternahm einen weiteren Versuch. Diesmal klappte es! Der Motor schnurrte wie ein Uhrwerk. Kevin atmete auf, schob den Gang ein und fuhr langsam an der Pier entlang. Obwohl sie niemand drängte und es erst sechs Uhr morgens war, konnte er es doch nicht lassen, auf die Tube zu drücken. Schließlich musste er herausfinden, was Vaters Kasten unter der Haube hatte. Leider war der Wagen ziemlich alt und für Rennen schon gar nicht geeignet.

Als sie die Hafenausfahrt hinter sich hatten, schoss urplötzlich aus einer Seitenstraße ein giftgrüner Kleinwagen heraus.

Sabine erwachte aus ihrer Träumerei, stieß einen entsetzten Schrei aus und hob die Hände. Aber nichts geschah. Kevin wich dem anderen Fahrzeug geschickt aus, brummte einen unverständlichen Fluch, tippte sich mit dem rechten Zeigefinger gegen die Stirn und gab Gas. Der Fahrer des anderen Wagens, ein bebrillter Mann in den Fünfzigern mit einem gezwirbelten Schnurrbart und einer Melone, der in Sabines Augen wie ein Waschbär wirkte, machte sich an die Verfolgung. Es dauerte allerdings eine Minute, bis Kevin auffiel, dass der Fremde hinter ihnen her raste.

»Was ist das denn für ein Knallkopf?«, fragte er unverblümt, als seine Schwester ihn auf den Waschbär aufmerksam machte.

»Er scheint ziemlich außer sich zu sein«, murmelte Sabine achselzuckend und warf einen Blick aus dem Heckfenster. »Du hättest ihm besser doch keinen Vogel zeigen sollen.«

Kevin lachte. »Ach was«, meinte er dann. »Wenn ein Polizist gesehen hätte, wie der Bursche sich benommen hat...« Er hielt plötzlich inne und schluckte hörbar.

»Glaubst du, er ist vielleicht Polizist?«, fragte Sabine lachend.

»Um Himmels willen!«, stöhnte Kevin entsetzt. »Mein Führerschein!«

»Er bleibt dran«, sagte Sabine zehn Sekunden später, was Kevin noch mehr verunsicherte. Unmerklich trat er auf den Gashebel.

»Willst du etwa sagen, ich hätte mich verkehrswidrig verhalten?«, fragte er nach einer Weile. Er hatte offenbar doch ein schlechtes Gewissen. »Ach was, der Kerl ist ein Wichtigtuer, der...«

Sabine schrie auf. Der Mann mit der Melone hatte jetzt aufgeholt und fuhr neben ihnen her. Als er die Höhe des alten Familienwagens erreicht hatte, schaute er aus dem Seitenfenster zu ihnen herüber und machte eine unverständliche Geste.

»Er will uns zum Halten zwingen«, stieß Kevin wütend hervor. »Nee, mit mir macht er das aber nicht!« Er beschleunigte.

»Kevin!«, rief Sabine. »Pass auf!«

»Keine Sorge.« Kevin steckte die Zungenspitze zwischen die Lippen und beugte sich vor. Der Fremde fiel zurück, fädelte sich wieder hinter ihnen ein und stimmte ein wildes Hupkonzert an.

»Jetzt dreht er völlig durch!« Kevin seufzte betroffen und hielt ernsthaft, aber vergeblich nach einem Streifenwagen Ausschau.

»Er gibt nicht auf«, stellte Sabine fest, als sie sich der Innenstadt näherten. »Wir sollten etwas unternehmen, Kevin.«

»Ha, ha!«, machte Kevin. »Und was? Anhalten etwa? Damit er auf uns drauf fährt?« Er drehte für eine Sekunde den Kopf nach hinten, was Sabine beinahe in Panik versetzte. »Vielleicht ist das auch nur ein Straßendieb... ein Automarder, der Leute ausplündert, die zeitig unterwegs sind...«

Sabine schauderte. Daran hatte sie noch gar nicht gedacht! Eine halbe Minute später schien Kevin seine Meinung jedoch zu ändern. Er holte tief Luft, peilte einen großen Parkplatz an, der sich rechterhand ausbreitete, und schwenkte von der Fahrbahn ab. Mit quietschenden Reifen jagte Kevin das Auto über eine vom Nieselregen feuchte Betonpiste, deren Umgebung im Halblicht des trüben Morgens unheimlich wirkte, und hielt an. Sabine schüttelte sich. Nebelschwaden zogen umher. Der ganze Platz war unbeleuchtet.

»Raus!« Kevin löste den Sicherheitsgurt, öffnete die Wagentür und stand wenig später im Freien. Es regnete immer noch, aber nicht mehr so heftig wie am Hafen. Sabine tat es ihm gleich. Der Fremde, der zunächst — wohl überrascht von Kevins flinker Abbiegungstaktik — hundert Schritte weitergefahren war, hielt an und fuhr im Rückwärtsgang auf sie zu. Dann wendete er mit klappernder Motorhaube und fuhr brummend auf den Parkplatz. Weniger als zehn Schritte von Kevin und Sabine entfernt hielt der Wagen.

Sabine stockte der Atem, als der fremde Mann ausstieg, denn sie war sich gar nicht mehr so sicher, ob sie nicht doch gegen eine Verkehrsregel verstoßen hatten. Sie fragte sich allerdings, warum der Mann keine Polizeikelle aus dem Seitenfenster gehalten hatte, wenn er wirklich ein Zivilfahnder war.

Trotz des Frühdunstes konnte Sabine sehen, dass der Fremde, der nun in leicht gebückter Haltung auf sie zukam, wesentlich kleiner war als ihr Bruder. Ihre Angst wich ein wenig. Kevin war kein Schwächling. Wenn der Fremde wirklich ein Automarder war, würde er mit Kevin kein leichtes Spiel haben — vorausgesetzt, er hatte keine Waffe. Kevin indessen schien weniger Selbstvertrauen in seine Kräfte zu haben, denn es war seine Stimme, die jetzt mit einem merkwürdig zittrigen Unterton fragte: »Was wollen Sie von uns?«

Der Waschbär hob den Kopf und sagte: »I beg your pardon, Sir, but... Do you speak English?«

Natürlich sprach Kevin Englisch. Er sprach es sogar ganz ausgezeichnet und fließend, ebenso wie Sabine, was ja schließlich nicht ungewöhnlich ist, wenn man einen schottischen Vater hat und in der Schule die Ohren auf Sturm stellt, sobald die zweite Muttersprache durchgenommen wird.

»Ich verstehe Sie.«

Der Fremde schien aufzuatmen. Er streckte die rechte Hand aus und sagte: »Das beruhigt mich, wahrlich und wahrhaftig! Ich dachte schon, ich hätte mich getäuscht und wäre einem fremden Wagen hinterher gefahren.«

Kevin und Sabine verstanden immer noch nichts und warfen sich fragende Blicke zu. Was wollte der Mann von ihnen?

Er kam jedenfalls schnell zur Sache. »Mein Name ist Kenneth F. Slater«, sagte er und überreichte Kevin und Sabine eine Visitenkarte. »Ich arbeite als Notar in Edinburgh und befinde mich aus geschäftlichen Gründen in Wilhelmshaven.« Er holte tief Luft und deutete auf Kevin. »Ihre Reederei hat mir gesagt, wo ich Sie finden kann, Mister McIntyre, und die Leute dort haben mir eine Beschreibung und die Nummer Ihres Wagens gegeben.« Er hüstelte verlegen. »Es ist sehr ungemütlich hier draußen. Sollten wir uns nicht an einen anderen Ort begeben?«

»Wie? Wer? Was? Wann?«, fragte Kevin verdattert. Ihm wurde klar, dass dieser mysteriöse Kenneth F. Slater aus Edinburgh ihn mit seinem Vater verwechselte, der soeben im Begriff war, mit der »Carcosa« auf die südliche Halbkugel der Erde zu entschwinden. Es war alles nur ein Versehen! Da hatte er diesem Mann, der offenbar geschäftlich mit seinem Vater zu tun hatte, ein Wettrennen geliefert — und dabei hätte er ihn an der Pier möglicherweise noch erreichen können. »Ich bin ein Trottel!«, sagte Kevin.

»Wie belieben?«, fragte Mr. Slater, der kein Wort Deutsch verstand.

Ein Satz genügte allerdings, um ihn davon in Kenntnis zu setzen, dass er sich auf eine völlig falsche Fährte begeben hatte. Dann war Mr. Slater mit dem Auf stöhnen dran.

»Oh, wie entsetzlich!«, rief er aus, als er begriff, nicht den Gesuchten, sondern dessen Sohn vor sich zu haben. »Das könnte die Chancen für Sie unglaublich schmälern!«

Sabine hatte den Eindruck, dass es jetzt an der Zeit sei, klärend in das festgefahrene Gespräch einzugreifen. Kevin, dem offenbar noch der Schreck der Verfolgungsjagd in den Knochen saß, schien ihr momentan als Auflöser von Rätseln ungeeignet. »Was wollen Sie von unserem Vater, Mister Slater?«, fragte sie rundheraus.

»Oh«, machte Mr. Slater, sichtlich beeindruckt von der Resolutheit des Mädchens in der blauen Latzhose. »Es handelt sich um eine Erbschaftsangelegenheit. Sir Roderick, der einundzwanzigste Earl of Pluckerwank — seine Familie ist allerdings unter dem Namen McPherson weitaus bekannter geworden, wenn ich mir diese kleine Abschweifung erlauben darf —, hat das gesamte lebende und tote Inventar seiner Hinterlassenschaft Mister Douglas McIntyre, wohnhaft seit 1961 in Wilhelmshaven, vermacht. Deswegen wollte ich ihn sprechen.«

»Wir erben!«, jubelte Kevin, der den Schock jetzt tadellos überwunden hatte, und riss Sabine in seine Arme. »Wir werden Millionäre!«

»Harrrumpf«, machte Mr. Slater und zog sich die Melone wegen der jetzt wieder dichter fallenden Regentropfen tiefer in die Stirn. »Nun, bevor es sich lohnt, in Freudentränen auszubrechen, mein junger Freund, sollten noch einige... äh... Dinge geklärt werden. Ich möchte es mir deswegen erlauben, meinen soeben geäußerten Vorschlag noch einmal zu wiederholen und...«

»Kommen Sie mit!« Kevin packte den verwirrten und durchnässten Notar begeistert am Jackenärmel. »Wir fahren sofort zu uns nach Hause. Mama wird der Schlag treffen, wenn sie von der Geschichte hört — und Oma...«

»Hoffen wir im Interesse ihrer Gesundheit, dass das nicht der Fall sein wird!« Mr. Slater hüstelte und entblößte freundlich lächelnd sein ein wenig zu groß geratenes Gebiss. »Ich werde mit meinem Wagen hinter Ihnen her fahren.«

»Klar«, sagte Kevin und schubste seine sprachlose Schwester auf den Beifahrersitz des Autos.

Die weiße Lady von Laggin Castle

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