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Putschertod
ОглавлениеEinführung: Paula und wie sie die Welt sieht
Es ist warm an diesem Mittwoch. Während Ulla sich in den ersten Stock verzogen hat, um da die Zimmer sauber zu machen, nimmt sich Paula den Flur vor. Von der Rezeption her hört sie es klingeln. „Ja, hier ist das Waldhotel in Marienheide“, vernimmt sie die angenehme Stimme der jungen Dame am Empfang, deren Namen sie sich einfach nicht merken kann. „Ja, Herr Putscher, das machen wir. Zwei Personen für drei Nächte. Sehr gerne.“
Paula durchzuckt es plötzlich: Putscher. Da war doch was. Diese alte Figur in Wipperfürth, wo sie mal im Hansecafé geputzt hat. Damals erlebte sie die düsteren Ereignisse hautnah mit, die sich in der Hansestadt zutrugen. Unerfüllte Liebe, Machtbesessenheit und Eifersucht vermengten sich zu einem gefährlichen Cocktail. Und dann war da ja noch dieser Zeitungsreporter, der dem Ganzen auf die Spur ging. Sie schaudert noch heute, wenn sie daran zurückdenkt …
Die Geschichte
April
„Mama, ich treffe mich heute Abend mit Till“, rief Katja durch die geschlossene Badezimmertür ihrer Mutter zu, die gerade ein ausgiebiges Wannenbad nahm. „Äwer kumm nicht te späh, morne musste wir arbeien“, Uschi sprach noch das urtümliche Wipperfürther Platt. Katja lächelte. Es hatte wieder mal geklappt. Die gertenschlanke Achtzehnjährige verdrehte die Augen, schlug die Tür hinter sich zu und rannte vom Hochhaus hinunter in die Stadt, wo am Surgères Platz ein schwarzes BMW-Coupé auf sie wartete. Sie wusste, ihre Mutter würde am Abend bestimmt wieder beim Fernsehen einschlafen und erst am anderen Morgen auf der Couch wach werden. Ein paar Gläser Wein garantierten ihr eine friedliche Nachtruhe. „Seit gestern bin ich volljährig“, dachte sie stolz, „und ich will endlich raus aus diesem Kaff.“ Uschi rekelte sich in der Badewanne und goss noch etwas Badeöl nach. Es gab doch nichts Besseres, um sich zu entspannen! Gleich würde sie es sich auf der Couch bei einem Glas Wein und ihrer Lieblingsserie gemütlich machen.
Im Brauhaus stand Till an der Theke und schüttete sich verbissen ein Kölsch nach dem anderen hinter die Binde. Er hatte Katja in das Auto einsteigen sehen und ihm war alles klar.
„Wohin fahren wir?“, fragte das Mädchen. Unterwegs hatte sie den Pferdeschwanz gelöst, so dass ihre dunklen Locken bis über die Schulter fielen. Katja hatte sich mit ihrer engen Jeans aufgebrezelt und ihr bauchfreies Top angezogen, bei dem ihr Nabelpiercing so schön zur Geltung kam. „Oh, ich werde dich überraschen. Heute zeige ich dir was Tolles“, versprach Paul. Aus dem Handschuhfach holte er eine kleine Schachtel. Neugierig riss sie das Papier ab und öffnete sie. „Ohrringe“, strahlte sie, „die sind aber schön!“ Ungeduldig entfernte sie ihre kleinen Creolen und befestigte die neuen versilberten Stecker, die wie Herzchen geformt waren. Rasch küsste sie ihn auf die Wange. „Zum Geburtstag. Echt Platin“, versicherte Paul. Ein Lächeln umspielte seinen Mund. Er wusste, er hatte wieder einmal gewonnen. Paul war sechsunddreißig und kannte das Leben. Volles, dunkles Haar, schlanke Figur, Dreitagebart und perfekt in Schale, darauf fuhren sie alle ab. Er brauchte nur mit dem kleinen Finger zu zucken. Und nicht nur bei Mädchen funktionierte das. Er fuhr gern zweigleisig durchs Leben, hatte sich nie endgültig für eine Richtung entscheiden können. Was soll’s denn, sagte er sich, man lebt eben nur einmal. Katja kuschelte sich auf ihrem Sitz zusammen. So mussten sich die Reichen und Schönen fühlen, so sicher, so aufgehoben. Sie war das Leben bei ihrer Mutter, die nicht über den Tellerrand hinweg schauen konnte, so unendlich leid, dazu noch die schäbige Wohnung, der ewige Geldmangel. Ihr Aushilfsjob in einer Bäckerei war ihr von Anfang an verhasst gewesen. Aber etwas Besseres hatte sie mit ihrem Schulabschluss so rasch nicht gefunden. Sie wollte ein anderes, ein richtiges Leben, raus aus dem Mief. Paul holte aus dem Handschuhfach einen Piccolo heraus und öffnete es. „Hier, zur Einstimmung“, bot er an. „Oh. Sekt. Klasse“, freute sie sich und nahm einen Schluck.
„Ich zeige dir meine neue Wohnung. Habe mir ein Loft gekauft. In Wuppertal, große Klasse“, strich er seine neue Errungenschaft heraus, ließ den Motor aufheulen und brauste los.
Mai
Carsten trat aus dem Bad und schloss die Tür hinter sich. Im Wohnzimmer stand Max am Fenster und starrte hinunter auf die Klosterstraße. Er drehte sich nicht um, als Carsten hinter ihn trat. „Willst du es dir nicht noch mal überlegen?“, hörte er seine brüchige Stimme. Als er seine Hand auf seiner Schulter spürte, wich er ihm aus und tat ein paar Schritte seitwärts in den Raum hinein. „Nein, es ist endgültig. Und überhaupt …“, er verschluckte den Satz, den er sagen wollte, stattdessen kam ein lahmes „gegen seine Gefühle kann man nichts machen“, heraus. Ein paar Takte aus „Rise Like A Phoenix“ ertönten. Ehe das Motiv ganz verklungen war, hatte Max sein Handy schon am Ohr. „Ja, gleich“, hörte Carsten ihn sagen, „ja, ich habe es ihm gesagt. Ja, heute Abend. Ich freue mich auch, ja, ich dich …“. Die Schlafzimmertür schlug zu. Carsten starrte Max hinterher. Während der letzten Tage mit den endlosen Streitereien und Diskussionen hatte er es geschafft, ruhig zu bleiben. Nun stieg mit der Gewissheit des Verlustes pure Verzweiflung in ihm auf. Max trat in die Tür, hinter ihm im Flur standen zwei gepackte Reisetaschen und ein Koffer. Lässig zog er ein Bündel Scheine aus der Tasche und warf sie auf den Tisch. „Das ist das Geld, das du mir für meinen Wagen geliehen hast. Abgezählt, brauchst nicht nachzählen.“ Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss. Carsten starrte ihm nach, überrascht und enttäuscht von dieser letzten Geste. Drei Jahre waren sie Lebensgefährten gewesen, sein Freund und er. Das sollte jetzt alles vorbei sein? Mit beiden Händen fuhr er sich durch sein schon etwas schütteres, graumeliertes Haar. Es tat weh, verdammt weh! Seine Gefühle waren so verletzt. Nie hätte er sich träumen lassen, dass er einmal wegen eines Kerls so leiden würde. Es ist doch ewig dasselbe mit der Liebe. Man glaubt, sie für immer gefunden zu haben, und dann stellt sich doch heraus, dass alles gelogen war. Was sollte er tun?
Noch immer Mai
Max, knapp bekleidet mit Tanktop und Tanga, rekelte sich auf der breiten Couch. Es gefiel ihm außerordentlich gut in Pauls Wohnung. Allein in dem riesigen Wohnraum hätte eine Großfamilie leben können. Nebenan gab es noch Schlafräume, Bäder, Hauswirtschaftsräume und eine Wendeltreppe, die hinauf zu einer Dachterrasse führte. Gern wäre er hier eingezogen, aber Paul hatte das abgelehnt, als er ihm den Vorschlag gemacht hatte. In der Nähe hatte er ihm ein Appartement gemietet und besaß dafür einen Zweitschlüssel, so dass er zu jeder Zeit zu ihm kommen konnte, Max dagegen hatte er keinen Schlüssel zu seinem Loft überlassen. Er war der Dominierende und bestimmte, wann und wo sie sich trafen. Im Gegenzug hatte er ihm erlaubt, ein Semester seines Studiums auszusetzen. Max war im vierten Semester, hatte aber wenig Lust am Jurastudium, würde gern etwas anderes beginnen. „Hunger?“, fragte Paul und beugte sich über seinen Lover. „Mhm, ja ein bisschen“, Max schmollte, „du hast so wenig Zeit für mich.“ Paul schaute ihn an: „Einer muss ja das Geld verdienen, oder? Wir fahren jetzt in die Stadt. Ich habe da ein geschäftliches Treffen. Du fährst mit und kannst meine Geschäftsfreunde kennenlernen. Vielleicht interessiert dich ja, wo das Geld für unser üppiges Leben herkommt. Zieh dich schick an, ich will mit dir angeben.“ Als ob ihm gerade erst dieser Gedanke gekommen wäre, bemerkte er: „Und wenn du willst, habe ich einen guten Job für dich!“
Juni
Inzwischen konnte Carsten wieder etwas klarer denken. Er hatte sich intensiv mit seiner Situation auseinandergesetzt. Dabei hatte ihm – so komisch es auch schien – seine Berufserfahrung geholfen. Sein Job als Sozialarbeiter brachte ihn mit vielen Menschen zusammen. Manchem hatte er auch in vertrackten Lebenssituationen geholfen, nun versuchte er, sich selbst zu therapieren. Nach dem Rasieren betrachtete er sich kritisch im Spiegel. Sein Gesicht, nun, das war nicht mehr faltenlos, aber markant mit einem ausgeprägten Kinn und wachen Augen, die noch nichts von ihrem strahlenden Blau eingebüßt hatten. Für einen Mann Anfang sechzig noch ganz ordentlich, oder? Nachdenklich betrachtete er das breite Bett. Es schmerzte noch immer. Wie gern hätte er gewusst, mit wem Max jetzt zusammen war. Er hatte versucht, ihn anzurufen, aber ganz offensichtlich hatte Max eine neue Handynummer. Auch seine neue Adresse konnte er nicht ausfindig machen, laut Einwohnermeldeamt hatte Max sich nicht umgemeldet. Den Kerl, der ihn jetzt hatte, würde er gern kennenlernen. Was hatte er, was ihm abging? Aber allein wollte er nicht bleiben, auf gar keinen Fall. Carsten wählte einen Sportdress, weil er ins Fitnessstudio wollte, verließ das Haus und betrat die Klosterstraße. Er liebte die enge, abschüssige Straße mit ihrem fast anachronistischen Gepräge.
Nach wenigen Schritten befand er sich am Wipperfürther Marktplatz mit dem imposanten Rathaus. Schon immer hatte er sich für die Stadtgeschichte von Wipperfürth interessiert, deren Ursprünge nachweislich bis ins 12. Jahrhundert und ohne Zweifel darüber hinaus noch weiter zurückreichten. Freitags war normalerweise Wochenmarkt, und immer, wenn es seine Arbeit erlaubte, verbrachte er seine Mittagspause am Fischstand. Er mochte den Marktplatz, besonders aber im Sommer, wenn man draußen verweilen konnte, sich mit Freunden in den umliegenden Gaststätten zum Essen oder zum Bier verabredete. Draußen zu sitzen, bedeutete für ihn ein Gefühl von Freiheit.
Bei einem dieser Mittagspausen hatte er Max kennengelernt. Schon bei ihrer ersten Begegnung war alles klar gewesen. Anfangs war es zweifellos pure Geilheit gewesen, die sie aufeinander zugetrieben hatte. Später war es mehr geworden, für beide, wie er es viel zu gern geglaubt hatte. Jetzt war alles vorbei. Ihre Liebe war ein Irrtum gewesen, eine Berechnung von Max. Er überquerte den Marktplatz, schritt die Gasse zwischen Hansecafé und Kreissparkasse hindurch und lief über die Untere Straße hinweg durch die Kirchgasse hindurch auf den Platz vor der Kirche. Einen Augenblick schaute er zum überragenden Turm hoch, dann bog er auf den Hausmannsplatz hinter der Kirche Richtung Wupper ein.
Nahe dem Ufer des Flusses stand die kleine Steinfigur des „Putschers“, eines Wipperfürther Sonderlings, der zu Lebzeiten Fritz Hamel geheißen hatte, und viele Jahre lang Tag für Tag durch die Stadt gezogen war. Man konnte ihm überall und an den unmöglichsten Orten der Stadt begegnen. Abends hatte er sich in eine Schlafstelle verkrochen, die ihm mitleidige Menschen zur Verfügung gestellt hatten. Jeder hatte ihn gekannt. Manche Leute mochten ihn, manche spotteten über ihn, machten sich auch über ihn lustig oder fanden ihn einfach nur eklig. Nach seinem Tod hatte ein Wipperfürther Gastwirt für die Errichtung eines steinernen Denkmals gesorgt. So war der „Putscher“ im Gedächtnis der Bevölkerung geblieben.
Dicht dabei lag das Fitnessstudio, das Carsten nun schon lange nicht mehr besucht hatte. Kurzentschlossen trat er ein und meldete sich an. Es waren gerade einige Geräte frei, so dass er gleich mit seinem Training beginnen konnte. Sein Blick schweifte durch den Raum, wo sich mehrere Männer an den Geräten abarbeiteten und blieb an einem gutaussehenden Blonden hängen. Das war Sven, den er noch von früher kannte. Sven war schwul, das wusste er definitiv. Was für eine Chance, dachte er. Wenn Sven keinen Partner hat, dann könnte es vielleicht etwas werden.
Juli
Uschi klopfte an die Tür von Jasmin, ihrer Freundin. Wand an Wand lebten sie im sogenannten Hochhaus auf der Sanderhöhe, einer Siedlung, die nördlich vom Zentrum lag, durch die Wupper getrennt. „Hässe ins Tid för’n Kaffee?“, rief sie durch die geschlossene Tür. Die Frauen passten eigentlich überhaupt nicht zusammen. Jasmin war das aber egal. Bei Uschi konnte sie sich leger und ungezwungen geben, brauchte sich nicht zu verstellen. „Ich bin in der Unterhaltungsbranche“, sagte sie jedes Mal, wenn sie nach ihrem Beruf gefragt wurde. Was sich hinter dieser illustren Bezeichnung verbarg, wusste nur sie. In Wahrheit arbeitete sie für eine Begleitagentur. Gutes Aussehen, sicheres Auftreten und eine klare Artikulierung waren hier sehr wichtig. Darüber hinaus besaß sie noch einige nützliche Talente mehr. Geld hatte sie reichlich, denn sie hielt ihre Euros zusammen. „Ich mache das noch ein paar Jahre“, sagte sie sich immer, „ich muss schließlich für meine Rente sorgen.“ Uschi war da ganz anders. Bei Aldi an der Kasse verdiente sie ganz ordentlich; aber sie war eben nur halbtags beschäftigt. Zu einem Zusatzjob hatte sie keine Lust. Bei ihrem gesunden Phlegma brauche sie Zeit für sich selbst, dazu stand sie. Und diese Stunden verbrachte sie gern mit einem netten Plausch mit Bekannten, Freunden oder aber mit Jasmin, wenn diese wieder einmal im Lande war. War sie in der Stadt zum Einkaufen, konnte es gut vier Stunden dauern, bis sie wieder oben in ihrer Wohnung war. Einen Kaffee im Hanse, ein Bierchen in der Penne, das brauchte nun mal seine Zeit. Sie war nun einundfünfzig, und ihre Figur ähnelte der einer Walküre. Dagegen wirkte Jasmin filigran mit ihrer schlanken Taille und den zarten Gesichtszügen, die eine schokoladenfarbene Haarpracht umrahmte. Sie trat auf den Korridor hinaus. Der dunkle Kaschmirmantel kleidete sie vorzüglich. Lässig schwang sie eine Umhängetasche von Chloé über die Schulter. „Sorry, Schatz, ich habe es eilig“, sagte sie zu Uschi, „muss sofort weg, bin schon spät dran.“ Sie zuckte bedauernd die Schulter, lächelte ihr entschuldigend zu und lief die Treppe hinunter. „Keine Zeit, muss dringend zu einem Termin nach Wuppertal. Morgen bin ich wieder da.“ „Un wat maak ik jetz?“, fragte sich Uschi laut.
Katja saß auf der breiten Couch in Pauls Wohnung. „Ich will das nicht“, rief sie aufgebracht, „ich will nach Hause. Sofort!“ Paul ließ sich neben ihr auf dem Lager nieder. „Schau mal“, begann er wieder und versuchte, so viel Gefühl wie es ihm möglich war, in seine Worte zu legen. „Ich helfe dir und deiner Mutter. Die zehntausend Euro kriegst du am Freitag, damit ist doch alles gut. Und dafür begleitest du mich zu Freunden. Du brauchst ja nur ein bisschen nett zu ihnen zu sein, ein bisschen flirten, sonst nichts. Ich will doch mit dir angeben und zeigen, was ich für eine tolle Freundin habe. Liebst du mich denn nicht mehr, Hase?“ Sanft strich er ihr über den Rücken. Sie starrte ihn an: „Sonst nichts?“, fragte sie, „bestimmt nicht?“
„Ganz bestimmt nicht, Schatz“, beteuerte er und nahm sie in die Arme. Er küsste sie, erst sanft und zärtlich, dann fordernd und hart und legte sich neben sie. Aufgewühlt vergrub sie den Kopf an seinem Hals und klammerte sich an ihn. Sie liebte ihn doch so sehr, und er liebte sie doch auch. Und wenn man sich liebte, konnte man sich doch alles sagen. Deshalb hatte sie ihm auch von den Geldsorgen ihrer Mutter erzählt und von Till. Und jetzt würde er sie wieder glücklich machen. Stets wusste er, was sie mochte. Er grinste an ihrem Kopf vorbei und wusste, es würde wohl kaum Schwierigkeiten geben. Langsam schob er ihren Pullover hoch. Erwartungsvoll hielt sie den Atem an. Er hatte sie gelehrt, dass Sex Spaß machte. Später half er ihr auf und drückte ihr einen raschen Kuss auf die Wange. „Am Freitag hole ich dich ab, dann kannst du das Geld haben. Abends begleitest du mich zu einer Party. Deiner Mutter sagst du einfach, Till habe dir das Geld geliehen. Wenn sie so ist, wie du sie schilderst, macht sie sich um die Rückzahlung keine Gedanken und wird ihn nie darauf ansprechen.“ Er brachte sie bis zum Kölner-Tor-Platz und raste in Windeseile wieder zurück. Er wollte noch mit Max zu einer Party fahren.
Uschi schaute sich in ihrem Wohnzimmer um. Schäbig sah das alles aus, die zerschlissene Couch im Wohnzimmer, die dunkle Schrankwand aus den Achtzigern, der verschrammte Tisch. Das würde nun alles anders werden. Nach dem Ausgleich des Mietrückstands war noch Geld übrig geblieben, davon würde sie eine neue Wohnzimmereinrichtung kaufen. Aber etwas ganz Tolles, Schickes, moderne helle Möbel auf jeden Fall. Super, dass Till Katja so viel Geld geliehen hatte. Die beiden waren wohl wirklich ganz dicke zusammen. Eigentlich könnten sie doch bald schon heiraten, fand sie. „Jung gefreit, nie gereut“, hatte ihre Mutter doch immer gesagt. Na ja, es hatte in ihrem Fall nicht gestimmt, aber was soll’s? Sie lief über den Flur zu Jasmins Wohnung und klingelte zweimal kurz, ihr vereinbartes Signal. „Hallo, Jasmin“, rief sie ihr entgegen, kaum, dass ihre Freundin geöffnet hatte, „ik mut die wat vertellen.“ Als die beiden bei einem Glas Sekt beieinander saßen, begann Uschi mit ihrem Bericht von den zehntausend Euro, die Katja von ihrem Freund bekommen hatte. „Un janz ohne Zinsen, un mie soot dä Vermieter janz schön im Jenick. Fö kottem wullte ik dik alt aanpumpen, äwer nu bin ik froh, dat et so jekommen is. Stell die vö, jetz häv ik noch Jeld üwerich. Dovan koop ik mie in neu Möbele für de joode Stuff. Is dat nich dull?“ Jasmin schaute sie nachdenklich an. „Freust du dik nich vö mik?“, fragte Uschi, beinahe beleidigt. „Ich weiß nicht“, Jasmin wusste nicht ob sie sich wirklich mit ihrer Freundin freuen sollte. „Du musst das doch wieder zurückzahlen. Gib doch lieber das übrige Geld sofort zurück, was meinst du?“ Uschi war nun wirklich beleidigt. „Ik häv et doch nu ins enmool un die Chance, endlich doch ins wat Neues te häven. Jünn mi dat doch eenfach ins.“ Jasmin öffnete ihre Handtasche. „Schau, ich gebe dir fünfhundert, und die brauchst du mir nicht zurückzugeben. Sag Katja, sie soll Till das Geld wieder zurückgeben.“ Uschi stand auf. „Van die neämm ik nix. Jeld matt ne Freundschaft kaputt.“
„Und Till?“, wollte Jasmin fragen, „der ist doch Katjas Freund?“, aber sie schwieg, um die Stimmung nicht noch mehr aufzuheizen. Uschi ging bald hinüber in ihre eigene Wohnung, ihre Freude über das viele Geld hatte einen gehörigen Dämpfer bekommen. Jasmin hatte ihr den ganzen Spaß verdorben.
Die Wohnungstür klappte, Katja war nach Hause gekommen. Sie lief ihr durch den Flur entgegen. „Schätzchen, schön dat du doo bis. Wull vie ins jlick Möbelkatalore dürchkieken? Et is doch noch Jeld üwerich.“ Katja schaute sie mit einem seltsamen Blick an. „Möbelkataloge? Wieso Möbelkataloge?“, fragte sie. „Et is doch noch Jeld üwerich“, wiederholte Uschi, „ik dachte, vie künnt ins noo neuen Wohnzimmermöbeln …“
„Wohnzimmermöbel!“, höhnte Katja, ohne sie aussprechen zu lassen, „hast du denn keine anderen Sorgen? Wohnzimmermöbel!“ Damit klappte die nächste Tür und Katja war in ihrem Zimmer verschwunden. Uschi starrte ihr mit offenem Mund nach. Was war denn mit dem Kind los? So war Katja ja noch nie mit ihr umgesprungen. Ihr erster Impuls war, ihr nachzugehen, dann aber blieb sie stehen. Lieber nicht, dachte sie, sonst flippt sie mir ja noch ganz aus. Aber was hat sie nur?
August
Till wartete im Brauhaus am Marktplatz auf Katja, die ihn angerufen hatte. „Till, können wir uns treffen, bitte?“, hatte sie gebeten. Außer Atem kam sie angeradelt. „Meine Mutter“, keuchte sie, „es ist schrecklich mit ihr. Ich halte es nicht mehr aus. Du musst mir helfen.“ Sie setzten sich an einen Tisch. Katja sah blass aus, übernächtigt und irgendwie krank. Sie bestellten zwei Cola. „Du bist gut“, sagte er bedächtig, „einmal sagst du, es ist aus und bist mit dem komischen Sportwagen-Typen zusammen. Jetzt auf einmal willst du wieder was von mir wissen?“ Sie tat ihm leid. Ihre Stimme hatte am Telefon so merkwürdig geklungen, irgendwie hilflos. Und damit hatte sie ihn ins Innerste getroffen. Sie war immer „sein Mädchen“ gewesen, schon seit der Schulzeit hatte er sie geliebt, und seine Gefühle für sie waren mit den Jahren weiß Gott nicht kleiner geworden. Katja standen die Tränen in den Augen. „Ich weiß, es war blöd von mir. Wahrscheinlich habe ich mir etwas vorgemacht, weil er so ein geiles Auto hat und die riesige Wohnung und so. Aber jetzt“, sie schluchzte auf einmal laut auf, „er ist ganz anders, als ich dachte.“
„Dann mach Schluss mit ihm und fertig.“ Schnell war er mit seinem Rat bei der Hand. Er begriff sie nicht. Katja stand auf und wandte sich zur Tür. „Du willst das nicht verstehen, so einfach ist das nicht. Es tut mir leid, dass ich dich angerufen habe.“ Schon war sie draußen. Er warf eine Münze auf den Tisch und rannte ihr über den Vorplatz hinterher. Zu spät, sie war schon fort. Am Abend stand wieder der schwarze BMW auf dem Surgères Platz.
September
Immer öfter hatte er sie angerufen, um sie zu seinen Partys nach Wuppertal zu holen. Katja konnte nicht mehr, war verzweifelt und begann sich ernsthaft zu wehren. „Lass mich in Ruhe, ich will nichts mehr mit dir zu tun haben“, schrie sie Paul an, als er sie wieder einmal zu einem Treffen befahl. „Das wirst du dir nochmal überlegen“, kam es postwendend zurück. „Du bist heute Abend an der gleichen Stelle, oder ich erzähle deiner Mutter, was du machst! Du wirst schon sehen“, hatte er sie gewarnt. Da war sie doch wieder auf den Surgères Platz hinuntergelaufen. Aber als sie seinen Wagen sah, war ihre Verzweiflung so groß, dass sie nicht einsteigen konnte. „Ich will nicht mehr“, rief sie ihm durchs Fenster zu, wandte sich um und rannte verzweifelt fort. Quer über die Straße hinweg, über die Kreuzung und in die Gartenstraße hinein rannte sie, als ob der Teufel hinter ihr her sei. Nun ertönte ein Motorengeräusch hinter ihr, dessen Sound sie ganz genau kannte. Seitwärts hetzte sie in die Zufahrt zum Hausmannsplatz hinein und dann weiter Richtung Wupper. Dann hörte sie Schritte hinter sich. Bis zur Figur des Putschers kam sie, dort hielt sie außer Atem einen Moment still. Im gleichen Moment riss sie jemand an der Schulter herum, ein Faustschlag traf sie so heftig in den Magen, so dass sie wie ein Taschenmesser zusammenklappte. Den Tritt gegen ihren Kopf hatte sie noch gespürt, dann war alles dunkel geworden. Sie lag auf dem Boden, als sie wieder zu sich gekommen war. Ihr Kopf und ihr Körper schmerzten und ihr Magen rebellierte. Mühsam rappelte sie sich auf und humpelte nach Hause.
Frank Spackig, Zeitungsreporter des Lokalblatts, war noch spät unterwegs. In der Alten Drahtzieherei hatte eine Band gespielt. Müde trat er aus dem Foyer auf die Straße. Er beschloss, noch in die Redaktion zu gehen, um die Fotos, die er gemacht hatte, in den Redaktionscomputer einzustellen, und schlug den Weg über die schmale steinerne Wupperbrücke ein, die auf den Hausmannsplatz mündete. Als die Glocke einmal schlug, schaute er instinktiv zum Kirchturm. Viertel nach elf, stellte er fest. Quer über den Platz torkelte ihm ein Betrunkener entgegen. Vor sich hin brabbelnd, näherte er sich dem Putscherdenkmal: „Du armes Männchen, ich werde dir jetzt was zu trinken geben.“ Während er an seiner Hose herum nestelte, geriet er ins Wanken. „Schei …. ße“, stöhnte er und schlug lang hin. Sein Kopf knallte auf den Sockel der Figur. Frank war stehengeblieben und hatte der Aktion des Betrunkenen zugeschaut. Als dieser stürzte, rannte er zu ihm hin. „Warten Sie“, Frank wollte ihm aufhelfen, als er sah, dass der Mann heftig aus einer Kopfwunde blutete und sich nicht rührte. Frank überlegte keine Sekunde und wählte den Notruf. Es dauerte nicht lange, bis der Notarztwagen kam. „Bestimmt eine Gehirnerschütterung, wenn nicht mehr“, konstatierte der Notarzt und wies die Sanitäter an, den Betrunkenen sofort in die Heliosklinik zu transportieren. Frank schüttelte den Kopf, als sie fort waren, und versuchte, die Blutlache am Fuß des kleinen Denkmals zu fotografieren. Da fiel ihm etwas auf. Nicht nur am Boden war Blut, sondern auch an der Figur selbst. Jedoch nicht an der Seite, an der der Betrunkene hingeschlagen war. Sehr viel Blut befand sich auch auf der anderen, der rechten Seite. Am Mützenrand der Figur war ein dunkler Blutfleck und unterhalb der Figur auf der gleichen Seite entdeckte er ebenfalls viel Blut. Das konnte auf keinen Fall von dem Betrunkenen stammen. Frank fotografierte und fotografierte, viel zu hektisch, man würde sehen, ob die Bilder etwas geworden waren. War das ein Abend! „Da steckt eine gute Story drin“, freute er sich und rief die Polizei an.
Während er wartete, ging er noch hinüber zur Wupperbrücke. Dort hielt er inne. Durch einen mehrtägigen Regen war die Wupper kräftig angeschwollen, schäumend stürzte das Hochwasser unter der Brücke flussabwärts. Wegen der Dunkelheit konnte er jedoch kaum etwas erkennen. Dann kam der Streifenwagen auf den Platz gefahren. Einen der beiden Beamten, die ausstiegen, kannte er: Es war Theo Hoffmann, mit dem er im Hansecafé ab und an ein Bier trank. Frank erzählte, was geschehen war. Mit Taschenlampen leuchteten die Männer die Unglücksstelle aus, richteten ihr Augenmerk auf die blutigen Flecken an der rechten Seite des Denkmals. „Die sind noch nicht alt“, meinte Theo, „das sieht man an der Farbe.“
„Was passiert jetzt?“, fragte Frank neugierig, denn er wollte so viel Information wie möglich sammeln. „Heute Nacht können wir nicht mehr viel machen“, meinte Theo, „wir decken alles ab und informieren die Kripo, die soll Proben nehmen und andere Spuren. Wenn es ein Tatort ist, dann werden sie es schon herausfinden.“ Die Männer zogen eine Plane über die Figur und sperrten den Zugang durch breite Absperrbänder ab. Frank war müde, es war nun schon weit nach Mitternacht. Er ging nicht mehr in die Redaktion, sondern sofort nach Hause.
Niemand bemerkte die Gestalt, die am Wupperufer hinter dem Fitnesscenter gelauert und den Männern zugehört hatte.
Am nächsten Morgen ging Frank in aller Herrgottsfrühe wieder zum Putscher. Noch war niemand von der Polizei eingetroffen. Wieder stellte er sich auf die schmale Brücke und schaute über die Brüstung hinunter in den Fluss. Am unzugänglichen Ufer hatten sich allerlei Zweige und Äste gestaut, Plastikflaschen und sogar ein Eimer lagen dazwischen. Gerade, als er weitergehen wollte, gewahrte er ein dunkles unförmiges Gebilde im Gestrüpp. Im gleichen Moment bewegte es sich hin und her, sich umdrehend und aus dem Geäst lösend, schoss es durch die Strömung pfeilschnell davon. Frank hielt den Atem an, glaubte, für eine Sekunde deutlich ein menschliches Gesicht zu erblicken. Oder hatte er sich geirrt? Hatte ihm seine Fantasie einen Streich gespielt? Er rannte bis zur Wupperstraße, wandte sich westwärts und jagte dem Lauf der Wupper nach, bis er ganz außer Atem innehielt. So hatte das alles keinen Zweck, erkannte er, nahm sein Handy und wählte die Nummer der Polizei. Als er schilderte, was er zu sehen glaubte, zögerte der Beamte in der Leitstelle nicht lange, sondern rief Verstärkung. Sorgfältig wurde das Ufer der Wupper abgesucht. Keine fünfhundert Meter weiter fand man ein längliches Bündel, das sich an einer Baumwurzel am Ufer verfangen hatte. In der Hansestadt blieb ein derartiges Ereignis natürlich nicht lange verborgen. Rasch waren Neugierige herbeigeeilt, doch schnell war eine weitere Absperrung in einem großen Halbkreis um den Fundort errichtet worden.
Oktober
„Häste gehoort? Waar doch ins!“, Uschi hatte Jasmin durch den Spion ihrer Wohnungstür gesehen, die gerade die Treppe hinunter gehen wollte. Rasch öffnete sie die Tür und rief ihrer Freundin nach: „Die hävt jüstern ne Duden jefungen, dä looch in där Wupper.“ Jasmin wandte sich um: „Du lieber Gott, was ist denn da wohl passiert? Übrigens, weißt du, wo Katja ist?“ „Die hät bie ner Fründin jeschloopen, et kümt hütt nommdach wir.“
„Ach so“, meinte Jasmin nachdenklich und verabschiedete sich. „Ich muss zum Einkaufen.“
„Jasmin“, hörte sie Uschi noch hinter sich rufen, „wees du, wat mi dä Katja loss is?“ Sie erhielt keine Antwort. Da zuckte sie mit den Achseln und schloss ihre Wohnungstür. Sie würde in die Stadt gehen und hoffentlich noch allerlei Interessantes erfahren.
Katja weinte. Sie lag auf ihrem Bett und schluchzte hemmungslos. Ihre Mutter saß noch an der Kasse bei Aldi und würde vor Ablauf von drei Stunden keinen Feierabend haben. Es klingelte. Katja rührte sich nicht. Als es nicht aufhörte, quälte sie sich auf, trocknete ihre Augen und ging zur Tür. Durch den Spion sah sie, dass Jasmin draußen stand. Sie öffnete. „Was ist denn mit dir los“, entfuhr es Jasmin. Katja begann wieder zu weinen. „Ist Uschi nicht da?“
Katja schüttelte den Kopf. „Komm, lass mich rein. Erzähl mal, was los ist mit dir. So kenne ich dich ja gar nicht.“
„Ich weiß nicht, was ich tun soll“, brach es aus dem Mädchen heraus. „Es ist was Schreckliches passiert. Wenn die Mama das erfährt …“.
Jasmin überlegte nicht lange, sie glaubte, schon erraten zu haben, um was es ging. „Bist du schwanger? Till ist doch ein prima Kerl. Der hält bestimmt zu dir, wo ist das Problem? Du heiratest eben ein bisschen früher als geplant, oder?“ Katja schwieg. Sie schwieg so lange, bis Jasmin ihr den Arm um die Schultern legte.
Der Tote wurde obduziert. Die Todesursache war schnell gefunden. Es war ein Schädelbruch, verursacht durch das Aufschlagen des Kopfes auf den Mützenrand des Putschers. Hämatome am Körper ließen darauf schließen, dass zuvor ein Kampf stattgefunden haben musste. Die Kleidung des Toten wurde einer eingehenden Untersuchung unterzogen und etliche Spuren wurden sichergestellt, darunter mehrere blonde Haare. Von Theo erfuhr Frank Spackig erst einmal nichts, die polizeilichen Untersuchungen liefen noch. Man wisse auch nichts Neues, ließ Theo verlauten, als sie sich freitags zufällig auf dem Markt trafen. Das entmutigte Frank keineswegs, er kannte viele Leute, kam mit vielen Menschen ins Gespräch.
An der Theke seiner Lieblingskneipe stand Till. Er hatte schon fünf Bier intus und wurde langsam gesprächig.
„Was gibt es Neues?“, verwickelte Frank ihn in ein Gespräch. „Mist, alles ist Mist“, erhielt er als Antwort.
„Wie, alles ist Mist? Was heißt das? Pech mit Autos oder Pech in der Liebe“, versuchte Frank ihn scherzhaft aus der Reserve zu locken. Er bestellte noch zwei Kölsch.
Till schaute ihn an: „Hast du schon mal gehört, dass ich Pech mit Autos habe?“
„OK, dann Pech in der Liebe“, stellte Frank fest.
„Die Weiber sind alle gleich“, seufzte Till und kippte das Bier hinunter, „zwei Korn“, bestellte er gleich darauf über die Theke hinweg.
„Mach mal langsam, Mann“, mahnte Frank, „erzähl doch erst mal, was los ist.“
Till torkelte schon ein bisschen, Frank fasste ihn am Unterarm und dirigierte ihn zu einem freien Tisch in der Ecke. Warum er sich solche Mühe mit Till gab, wusste er eigentlich selbst nicht. Manches Mal hatte ihn sein Instinkt schon einmal auf die richtige Fährte gelockt. Und eine innere Stimme sagte ihm, bleib dran, da ist etwas im Busch. Nach einem weiteren Schnaps brach das ganze Elend aus Till heraus. Wie er Katja kennengelernt hatte, die Zeit, als sie beide zusammen waren, ihre Trennung vor einem Jahr. Bis dann dieser Scheißkerl aus Wuppertal kam, dieser Zuhälter mit seinen Geschenken und Versprechungen. Er sprach das Wort mit Bitterkeit und Hass aus. Wuppertaler? Frank horchte auf. Hatte Theo nicht auch von einem Wuppertaler gesprochen? Er bohrte nach. „Wie heißt er?“
Till wehrte ab: „Weiß ich nicht, will ich auch nicht wissen. Lass mich in Ruh, du kannst mir auch nicht helfen.“
Frank redete ihm beruhigend zu, schlug ihm vor, jetzt Schluss zu machen mit den Bierchen und nach Hause zu gehen. Till schob ihn von sich: „Geh nur, geh du nach Hause, lass mich hier, ich will noch einen trinken.“
Frank zuckte die Achseln und verließ das Lokal. Da hörte er, wie Till ihm einen Namen nachrief und grinste. Jetzt war es einfach.
Frank saß bei Uschi in der Wohnung und trank Kaffee. Er kannte Uschi von früher und wusste, sie war besser als jede Bildzeitung.
„Wo ist Katja“, wollte er wissen.
„Die Katja is oft biem Till“, antwortete Uschi, „Ik jlöv, die wullt hierooen.“
„Wieso“, wollte Frank wissen.
„Weil dä uns Jeld jelehnt hät, vill Jeld, hei mutt janz schön verdeinen. Un Katja sull joo noch ne Utbildung maaken, äwer ik mein, dä Till is ne janz juedde Partie, doo bruckt die nich noch mehr te liehren, weil …“.
Das war ja eine ganz merkwürdige Sache, dachte Frank, Till heult Katja hinterher und besäuft sich vor Kummer, und Uschi brabbelt was vom Heiraten? Da passt ja nichts zusammen. Der Sache musste er jetzt auf den Grund gehen. Sofort begab sich auf die Suche nach Katja.
November
Carsten räkelte sich im Bett: „Zeit aufzustehen“, mahnte er Sven, der seit ein paar Wochen bei ihm lebte. Sven gähnte und erhob sich langsam. „Schon wieder Montag.“ Träge schleppte er sich ins Bad. Sven war Austräger bei einem Paketversand, da musste man aufstehen, ob man wollte oder nicht. Er beneidete Carsten, der als Sozialarbeiter eine, wie er meinte, ruhige Kugel schob und dazu noch viel besser verdiente. Vielleicht kriegte er ihn doch noch dazu, ihm einen Bürojob zu verschaffen. Carsten schaute Sven beim Anziehen zu. Die Chemie zwischen beiden hatte auf Anhieb gestimmt. Sven reichte zwar an Max bei weitem nicht heran. Aber er war längst nicht so anspruchsvoll, wie Max es gewesen war. Als Sven fort war, erhob er sich und ging ins Bad. Er musste sich selbst beeilen, denn er hatte um neun Uhr sein erstes Beratungsgespräch. Als er bei der Bewährungshilfe eintraf, wurde er schon erwartet. Beim Smalltalk mit dem Kollegen erfuhr er von dem Toten, den man in der Wupper gefunden hatte. „Na, das ist ja mal eine Sensation in unserer ruhigen Stadt“, bemerkte er.
Katja hatte sich krankschreiben lassen. Sie fühlte sich so elend wie noch nie in ihrem Leben zuvor. Und sie hatte Angst, dass alles herauskam. Schon zwei Tage lang hatte sie sich in ihrem Bett verkrochen und niemandem die Tür geöffnet. Auch Jasmin hatte sie nicht die ganze Wahrheit gesagt, nur so viel, wie sie glaubte, preisgeben zu können. Die Geschichte mit Paul und seinen Partys hatte sie gestanden und ihre Angst, von ihm schwanger zu sein. So sehr sie sich die Decke über den Kopf zog, die Bilder verfolgten sie unablässig.
Was war geschehen? Ihrer Mutter hatte sie gesagt, sie sei gestolpert und hingefallen. Ihre Gedanken drehten sich im Kreis. Das war doch Paul gewesen? Oder hatte er jemanden geschickt? Manchmal hatte Max bei ihm im Auto gesessen. Max, den Paul wie ein Schoßhündchen behandelte, und der manchmal mit auf den Partys war. Jetzt hatte sie von Paul schon seit Tagen nichts mehr gehört. Sollte sie sich darüber freuen? Würde noch etwas Schlimmeres passieren? Sie stand auf, ging ins Bad. Hohläugig starrte ein Gespenst sie aus dem Spiegel an. Sie hatte Durst. Als sie gerade eine Flasche Saft aus dem Kühlschrank holen wollte, klingelte es. Nein, dachte sie, ich mache nicht auf, um keinen Preis in der Welt. Nachher ist es Paul, und dann …? Trotzdem schaute sie durch den Spion und erkannte Frank vor der Tür.
„Meine Mutter ist nicht da“, wollte sie ihn abschütteln.
„Ich möchte dich etwas fragen“, gab er zurück, „mach doch mal kurz auf.“
Zögernd öffnete sie die Tür.
„Till lässt dich grüßen“, begann er noch im Flur, „er würde dich gern wiedersehen. Er macht sich Sorgen um dich.“
Sie begann zu weinen. „Das geht nicht“, schluchzte sie, „auf gar keinen Fall. Ich will ihn nicht mehr sehen.“
„Ist es wegen Paul?“, fragte er geradeheraus.
Entsetzt starrte sie ihn an. „Woher weißt du?“, flüsterte sie, „meine Mutter darf nichts davon wissen, hörst du.“
„Keine Sorge“, beruhigte er sie, „aber du weißt wohl nicht, was inzwischen passiert ist.“
Sie starrte ihn immer noch an.
„Der Mann, den sie aus der Wupper gefischt haben, ist dieser Paul gewesen.“
Ihre Gesichtszüge entgleisten völlig.
„Das, das … glaube ich nicht“, sie flüsterte immer noch, wandte sich um und rannte in die Küche, ohne ihn weiter zu beachten. Er folgte ihr und fand sie in der Küche. Die Abendsonne hüllte den schmucklosen Raum in ein freundliches Licht.
„Paul ist tot“, wiederholte er. „Till hat mir einiges über euch erzählt“, fuhr er dann ruhig fort, „aber er liebt dich trotz allem noch.“
„Till kennt Paul?“, fragte sie ungläubig.
„Er kannte ihn wohl nicht persönlich, aber er hat euch öfter beobachtet und sich dann ein bisschen schlau gemacht über die … Wuppertaler Verhältnisse.“
Sie begann wieder zu weinen. „Es war so furchtbar zum Schluss“, sagte sie, „er hat mich gezwungen …“. Es klingelte. Sie rührte sich nicht. Als es danach noch einmal klingelte, ging Frank zur Tür. Draußen stand Theo und neben ihm ein Unbekannter.
„Was machst du denn hier“, fragte Theo Frank misstrauisch.
„Wir wollen zu Katja Förster“, sagte der Fremde.
„Peter Engel und Theo Hoffmann von der Kripo Gummersbach. Wir müssen Sie zum Mordfall Paul Bockmann befragen.“
Katja erzählte alles, was sie wusste.
Dezember
Ab sofort liefen die Ermittlungen in alle möglichen Richtungen, auch die Wuppertaler Polizei wurde eingeschaltet. Man fand heraus, dass Paul nicht nur als Zuhälter in den einschlägigen Kreisen bekannt war, in seinen Wohnungen fand man auch Kokain. Neben Katja hatte er noch zahlreiche andere, sehr junge, „Freundinnen“, die er wie Katja zur Prostitution gezwungen hatte. Seine sogenannten Freunde hatten sich in alle Winde zerstreut.
Am Haus in der Klosterstraße ging die Klingel. Sven schaute durchs Fenster nach unten und rief: „Draußen steht ein Typ. Kennst du ihn?“ Carsten spähte hinunter und sah Max vor der Tür stehen. Ohne auf Sven zu achten, rannte Carsten die Treppe herunter und öffnete ihm. Als er ihn sah, blass und übernächtigt und heruntergekommen, da waren die alten Gefühle unvermittelt wieder da, so stark, so heftig, als sei Max nie gegangen. Ihm stockte der Atem, gern hätte er ihn auf der Stelle in seine Arme genommen, wenn er den Mut gehabt hätte.
„Hilf mir, ich weiß nicht, wohin.“
Ohne ein Wort zog er ihn die Treppe hinauf in die Wohnung.
„Sven, du wolltest doch einkaufen gehen. Hier ist Geld, kauf dir doch die Hose, die du in der Marktstraße gesehen hast. Die steht dir bestimmt gut. Und auf dem Rückweg bringst du noch die Lebensmittel aus dem Bioladen mit, die ich aufgeschrieben habe, bitte gleich. Ich habe eine geschäftliche Unterredung mit diesem Herrn.“ Sven starrte Max an. Das war doch niemals im Leben ein Klient. Das war eher ein … Rivale? Was sollte er aber tun? Zornig nahm er das Geld und verließ die Wohnung.
Max brach völlig zusammen, als sie allein waren. „Es tut mir so leid, dass ich dich verlassen habe für diesen, diesen … Paul, diesen Zuhälter. Hilf mir bitte. Ich brauche Geld, damit ich verschwinden kann.“
„Warum denn verschwinden?“
„Paul ist tot, man hat ihn in der Wupper gefunden. Die glauben vielleicht, ich hätte das getan, weil er so ein Schwein war.“
„Und, hast du es getan?“
„Nein, ich war es nicht, ich schwöre es. Ich habe damit nichts zu tun“, beteuerte Max.
„Aber dann brauchst du doch nicht zu verschwinden.“
„Aber ich will weg.“ Verzweiflung und Angst klangen aus seiner Stimme. Carsten überlegte nicht lange: „Bleib bei mir. Ich mache Schluss mit Sven.“
Max starrte ihn an. „Nein, das geht nicht. Ich muss weg von hier, versteh doch.“ Carsten hielt ihn fest: „Bleib doch, bitte!“ Er griff nach ihm, wollte ihn an sich ziehen, ihn streicheln, ihn besitzen, jetzt, sofort. Max wehrte seine Hand ab, schüttelte den Kopf und öffnete die Tür. „Nein!“ Carsten begriff nicht, wollte nicht verstehen. Max war wieder da, ganz nah, und wollte wieder fort? „Bitte bleib. Lass uns wieder von vorne anfangen.“ Max schüttelte erneut den Kopf, ließ sich aber erschöpft auf die Couch fallen.
„Was ist denn los?“, fragte Carsten liebevoll, „was ist passiert? Vielleicht kann ich dir helfen.“
„Paul ist ein Schwein … gewesen“, begann er, „er hat mich ausgenutzt. Mich, alle, andere Jungs und dann die Mädchen. Stell Dir vor, Mädchen hat er auch gehabt, er war bisexuell, das hätte ich nie gedacht.“ Er holte tief Luft. „Erst war er total großzügig, sogar ein eigenes Appartement habe ich gehabt, und Geld hat er mir gegeben. Dann aber …“, er zögerte, „ … dann aber zwang er mich, mit zu seinen Partys zu gehen. Was da abging, kannst du dir nicht vorstellen!“ Carsten hörte zu, gab keine Gefühlsregung preis. „Da war diese Katja, gerade achtzehn geworden. Eine ganz nette Kleine, die hat er schamlos ausgenutzt und sogar erpresst. Und als die nicht mehr wollte und weglief“, Max schluckte, „da hat er mich hinterhergeschickt, um ihr einen Denkzettel zu verpassen. Ich habe gar nicht gewusst, wie brutal ich sein kann.“ Er schluchzte auf. „Ich kann doch sonst keiner Fliege etwas zuleide tun. Dann bin ich untergetaucht. Habe mich verkrochen, wie ein Obdachloser. Bin herumgelaufen und habe nicht gewusst, wohin. In mein Appartement wollte ich nicht zurück aus Angst vor Paul. Dass er tot ist, habe ich erst in einer Kneipe erfahren. Ich möchte bloß wissen, wer das getan hat!“ Carsten nahm ihn in die Arme. „Du bleibst hier. Wegen Sven überlege ich mir was. Mach dir keine Gedanken. Aber zuerst nimmst du mal ein Bad.“ Max umarmte Carsten dankbar.
Heiligabend
Till klingelte an Katjas Wohnungstür. Uschi öffnete und strahlte, als sie Till sah. „Do beste jo, schön, dann kumm ens ren.“ Katja kam aus der Küche, stockte, als sie Till sah und wandte ihr Gesicht ab. „Katja, komm“, bat Till, „es ist doch alles gut. Ich habe immer darauf gewartet, dass du zurückkommst.“ Uschi staunte, begriff nicht. „Wieso“, fragte sie, „was heißt das, zurückkommen?“ Till beruhigte sie: „Wir hatten uns ein bisschen gezankt, aber jetzt ist alles wieder gut.“ Da strahlte sie wieder: „Jetzt ist Weihnachten, kommt, feiern wir zusammen. Ich habe immer gehofft, ihr hättet dieses Jahr schon geheiratet. Na egal, dann feiern wir eben im neuen Jahr.“
„Mama“, staunte Katja, „seit wann kannst du Hochdeutsch?“
Silvestervormittag
Carsten und Max beschlossen, im Hansecafé zu frühstücken und anschließend zusammen einkaufen zu gehen. Sven war sofort ausgezogen, als ihm klar wurde, dass Kämpfen keinen Sinn machen würde. Im Café suchten sie sich einen Tisch, an dem sie ungestört sein konnten. Leise unterhielten sie sich und planten ihre Zukunft. „Du machst jetzt erst mal dein Studium fertig“, Carsten wollte Max davon überzeugen, es sei besser, das Jurastudium fortzusetzen. Er würde ihm dabei helfen. Max nickte, entschuldigte sich und stand auf, um die schmale Wendeltreppe zu den Toiletten hinunter zu gehen. Am Eingang stieß er mit Katja und Till zusammen, die gerade das Lokal betraten. Seit dem verhängnisvollen Abend auf dem Hausmannsplatz hatte er Katja nicht mehr gesehen. Sie starrte ihn an und wollte sich rasch an ihm vorbeidrücken. „Entschuldigung“, murmelte Max und machte ihr Platz.
„Wer war das“, fragte Till, als sie beide an einem Fenstertisch Platz genommen hatten. Katja schwieg lange, dann sagte sie: „Das ist Max, der war ein Lover von Paul, er ist jetzt wohl wieder mit Carsten zusammen. Von dem hat mir Max mal erzählt, als ich mit ihm in Pauls Wohnung allein war. Es hat ihm bald schon leid getan, dass er sich von Paul hat umgarnen lassen.“
Hast du der Polizei auch davon erzählt?“
„Nein“, entgegnete Katja, „der hat ja mit dem Mord nichts zu tun.“
Till schüttelte zweifelnd den Kopf. „Die haben bis heute aber nicht herausgefunden, wer es war.“
„Ach“, sagte Katja, „lass uns über was anderes reden. Ich bin so froh, wieder bei dir zu sein.“
Ein Tag nach Neujahr
In der Klosterstraße klingelte es an der Haustür. Max schaute hinunter. „Draußen stehen zwei Männer“, berichtete er Carsten, der noch einige Tage Urlaub hatte. „Mach auf“, rief er aus der Küche zurück. Er stand am Herd und bereitete das Essen für beide zu. „Carsten komm bitte mal an die Tür“, rief Max, „ich glaube, die Herren wollen zu dir.“
„Peter Engel von der Kripo Gummersbach und mein Kollege Theo Hoffmann. Wir müssen Sie zum Mordfall Paul Bockmann befragen.“ Carsten erstarrte, dann drehte er sich um, und rannte los, an ihnen vorbei auf den Flur und die Treppe hinunter. Die Männer rannten hinter ihm her, doch er stolperte und stürzte die restlichen Stufen hinab. Unten vor der Haustür blieb er besinnungslos liegen.
Nachdem er aus seiner Ohnmacht erwacht war und die Ärzte eine schwere Gehirnerschütterung festgestellt hatten, konnte Carsten einige Tage später befragt werden. Er gestand den Mord an Paul. Er sagte aus, dass er herausgefunden hatte, wo Max abgeblieben war, wo er wohnte, und dass er oft mit nach Wipperfürth fuhr, um Katja abzuholen. Wie er beobachtet hatte, wie Max hinter Katja her lief und sie niederschlug. Wie Max dann über die Wupperbrücke wegrannte, Paul auf den Platz kam und sich an der Putscherfigur über Katja beugte. Wie er dann Angst bekam, dass Paul das Mädchen jetzt umbringen würde. Wie er seinen Beobachtungsposten verließ und Paul angriff, mit ihm kämpfte und ihn schließlich niederschlug, so dass Paul mit dem Kopf auf die Figur prallte und dann noch einmal auf dem Sockel aufschlug. Wie er ihn hinüber zur Wupper zerrte und ihn von der rechten Seite über die Mauer ins Wasser warf. Wie er versuchte, die Spuren zu verwischen und wegrannte, ohne sich noch einmal umzusehen.
Sobald er transportfähig war, wurde er in ein Gefängniskrankenhaus gebracht. Max besuchte ihn noch einige Male, dann begann der Prozess, an dem Max als Zeuge teilnehmen musste. Katja zeigte ihn nicht an.
Erst als Carsten wegen Mordes verurteilt wurde, trennte sich Max von ihm. Für immer.
Die Autorin: Christine Kaula
Christine Kaula lebt in Wipperfürth und ist nach 45-jähriger Berufstätigkeit in der Industrie und später im Verlagswesen inzwischen im Ruhestand. Hier hat sie das geschriebene Wort wieder ganz neu entdeckt. Einige Beiträge hat sie inzwischen veröffentlicht. Zahlreiche Kurzgeschichten hat sie bereits bei Lesungen vorgetragen.