Читать книгу Betrug in Snowfields - Daniel Klock - Страница 5
ОглавлениеKapitel 2
Am Morgen des zweiten Weihnachtstages schlief Will wieder ziemlich lange. Es war schon deutlich nach elf Uhr, als er schließlich aufstand. Er wusch sich und zog sich an; dann eilte er zur Treppe. Auf halbem Weg nach unten sah er seinen Vater, der gerade aus dem Wohnzimmer kam.
„Morgen, Dad“, sagte er fröhlich. Dann bemerkte er dessen seltsamen Gesichtsausdruck.
„Ja, Morgen ... Morgen“, sagte sein Vater, anscheinend ziemlich abwesend. „Äh, ich war eigentlich gerade auf dem Weg, um dich zu holen. Wir haben einen Besucher, der dich sprechen möchte.“
Will war überrascht, dass sein Vater so komisch guckte, während er dies sagte. „Ein Besucher? Heute? Und er will mich sehen? Ein Verwandter oder was? Vielleicht Tante Peggy?“ Er hoffte inständig, dass sie es nicht war.
Sein Vater schüttelte den Kopf. „Oh, nein. Nein, es ist kein Verwandter. Nein, kein Verwandter ...“
Will war jetzt wirklich neugierig, besonders da sein Vater so verwirrt wirkte. „Wer ist es denn?“
Sein Vater kratzte sich am Kopf. „Die Antwort darauf ist nicht ganz so einfach. Am besten guckst du selbst.“
Jetzt war es an Will, den Kopf zu schütteln. Warum konnte sein Vater ihm nicht einfach sagen, wer der Besucher war? Er öffnete die Tür zum Wohnzimmer, während er vor Neugier fast platzte. Dort sah er zuerst seine Schwester, wie sie den Besucher mit großen Augen musterte. Seine Mutter saß auf dem Sofa und unterhielt sich mit dem Fremden. Sie unterbrach sich mitten im Satz und sah auf, als Will ins Zimmer trat. Ihr Gesicht zeigte einen ähnlichen Ausdruck wie bei seinem Vater. Aber Will beachtete sie gar nicht, sondern starrte den Besucher an. Denn tatsächlich war es eine der seltsamsten Personen, die er je in seinem Leben gesehen hatte.
Der Fremde trug eine grüne Hose, ein grünes Hemd, eine braune Weste und einen hellroten Mantel. Er sah Will an und Will konnte sehen, dass er funkelnde grüne Augen hatte. Er schaute fröhlich zu Will auf. Kleine Fältchen in den Mundwinkeln und um die Augen herum deuteten an, dass er häufig lachte. Er lächelte, sobald er Will sah, stand in einer fließenden Bewegung auf, streckte die Hand aus und kam zu Will herüber.
„Will! Will Burns! Schön, dich zu treffen. Ich wünsche dir ein wundervolles Weihnachtsfest“, sagte er, grinste und schüttelte energisch Wills Hand.
Will bemerkte, dass sein Mund irgendwie offenstand und daher sagte er schnell: „Äh, danke vielmals, Mr., äh ... Tut mir leid, aber wer sind Sie?“
Der Mann hielt seine Hand hoch. „Meine Schuld, meine Schuld. Mein Name ist Conrad Chevalier, aber bitte sag' einfach Corny, wie sonst auch jeder.“
„Mr Chevalier ist heute Morgen gekommen und meinte, er hätte wichtige Dinge mit dir zu besprechen.“ Seine Mutter war aufgestanden und stand nun neben Will, ein stolzes Lächeln auf ihrem Gesicht. „Dein Vater und ich waren ziemlich überrascht, als er an der Tür klopfte, aber das, worüber er mit dir sprechen will, ist wirklich erstaunlich. Es hat ein bisschen Überzeugungsarbeit bedurft, bis wir ihm geglaubt haben.“
Sie legte eine Hand auf Wills Schulter, führte ihn zum Sofa und bedeutete ihm, sich zu setzen. Sein Vater setzte sich neben Wills Mutter auf die andere Seite des Ecksofas, nahm ihre Hand und lächelte ebenfalls. Dann sah er Will stolz an. Will war völlig verwirrt und fragte sich, was dieser seltsam gekleidete Mann von ihm bloß wollte. Mr Chevalier nahm direkt vor Will platz und sah ihn ernst an.
„Nun, Will, ich kann mir denken, dass dies für dich sehr verwirrend ist, und du bist sicherlich sehr neugierig, warum ich dich heute am zweiten Weihnachtstag besuche. Das Blöde ist, jedes Mal, wenn ich so einen Auftrag habe, weiß ich nie, wo ich anfangen soll.“ Er zwinkerte Will zu und verwirrte ihn dadurch noch mehr.
„Nun, ich weiß, dass du gerade dein Herbstsemester in der Schule beendet hast, richtig?“
Will nickte nur, immer noch völlig verwirrt.
„Ich bin heute gekommen, um dir von einer anderen Schule zu erzählen. Eine, die dich gerne ab März als Schüler hätte, dann beginnt dort das nächste Schuljahr. Wenn ich Schule sage, dann ist es nicht einfach nur eine Schule, sondern mehr eine Hochschule oder eine Berufsakademie. Diese Schule wählt jedes Jahr zwanzig junge Leute aus, die sich an der Schule einschreiben dürfen. Und ... hrumpf.“ Er räusperte sich und verkündete: „Wir sind sehr erfreut, dich zu informieren, dass du zu den Schülern gehörst, die dort nächstes Jahr im März anfangen können.“
Er strahlte Will an, der den Eindruck hatte, dass er hierauf irgendwie reagieren musste. „Oh, das ist toll, aber ... ähm, ich weiß leider überhaupt nicht, von was für einer Schule Sie sprechen.“
Mr Chevaliers Lächeln wurde ein wenig schmaler und er schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. „Natürlich. Meine Schuld, meine Schuld. Tut mir leid. Natürlich weißt du nichts über die Schule, wie solltest du auch, denn sie ist schließlich streng geheim. In der Tat ist es wirklich ein großes Geheimnis. Die Schule, von der ich spreche, ist Snowfields. Dabei handelt es sich um das Trainingszentrum für das Management und die direkten Helfer des Weihnachtsmanns. Es ist der beste Ort, um alles über Weihnachten, die Produktion der Geschenke und ihre Verteilung zu erlernen und die hohe Qualifikation zu erwerben, die man für dieses kniffelige Geschäft braucht.“ Er strahlte wieder und stand auf.
„Heute habe ich die große Ehre, dich darüber zu informieren, dass du für diese Schule qualifiziert bist und auserwählt wurdest, das notwendige Training zu durchlaufen, um eines Tages ebenfalls an der Spitze der Organisation zu stehen!“ Er griff in seine Weste und zog eine große Schriftrolle hervor, die mit einer goldenen Kordel gebunden und einem riesigen roten Wachssiegel verschlossen war, und überreichte sie Will feierlich.
Will war sprachlos. Er schaute auf die Schriftrolle, dann sah er den Mann an, der sie ihm hinhielt und dabei breit über beide Wangen grinste. Er sah wieder die Schriftrolle an. Er hörte Lucy rufen: „Was?“. Aber er ignorierte sie. Er schaute auf und sah seine Mutter an. Sie strahlte ebenfalls über das ganze Gesicht. Er blickte zu seinem Vater, der ihn stolz anlächelte. Er sah wieder den Fremden an. Dieser hielt ihm immer noch die Schriftrolle hin. Will schüttelte langsam den Kopf und musste schließlich selber grinsen.
„Sehr, sehr gut! Es war eine klasse Idee und sehr gut ausgeführt. Fabelhaft, wirklich. Einen Augenblick lang hättet ihr mich fast reingelegt. Aber am Ende war es doch ein wenig zu großartig, um es wirklich zu glauben. Ein wenig übertrieben. Aber dennoch war es ein großer Spaß – mich so reinzulegen. Wessen Idee war das? Deine, Vater? Und dieser Herr, der euch so hervorragend geholfen hat, ist er ein Kollege ... von der Arbeit? Ich ... denke, ich ...“
Während er dies sagte, sah er seine Eltern an. Aber dann hielt er inne, als er merkte, dass das Lächeln bei seinen Eltern langsam verblasste und beide den Kopf schüttelten. Etwas stimmte hier nicht, sogar Lucy war still. Also, natürlich konnte dies alles nicht echt sein, so viel war ihm klar. Aber warum lachten sie jetzt nicht alle zusammen, jetzt wo der Scherz so gelungen war? Er hatte das Gefühl, dass ihm hier irgendetwas entgangen war. Er sah den Fremden erneut an: Sein Grinsen war ebenfalls deutlich zurückgegangen und er schüttelte energisch den Kopf.
Mr Chevalier sah zur Decke hoch und jammerte: „Warum nur? Warum glauben sie mir nie? Es muss an diesen modernen Zeiten liegen, dass die Jugend so misstrauisch geworden ist. Zu viel rationales Denken, zu wenig Fantasie in ihren Köpfen. Aber nun gut, es ist ja nicht das erste Mal“, seufzte er. „Will, hör' zu. Ich bin wirklich das, was ich dir erzählt habe, ein Abgesandter von Snowfields. Ich bin tatsächlich geschickt worden, um dich auf unsere Schule einzuladen. Und diese Schriftrolle, die ich hier für dich habe, ist auch kein Scherz. Auf keinen Fall.“
Das kam Will jetzt doch komisch vor. Er drehte sich zu seinen Eltern um, die ihm ermutigend zunickten. Er war sich seiner Sache nun ganz und gar nicht mehr sicher und sagte zu dem Fremden: „Nun, dieser Spaß ist jetzt weit genug gegangen. Es gibt keinen Grund, noch weiterzumachen.“ Aber da war mehr als nur eine Spur von Zweifel in seiner Stimme.
Sein Vater räusperte sich. „Ich denke, es wäre ganz gut, wenn wir ihm Ihr ... Transportmittel zeigen würden, Mr Chevalier.“
Da strahlte der Fremde erneut. „Aber ja! Sie haben recht, mein Fehler, mein Fehler. Das sollte ihm helfen, mir zu glauben. Das hilft immer. Lasst uns gehen.“
Er ergriff Wills Hand und zog ihn mit sich. Seine Eltern folgten ihnen. Bevor Will wusste, wie ihm geschah, war er durch die Tür und der Fremde zog ihn auf die schneebedeckte Terrasse hinaus.
Will war wie vom Donner gerührt. Er traute seinen Augen nicht. Er konnte nicht glauben, was er dort sah. Dort, auf dem Rasen hinter ihrem Haus, stand ein echter Schlitten! Ein Schlitten! Und zwar kein kleiner für Kinder, so einen wie er selber in der Garage hatte, mit denen man die Schnee bedeckten Hügel herunterfuhr, einfach zum Spaß. Dies war ein echter Schlitten, von Pferden gezogen, so wie man ihn manchmal im Film sehen konnte. Und wirklich groß! Er war aus braunem Holz, das so glatt und auf Hochglanz poliert war, dass er schimmernd und funkelnd im Sonnenlicht stand. Rundherum waren rote Bänder und große Schleifen an der Reling befestigt. Und …, Will rieb sich die Augen und kniff sich selber richtig fest in die Seite, um sicherzugehen, dass er nicht am Schlafen und wild am Träumen war, aber sie standen immer noch da: vier mächtige, stolze Rentiere vor dem Schlitten. Es waren große Tiere mit schimmerndem Fell in verschiedenen Brauntönen. Alle hatten eindrucksvolle Geweihe und leuchtend rotes Zaumzeug mit kleinen goldenen Glöckchen. Dann erklang plötzlich ein Schrei und Lucy flitzte an ihnen vorbei direkt auf die Rentiere zu. „Oh! Sind sie nicht süß. Schaut nur!“ Und sie lief direkt auf eines zu und streichelte seine Nase.
Conrad stand neben Will, wieder mit einem breiten Grinsen im Gesicht, und legte eine Hand auf Wills Schulter. „Ziemlich eindrucksvoll, was? Natürlich“, fügte er schnell hinzu, „ist das nicht unser neuestes Modell, nicht der 'Executive High Motion', sondern der 'Wood Voyager Supreme', unser Standardschlitten für die Auslieferung. Aber ich mag ihn ganz gerne, denn er ist strapazierfähig und lässt einen nie im Stich, wenn man ihn wirklich braucht. Weißt du, die modernen können immer ein bisschen schwierig sein, wenn man in atmosphärische Turbulenzen gerät.“
Will wollte antworten, aber irgendwie war ihm seine Stimme abhanden gekommen. Er musste sie aus einer dunklen Ecke seiner Kehle hervorkramen, bevor er ein Wort herausbringen konnte.
„Ich ... ich kann es nicht glauben“, stotterte er. Sein Gehirn schaltete sich endlich ein, verarbeitete den letzten Satz noch einmal und strich dabei ein Wort rot an. „Ähm, Turbulenzen? Er fliegt? Er fliegt wirklich?“
„Oh ja, natürlich tut er das.“ Conrad lachte. „Und das Gefühl ist einfach unglaublich. Es ist atemberaubend, wenn man über eine schneebedeckte Stadt fliegt, die in das warme Licht der Weihnachtsbeleuchtung getaucht ist. Oder wenn man über den weißen Strand einer tropischen Region fliegt, in der Palmen wachsen und das blaue Wasser so klar ist, dass man die regenbogenfarbenen Fische sehen kann, wie sie träge durch das Wasser gleiten.“ Seine Augen funkelten und sein Gesicht reflektierte sein Entzücken, das er beim Fliegen verspürte.
Conrad ging hinüber zu den Rentieren und tätschelte einem von ihnen den Kopf. Es rieb daraufhin seine Nase an Conrads Arm. Will betrachtete die Rentiere genauer. Es waren stolze Tiere. Sie standen dort ganz ruhig, hielten ihre Köpfe hoch in die Luft und nur ab und zu warf eines seinen Kopf zurück und scharrte mit den Hufen unruhig im Schnee. Sogar Lucys ganzes Getue schien sie nicht zu stören.
„Komm her und schau sie dir genauer an“, rief Conrad.
Will ging vorsichtig hinüber zum Schlitten, fast so, als ob er Angst hatte, dass dieser verschwinden würde, sobald er ihn erreichte. Er betrachtete ihn voller Staunen. Das Holz war so glatt und auf Hochglanz poliert, dass sich sein Gesicht beinahe darin spiegelte. Die Kufen waren aus glänzendem Silber, das in Flammen zu stehen schien, als es vom Sonnenlicht getroffen wurde. Vorsichtig streckte Will seine Hand aus und berührte das Holz. Es war echt. Ein wundersames Gefühl überkam ihn.
Conrads Stimme direkt neben ihm schreckte ihn auf: „Ich weiß genau, was du jetzt möchtest. Lass uns einen kurzen Flug rund um den Schornstein machen, okay?“
Will konnte nur mit einem schwachen Nicken antworten. Er vertraute seiner Stimme nicht.
„Was ist mit dir, junges Fräulein?“, wollte Conrad von Lucy wissen. „Willst du uns begleiten?“ Er lächelte ihr einladend zu.
Aber Lucy wich zurück und schaute ziemlich erschrocken. „Oh, nein. Nein, danke. Ich schaue lieber zu. Vielen Dank.“ Vorsichtshalber trat sie vom Schlitten weg.
Conrad nickte verständnisvoll. „Okay.“ Er drehte sich wieder zu Will um und half ihm auf den Schlitten hoch. Dann kletterte er vor ihn auf den Fahrersitz und griff nach den Zügeln. Er schüttelte sie und mit einem leichten Ruck setzte sich der Schlitten in Bewegung. Sie waren nur einige Meter weit gekommen, als Will plötzlich merkte, wie sie vom Boden abhoben. Im nächsten Augenblick waren sie vollständig in der Luft und flogen geradewegs über den nächsten Busch. Sie stiegen höher und höher. Jetzt waren sie schon auf Höhe des Balkons, dann flogen sie um den Schornstein des Hauses herum. Immer noch stiegen sie höher und Will klammerte sich so fest an die Reling, dass seine Knöchel weiß wurden.
Conrad dreht sich um. „Alles in Ordnung, Will?“
Will nickte nur leicht. Er war zu sehr damit beschäftigt, auf die Dächer hinunter zu schauen, die unter ihnen vorbeizogen. Ganz langsam fing er an zu lächeln, dann wurde das Lächeln immer breiter und breiter, bis er von einem Ohr zum anderen grinste. Sein Griff an der Reling lockerte sich langsam, bis er sich nur noch gut festhielt.
Conrad blickte zurück zu ihm: „Ah, ich seh' schon. Jetzt weißt du, wie Fliegen ist. Großartig, oder?“
Will zwang sich, den Blick von dem wundervollen Ausblick unter ihnen lange genug zu lösen, um Conrad anzuschauen. „Ja, es ist fantastisch. Ich habe so etwas noch nie erlebt.“ Er sah wieder nach unten und bemerkte, dass sie gerade über ein Pärchen hinwegflogen, das im Schnee spazieren ging. „Aber sehen uns die Leute nicht hier oben? Was werden die denken?“ Er sah Conrad besorgt an.
„Nein, nein.“ Conrad lachte. „Es besteht keine Gefahr, dass uns jemand sieht, wenn ich das nicht will. Niemand außer dir und deinen Eltern kann den Schlitten sehen, denn ich habe ihn verzaubert.“
„Wie ...“, fing Will an.
Aber Conrad unterbrach ihn. „Ich kann dir jetzt nicht erklären, wie wir das machen. Aber es gehört zu den Dingen, die du in Snowfields lernen wirst. Dies wird in Grundlagen der Magie gelehrt.“
„Magie!“ stieß Will hervor. „Sie ... Wie ... Es gibt Magie tatsächlich?“
„Natürlich gibt es sie!“ Conrad schnaubte verächtlich. „Wie denkst du, könnte Weihnachten ohne Magie funktionieren? Es würde schlicht und einfach kein Weihnachten geben ohne Magie! Die pünktlichen Auslieferungen, die Erfüllung der individuellen Wünsche, all das wäre ohne Magie gar nicht möglich. Schau, es gibt doch sogar den bekannten Ausspruch 'Magische Weihnachten'. Und der kommt nicht von ungefähr.“
Immer dann, wenn Will gerade dachte, er hätte sich wieder im Griff, hatte er auch schon wieder das Gefühl, dass ihm der Boden unter den Füßen weggezogen würde. Er war wieder sprachlos. Er konnte immer noch nicht glauben, dass dies alles geschah. Doch er konzentrierte sich auf seine Umgebung und bemerkte, dass der Schlitten langsam an Höhe verlor. Im nächsten Augenblick landeten sie auf dem Rasen hinter seinem Haus, ohne jeglichen Ruck, als der Schlitten den Boden berührte. Conrad erhob sich vom Fahrersitz und half Will hinunter. Als er vom Schlitten herunterstieg und dann auf dem Boden stand, war er froh über Conrads Hand, weil der Flug seine Knie irgendwie in Wackelpudding verwandelt hatte.
„Keine Sorge. Das passiert fast jedem, der zum ersten Mal mit einem Schlitten fliegt“, sagte Conrad und gab ihm einen Klaps auf die Schulter, der Will fast mit dem Gesicht nach unten in den Schnee geworfen hätte. Sie gingen zu seinen Eltern hinüber, die immer noch verwundert schauten, nachdem sie gerade Zeugen dieses unglaublichen Schlittenfluges geworden waren. Sein Vater legte Will eine Hand auf die Schulter und sie gingen alle wieder zurück ins Wohnzimmer.
Nachdem sie sich hingesetzt hatten, sah Conrad Will wieder mit ernster Miene an und sagte: „Nun, Will, ich hoffe, nach dieser kleinen Vorführung glaubst du mir, was ich dir erzählt habe. Ich bin wirklich von Snowfields geschickt worden, um dir die Einladung für unsere Schule zu überreichen. Ich schlage vor, du liest sie erst einmal durch, dann erzähle ich dir mehr darüber.“
Er hielt Will erneut die Schriftrolle hin und diesmal griff Will danach.
„In der Zwischenzeit ... Wäre es möglich, eine Tasse Tee zu bekommen?“
Wills Mutter sprang auf: „Oh, es tut mir so leid, Mr Chevalier. Ich hätte Ihnen sofort eine anbieten sollen, aber ich fürchte, all diese ungewöhnlichen Ereignisse heute Morgen und die ganzen unglaublichen Dinge, die Sie uns erzählt haben, haben mich etwas aus der Fassung gebracht. Ich bringe Ihnen natürlich eine, sofort.“ Sie eilte in die Küche.
Will löste die goldene Kordel, mit der die Schriftrolle zusammengehalten wurde, und schaute das Siegel an. Es war aus rotem Wachs und eingeprägt war das Bild eines Weihnachtspakets, umgeben von einer Girlande aus Stechpalme. Dasselbe Bild hatte er auch auf dem Schlitten gesehen.
„Das ist das offizielle Logo unserer Organisation“, sagte Conrad. Will zerbrach das Siegel und öffnete die Schriftrolle. Sie war aus schwerem Pergament und die Schrift in schwarzer Tinte – deutlich und ordentlich.
Snowfields
Offizielle Trainingsschule des Weihnachtsservice
White Christmas Organisation (WCO)
Lieber Mr Burns,
es ist mir eine Ehre, Ihnen mitzuteilen, dass Sie als Schüler an der Snowfields Trainingsschule angenommen wurden.
Zusammen mit dieser Schriftrolle erhalten Sie die erforderlichen Formulare und Informationen einschließlich einer Liste der Dinge, die Sie mitbringen müssen, da diese von der Schule nicht zur Verfügung gestellt werden. Unser Abgesandter wird Ihnen bei sämtlichen Fragen gerne weiterhelfen. Bitte wenden Sie sich ansonsten an mich, falls es irgendwelche Probleme geben sollte, oder es etwas gibt, dass Sie nicht verstehen. Unser Abgesandter wird Ihnen mitteilen, wie Sie mich erreichen können.
Ebenfalls enthalten ist ein Formular, das wir benötigen, um Sie als Schüler aufzunehmen. Bitte füllen Sie es vollständig mit Ihren persönlichen Angaben aus und senden Sie es so schnell wie möglich an mich zurück. Das erste Schuljahr fängt am 1. März an. Die Anweisungen, wie Sie die Schule erreichen, sind ebenfalls enthalten und unser Abgesandter wird sie auch noch einmal erläutern.
Ich muss Sie darum bitten, niemandem gegenüber irgendetwas von der Schule, Snowfields, dem Weihnachtsservice, der White Christmas Organisation (WCO) oder etwas anderem in diesem Zusammenhang zu erwähnen, außer Ihren Eltern, Brüdern oder Schwestern (nicht einmal anderen Verwandten) gegenüber, außer Sie wissen sicher, dass es sich um Mitglieder der genannten Einrichtungen handelt. Sie können Mitglieder an einem Abzeichen erkennen, das das Logo der White Christmas Organisation zeigt, welches auch auf dieser Schriftrolle und den anderen beigefügten Dokumenten abgebildet ist. Dieses Logo ist nur für Mitglieder der Organisation sichtbar.
Ich freue mich darauf, Sie bald persönlich an unserer Schule willkommen zu heißen.
Frohe Weihnachten
Star Dustfall
Snowfields
Will las den Brief zweimal komplett durch, bevor er ihn in seinen Schoß sinken ließ und aufsah. In der Zwischenzeit hatten seine Eltern den Tisch gedeckt und tranken zusammen mit Mr Chevalier Tee. Will reichte ihnen wortlos die Schriftrolle und fing an, die anderen Papiere durchzusehen, die herausgefallen waren, als er die Schriftrolle geöffnet hatte. Da waren ein Formular und die Liste der Dinge, die er mitbringen sollte, die Anleitung, wie die Schule zu erreichen war, ein Informationsschreiben zu den Fächern des ersten Schuljahres und ein Papier mit dem Titel „Die wichtigsten Fakten über Snowfields, führende Schule des Weihnachtsservice“.
Er betrachtete die Liste mit den Fächern genauer. Er hatte sich nicht einmal im Traum vorstellen können, dass solche Fächer existierten. Es gab zum Beispiel Grundlagen der Magie und Wunschzettelkunde, aber auch ziemlich gewöhnliche Fächer, wie Logistik, Warenhaltung und Materialbeschaffung. Hinter jedem Fach war eine kurze Beschreibung.
„Grundlagen der Magie“, las er da, „vermittelt das Wissen über die notwendige Magie für die tägliche Arbeit und Auslieferung der Geschenke. Sie werden in besonderen Fertigkeiten trainiert, die Sie benötigen, um mögliche Probleme zu bewältigen und einen reibungslosen Geschäftsbetrieb zu gewährleisten. Dieses Fach wird von Ms Star Dustfall unterrichtet.
„Wunschzettelkunde: Dieses Fach mag sich etwas seltsam und unwichtig anhören, aber es ist tatsächlich eine der wichtigsten Abteilungen unserer Organisation. Sie werden darin unterrichtet, wie Wunschzettel interpretiert werden müssen, Wünsche zu beurteilen sind und – am allerwichtigsten – wie es gelingen kann, fast jeden an Weihnachten glücklich zu machen, selbst wenn es nicht möglich ist, den geäußerten Wunsch direkt zu erfüllen. Der Lehrer für dieses Fach ist Mr Quill Parchmentinus.
„Logistik: Eines der Hauptprobleme, um das sich unsere Organisation das ganze Jahr über kümmern muss, ist die Logistik. Material muss für die Produktion der Geschenke beschafft, Einzelteile müssen zwischen den verschiedenen Abteilungen transportiert, die fertigen Geschenke bis zur Auslieferung gelagert werden (dies wird in einem besonderen Fach unterrichtet) und vieles mehr. Dieses Fach wird von Mr Getius Thingsmoving unterrichtet.
„Lagerhaltung: Dieses Fach beschäftigt sich mit der Lagerung aller Materialien, die für die Produktion benötigt werden, und insbesondere auch der fertigen Produkte. Die Ausbildung beinhaltet das Erlernen des Platzmanagements, der verschiedenen Lagerungsmethoden, der optimalen Kennzeichnung der Waren, der Gewährleistung des bestmöglichen Zugangs zu den Waren usw. Dieses Fach wird von Mrs Storia Itaway unterrichtet.
„Materialbeschaffung: Die Rohstoffe, die für die Produktion notwendig sind, müssen beschafft und bis zu ihrer Verwendung gelagert, die notwendigen Mengen abgeschätzt, Verträge ausgehandelt werden und vieles mehr. Alle notwendigen Qualifikationen für diese Aufgaben werden in diesem Fach vermittelt. Es wird von Mr Argius Contractus unterrichtet.“
Will war fasziniert. All dies hörte sich wahnsinnig interessant an, einfach unglaublich. Er sah hoch, merkte, dass Conrad ihn beobachtete. Als sich ihre Blicke trafen, lächelte Conrad und zwinkerte ihm zu.
Will fragte: „Sie wollen also wirklich, dass ich diese Schule besuche? Ich? Um all dies zu lernen? Und Sie sagen, dass der Weihnachtsmann wirklich existiert?“
„Ja, wirklich. All dies ist wirklich wahr und du wurdest aus einer großen Gruppe von jungen Leuten ausgesucht, diese Schule zu besuchen. Du hast alle notwendigen Voraussetzungen. Und, ich kann dir sagen, es wird dir dort gefallen – ich selbst war Schüler an der Stardust-Schule und, obwohl es dort gut war, hätte ich fast alles für die Möglichkeit gegeben, nach Snowfields zu gehen. Es ist wirklich die beste Schule innerhalb der Organisation. Den Absolventen von Snowfields stehen alle Türen offen, viele von ihnen arbeiten auf den höchsten Ebenen der Organisation. Du hast eine großartige Zukunft vor dir, Will!“
Will sah hinüber zu seinen Eltern, die den Brief zu Ende gelesen hatten.
Sein Vater fragte: „Nun, was denkst du, Will?“
„Ich ... weiß nicht. All dies hört sich so ... so absurd an. Der Weihnachtsmann, eine Weihnachtsorganisation, eine Schule für Weihnachten.“ Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. „Aber es ist das Beste, was ich je gehört habe, und selbst wenn es nur ein Traum ist, dann will ich ihn bis zum Ende erleben. Was denkt ihr?“
Seine Mutter lächelte. „Ich bin froh, dass du so denkst. Dein Vater und ich haben hierüber gesprochen, seit Mr Chevalier heute morgen gekommen ist und uns von dieser Einladung erzählt hat. Natürlich hat es eine Weile gedauert, bis er uns überzeugt hatte, dass das alles auch wahr ist, was er so erzählt. Aber wir denken, dass du hier eine großartige Gelegenheit hast, die du dir nicht entgehen lassen solltest.“ Sie lachte. „Meine Güte, wenn mich jemand als Kind gefragt hätte, ich hätte alles für die Möglichkeit getan, für den Weihnachtsmann zu arbeiten.“
Will schaute zu seinem Vater, dessen enthusiastisches Nicken jedoch ein ziemlich eindeutiges Zeichen war, dass er ebenso dachte.
Will sah zu Conrad, der dort saß und die Unterhaltung verfolgte, ohne sich einzumischen. Schließlich straffte Will die Schultern und sagte: „Gut. Also dann, ich würde gerne auf diese Schule gehen.“
Conrad sprang auf. „Ausgezeichnet! Ich versichere dir, du wirst nicht enttäuscht sein. Es wird viel besser werden, als du es dir auch nur vorstellen kannst.“ Er grinste und rieb sich geschäftig die Hände. „Dann an die Arbeit! Ich werde dir ein wenig über die Schule und das Dorf drumherum erzählen, wie du dorthin kommst und all die anderen Dinge, die du wissen musst. Aber das meiste wird auch im Brief erklärt.“
Und Conrad fing an zu erzählen. Will hörte fasziniert zu. Er lernte, dass die Schule in einem wundervollen Dorf lag und ganz auf die Ausbildung von Personal für die White Christmas Organisation spezialisiert war. Schule, wie auch das ganze Dorf, gehörten zu dieser Organisation und alle Personen und andere Gestalten, die in diesem Dorf lebten, arbeiteten für sie. Es gab Fabriken, in denen die Geschenke hergestellt wurden, Warenhäuser, in denen diese bis Weihnachten sicher gelagert wurden, Forschungsabteilungen, in denen neue erfunden und neue Technologien für die anderen Abteilungen entwickelt wurden. Es gab sogar eine Abteilung, in der Magie erforscht wurde, da die Menschen immer einfallsreicher und ihre Technologien immer fortgeschrittener wurden, sodass die Organisation mithalten und immer einen Schritt voraus sein musste, um ihre Aktivitäten und ihre Existenz geheimzuhalten. Die Schule bekam jedes Jahr eine neue Klasse und es gab dort im Augenblick etwa 200 Schüler.
Aber dann hörte Conrad auf zu erzählen. „Das ist alles, was ich dir im Augenblick über das Dorf und die Schule erzählen werde. Den Rest wirst du selbst herausfinden, wenn du dort bist. Drei Dinge muss ich aber noch hinzufügen. Erstens: Vergiss nicht, das Aufnahmeformular in den nächsten Tagen zurückzuschicken. Du findest die Adresse und andere erforderliche Details in deinem Brief. Die zweite Sache ist, wie du nach Snowfields gelangst. Das ist ziemlich einfach. An deinem ersten Tag schnappst du dir deine Sachen, gehst nach draußen und suchst dir eine Straßenlaterne. Einfach eine ganz normale Straßenlaterne. Stell dich direkt darunter und sag' die folgenden Worte: 'Rufe Cloudy's Transportation Service. Transport benötigt.' Dies wird auch in deinem Brief erklärt. Und das Dritte und Wichtigste ist, dass du und deine Eltern wirklich sehr vorsichtig sein müssen, nichts von alledem gegenüber irgendjemandem zu erwähnen, nichts über Snowfields, die Organisation oder über das, was du dort machen bzw. lernen wirst. Sprecht mit niemandem hierüber. Nicht, wenn ihr nicht völlig sicher seid, dass sie auch zur Organisation gehören oder mit dieser verbunden sind. Das ist wirklich wichtig!“ Er hielt mahnend einen Finger in die Höhe.
„Ich denke, ich habe dir alles erzählt, was du derzeit wissen musst. Wie ich schon gesagt habe, die wichtigsten Einzelheiten sind alle im Brief erwähnt. Falls du irgendwelche Probleme hast, sag' uns einfach Bescheid. Die Angaben, wie du uns erreichen kannst, findest du auch im Brief.“
Will nickte.
„Nun, mehr brauchst du im Augenblick nicht zu wissen. Ich mach mich dann am besten wieder auf den Weg.“ Conrad grinste. „Ich muss heute noch jemanden nach Snowfields einladen. Danke für den vorzüglichen Tee. Und Will?“ Er zwinkerte ihm erneut zu. „Wir sehen uns dann im März in Snowfields.“ Damit stand Conrad auf, gab Wills Eltern die Hand und klopfte Will freundschaftlich auf die Schulter. Wills Vater führte sie in den Garten und dort blieb Will mit seiner Familie stehen, um Conrad bei der Abreise zuzuschauen. Conrad stieg auf den Schlitten, rutschte herum, bis er eine bequeme Haltung gefunden hatte, und ergriff die Zügel. Er hob ab, drehte eine letzte Runde über dem Garten, winkte noch einmal und war verschwunden.
Will und seine Eltern blieben im Garten zurück und nur die Spuren des Schlittens und der Rentiere im Schnee deuteten auf das hin, was hier gerade passiert war. Und natürlich der Brief, den Will noch in der Hand hielt. Er betastete ihn vorsichtig, um sich zu vergewissern, dass dies alles wirklich passiert war.
***
Weihnachten war ein nicht enden wollendes Thema in Wills Haus bis zum Ende der Ferien. Selbst Lucy war verzaubert von der Vorstellung eines realen Weihnachtsmanns und es gab endlose Spekulationen, was Will lernen würde, was er machen dürfte und ob er möglicherweise dem Weihnachtsmann auch leibhaftig begegnen würde.
Etwa die Hälfte der ersten Schulwoche war vergangen, als Lucy alleine an einem Geländer auf dem Schulhof lehnte. Sie konnte alles, was geschehen war, immer noch kaum fassen. Es war einfach zu unwirklich, als dass ein Mädchen des 21. Jahrhunderts dies einfach so glauben konnte. Zwei Jungen aus ihrer Klasse näherten sich. Sie sah aus dem Augenwinkel, wie sie in ihre Richtung kamen. Den größeren der beiden, Robert, fand sie eigentlich ziemlich gut. Er lächelte ihr verheißungsvoll zu.
„Na, woran denkst du, Lucy?“, sagte er und knuffte seinem Freund verschwörerisch in die Rippen.
„Was? Oh, ähm, ich habe gerade an den Weihnachtsmann gedacht ...“ Lucy war so nervös. Robert hatte sie niemals zuvor direkt angesprochen, obwohl sie schon öfter versucht hatte, „zufällig“ eine geeignete Situation herbeizuführen.
„Ich glaub's nicht!“, sagte Fats, Roberts Freund. „Mitte Januar und du denkst immer noch an den Weihnachtsmann? Der wird wohl erst im Dezember wiederkommen, wenn du dann auch noch an ihn glaubst. Du spinnst doch.“
Er schubste sie so grob, dass sie hart gegen das Geländer stieß.
Lucy sah rot. „Es gibt den Weihnachtsmann!“, schrie sie. „Will wird für ihn arbeiten!“
Entsetzt schlug sie die Hand vor den Mund.
„Wow“, sagte Robert. „Ich wusste ja immer schon, dass der Will nicht ganz in Ordnung ist. Jetzt fängst du auch an. Was für eine erbärmliche Familie.“
Das Klingeln zur nächsten Stunde unterbrach sie. Lucy stürzte tränenüberströmt los, weg von den Jungs und zu ihrem Klassenzimmer. Immer noch entsetzt über ihren Aussetzer wartete sie nach der Schule auf Will, aber sein Lehrer hatte die Stunde früher beendet und Will war schon auf dem Weg nach Hause.
Robert und Fats hatten keine Zeit verloren. Gareth und Jonas, zwei Jungen aus Wills Klasse, die schon früher über ihn gespottet hatten, waren umgehend über die Geschichte mit Lucy informiert worden und die Blicke, die sie Will während der letzten Stunde zugeworfen hatten, irritierten ihn ziemlich. Er mochte die beiden nicht besonders, konnte sich aber trotzdem nicht vorstellen, was die verschlagenen Blicke und das Getuschel der beiden zu bedeuten hatten. Nach der Schule wollte er nicht die 20 Minuten auf den Bus zu warten, sondern lief zu Fuß nach Hause. Es hatte geschneit und das Pflaster war ziemlich glatt, daher war Will vorsichtig und ging langsam. Plötzlich hörte er einen Ruf hinter sich.
„He, Weihnachtsmannjunge!“
Verwirrt drehte er sich um und sah Robert, der plötzlich auf dem Pflaster ausrutschte und der Länge nach hinfiel. Fats stieß gegen Robert und fiel voll auf ihn drauf. Gareth und Jonas stießen gegeneinander und sie endeten alle zusammen als Haufen auf dem Gehweg. Will zuckte mit den Schultern und ging weiter. Sie taten ihm wohl kaum leid.
Als Lucy nach Hause kam, war sie so verängstigt, dass sie sich nicht traute, Will von dem Vorfall zu erzählen. Sie hatte sich selber eingeredet, dass ja schließlich eigentlich gar nichts passiert war. Und es passierte auch nichts. Noch nicht.
Anfang Februar schneite es stark. Lucy war so erleichtert, dass nach ihrem Ausbruch nichts geschehen war. Doch eines Tages, in der Schule, sahen Robert und Gareth während der Mittagspause eine neue Gelegenheit, Will zu malträtieren. Er stand alleine in einer geschützten Nische und versuchte, das Gedicht auswendig zu lernen, das er nachmittags vortragen musste. Nicht, dass er sich große Mühe gab. Schließlich würde er bald auf eine echte Schule gehen, die Schule und das Trainingszentrum vom Weihnachtsmann selbst. Er schaute in sein Buch und sah daher nicht, wie Robert und Gareth Zeichen gaben und Fats und Jonas herüberwinkten. Sie heckten den Plan aus, Will von vier Seiten gleichzeitig mit eisigen Schneebällen anzugreifen, dabei sein Buch zu klauen und ihn ordentlich einzuseifen – und zu verkloppen, wenn sie damit durchkamen. Sie brachten sich in Stellung und gerade als Robert bereit war, den ersten Schneeball zu werfen, brüllte er: „Mensch, guckt mal da! Das ist die Pfeife, die immer noch an den Weihnachtsmann glaubt. Sollen wir ihm mal zeigen, was in der echten Welt passiert?“ Er holte zum Wurf aus, aber plötzlich klatschte ihm eine Masse aus Schnee und Matsch ins Gesicht. Halb blind starrte er Gareth wütend an, der mit den Schultern zuckte und sofort auf Jonas zeigte. Im Nu waren alle vier in eine wilde Schneeballschlacht verwickelt, die erst von einem Lehrer unterbrochen wurde, nachdem dieser durch einen schlecht gezielten Schneeball fast seine Brille verloren hatte. Will maß dem Ganzen keine weitere Bedeutung bei. Schule war schließlich Schule und die Vier waren Idioten.
Februar neigte sich dem Ende zu. Es ging das Gerücht um, dass Will die Schule verlassen würde. Robert und seine Freunde kamen in Zugzwang. Sie waren immer noch darauf aus, Will zu kriegen – irgendwie. Sie sahen ihre Chance, als Will auf dem Weg nach Hause war, munteren Schrittes, voll der Erwartungen, was vor ihm lag. Hinter ihm erschallte plötzlich ein Ruf: „He, Weihnachtsmannjunge!“ Das hatte er doch schon einmal gehört. Er drehte sich um und diesmal waren Robert und seine Gang bereits ziemlich nahe. Will konnte kaum noch blinzeln, bevor sie ihn in die Mangel nahmen. Jonas schlug ihm aufs Auge, Robert stieß ihn um und Gareth trat ihm in den Bauch. Fats wollte sich gerade auf Will setzen, damit ihm die Luft wegbleiben würde, als er plötzlich anfing, wie verrückt zu schreien, und die Straße herunterstürzte. Jonas und Gareth stießen mit ihren Köpfen zusammen, verdrehten die Augen und fielen zu Boden. Robert versuchte Will zu schlagen, aber irgendwie schlug er sich dabei selber zu Boden, für einen Augenblick bewusstlos.
„Was zum T...?“ Eine Figur erschien plötzlich direkt vor Will und zog ihn hoch.
„Tut mir leid. Meine Schuld, meine Schuld. Leider bin ich diesmal ziemlich spät.“
Verwirrt schaute Will auf. Er kannte diese Figur: grün gekleidet, mit einer braunen Weste und einem roten Mantel.
„Sie?“, war alles was er herausbrachte.
Conrad lächelte ihn schief an. „Ja, ich.“
„Entschuldigung“, sagte Will sofort. „Ich wollte nicht unhöflich sein. Aber … was machen Sie hier?“
„Dir helfen natürlich“, antwortete Conrad, während er sich Schnee von der Kleidung klopfte.
Will presste eine Hand gegen seine Schläfe, die angefangen hatte, weh zu tun.
„Ähm, danke“, sagte er, immer noch ziemlich verwirrt. „Aber woher wussten Sie hiervon?“
„Nun, das ist doch mein Job“, antwortete Conrad.
Will konnte ihn nur verständnislos ansehen, er verstand nicht im Geringsten, wovon Conrad da sprach.
„Oh“, sagte Conrad schließlich, „ich habe dir wohl nichts davon gesagt, oder? Meine Schuld, meine Schuld. Sieh' mal, der Weihnachtsmann warnt uns immer, dass die, die am eifrigsten an ihn glauben, so wie du, besonders gefährdet sind, Opfer von solchen Typen zu werden.“ Er sah etwas unbehaglich aus. „Es tut mir leid, dass ich etwas spät dran war, aber du hast mich bisher richtig auf Trab gehalten und ich habe auch noch andere Aufgaben zu erfüllen.
„Oh, nimm dies.“ Er hielt Will plötzlich ein kleines Stück Steak hin. „Drück' das gegen dein Auge. Soll helfen.“
Immer noch verwirrt tat Will, wie ihm geheißen war.
„Und versuch' mal, nicht in noch mehr Schwierigkeiten zu geraten, bevor das Schuljahr anfängt – meine Frau schimpft immer, wenn ich zu lange weg bin, und du bist immer für einen Zwischenfall gut.“ Müde schaute er die Straße rauf und runter. „Ich begleite dich nach Hause“, sagte er. „Nur für den Fall, dass ich einen oder zwei der Typen übersehen habe. Sie werden dich nicht nochmal in die Finger kriegen.“
„Aber wie ... wo...?“ Will wusste gar nicht, was er zuerst fragen sollte.
„Oh, meine Schuld, meine Schuld. Ich habe es dir ja noch gar nicht erklärt“, sagte Conrad. „Ist eigentlich ganz einfach. Ich fungiere nicht nur als Abgesandter, sondern mein eigentlicher Job ist beim Sicherheitsdienst von Snowfields. Ich bin Feldagent und damit beauftragt, die Mitglieder der White Christmas Organisation zu überwachen, die einem hohen Risiko ausgesetzt sind. Und, wie ich dir schon gesagt habe, hast du eine ziemlich hohe Risiko-Einstufung. Aber wir sind schon da.“
Sie näherten sich Wills Haus und er wollte sich gerade an Conrad wenden, um ihn etwas zu fragen, als der Abgesandte – oder Agent oder was auch immer – einfach verschwand. Aber irgendwie spürte Will immer noch seine Anwesenheit. Er fühlte sich beschützt, sicher und eigentlich ziemlich geehrt und war froh, dass er seinen Peinigern so leicht entkommen war.
Als seine Mutter sein blaues Auge sah, musste er ihr natürlich sofort erklären, dass er in eine kleine Prügelei geraten war. Lucy, die dies zufällig mitbekam, brach unvermittelt in Tränen aus.
„Das ist alles meine Schuld“, schluchzte sie und erzählte ihnen dann, was im Januar passiert war.
„Lucy! Wie konntest du nur?“, schimpfte ihre Mutter. „Du weißt doch, dass wir alle Wills neues Leben geheimhalten müssen.“
„Oh, Mum. Es ist doch nicht so schlimm“, sagte Will. „Diese Kerle hatten es schon seit dem Weihnachtsfrühstück in der Schule auf mich abgesehen. Ich fürchte, ich habe mich damals selber etwas verraten, sogar noch bevor ich jemals etwas von Snowfields gehört hatte. Ich denke, sie halten mich für ziemlich bekloppt. Aber wie auch immer, in ein paar Tagen werde ich fort sein und sie werden einen anderen finden, den sie in die Mangel nehmen können. Und Lucy, pass einfach auf, dass du ihnen eine Weile aus dem Weg gehst. Dann werden sie dich wieder vergessen.“
Will konnte seine Mutter erst beruhigen, als er ihr von Conrads Eingreifen erzählte und wie dieser über Will zu wachen schien.