Читать книгу Betrug in Snowfields - Daniel Klock - Страница 6
ОглавлениеKapitel 3
Schließlich war der große Tag gekommen. Es war der 1. März. Will hatte die ganzen Sachen, die er mitnehmen würde, schon Tage vorher gepackt. Alles passte in einen kleinen Koffer, da er – wie ihm ja schon in dem Brief mitgeteilt worden war – das meiste, das er brauchen würde, in Snowfields erhalten sollte, und er nur seine persönlichen Sachen mitbringen musste.
Der Koffer stand neben seinem Schreibtisch und der Zettel mit den Anweisungen, wie er nach Snowfields gelangen würde, lag parat. Will hatte ihn seit Weihnachten mehr als hundertmal gelesen, insbesondere in den letzten paar Tagen. Er war so aufgeregt und konnte es kaum erwarten, sich auf den Weg zu machen.
Nachdem er um acht Uhr aufgestanden war, ging er hinunter, um ein letztes Mal für eine ziemlich lange Zeit mit seinen Eltern zu frühstücken. Während des Frühstücks wurde ihm dies erst so richtig bewusst und seine Begeisterung wurde etwas gedämpft bei dem Gedanken, dass er jetzt für die nächsten Monate in einer völlig neuen Umgebung ohne seine Familie leben und sie erst in den Sommerferien wiedersehen würde. Aber trotzdem freute er sich darauf, nach Snowfields zu gehen.
Sie redeten nicht viel während des Frühstücks, nur die üblichen Dinge, die man in so einer Situation sagt, wie „Bist du sicher, dass du alles gepackt hast?“, „Du wirst dich benehmen, hörst du?“, „Und lass uns wissen, wie es dir geht!“, „Hast du alles gepackt, was du brauchst? Nichts vergessen? Ganz sicher?“.
Um viertel vor zehn stand Will auf, um sich fertig zu machen, nahm seine Jacke, faltete das Papier mit den Anweisungen für die Reise zusammen und steckte es in seine Tasche – obwohl er inzwischen jedes Wort auswendig konnte. Er nahm seinen Koffer und ging die Treppe hinunter, wo seine Eltern schon im Flur auf ihn warteten. Er umarmte sie noch einmal.
„Ich hoffe, du wirst dort eine tolle Zeit haben,“ sagte seine Mutter. „Und ich bin sehr stolz darauf, dass du ausgesucht wurdest, diese Schule zu besuchen.“ Sie drehte den Kopf zur Seite und rieb sich die Augen, in denen etwas Feuchtigkeit glitzerte. Sein Vater klopfte ihm grob auf die Schulter und gab ihm eine letzte schnelle Umarmung. Dann nahm er Wills Koffer, öffnete die Haustür und ging nach draußen. Will sah sich ein letztes Mal im Flur um und folgte dann seinem Vater. Seine Mutter kam zuletzt. Sie schloss die Tür und zusammen gingen sie den Pfad durch den Vorgarten hinunter, erreichten die Straße und wandten sich nach links, wo die nächste Straßenlaterne stand.
Will stellte sich direkt darunter und blickte die Straße auf und ab, um sicherzugehen, dass niemand zuschaute. Seine Eltern traten mehrere Schritte zurück, denn keiner wusste so recht, was geschehen würde. Will sah auf seine Uhr: 9.58 Uhr. Zeit loszulegen, dachte er. Er nahm das Papier mit den Anweisungen, ergriff seinen Koffer und winkte seinen Eltern ein letztes Mal zu.
„Tschüss dann, bis zu den Sommerferien“, rief er.
Seine Eltern winkten zurück und seine Mutter rief: „Tschüss, Will, ich wünsch' dir eine tolle Zeit!“ Dann, während er seine Eltern ansah, sagte Will den Spruch auf, so wie er in der Anleitung geschrieben stand. „Rufe Cloudy's Transportation Service. Transport benötigt.“
Seine Mutter und sein Vater verschwanden. Tatsächlich verschwand alles. Er fühlte ein leichtes Prickeln überall am Körper. Dann war es vorbei – es hatte nicht einmal eine Sekunde gedauert – und er konnte wieder etwas sehen. Er hoffte es zumindest, denn alles, was er sehen konnte, war weiß.
Er war in einem Raum mit weißen Wänden, einem weißen Fußboden und einer blauen Decke. Dann fiel ihm auf, dass es gar keine Decke war, sondern dass er in den klaren, blauen Himmel schaute. Und der ganze Raum war in helles Sonnenlicht getaucht. Die Wände und der Fußboden sahen etwas uneben aus. Er berührte die Wand neben sich, und sie fühlte sich ziemlich ... nun ... flockig an. Ein bisschen so wie Watte. Plötzlich wurde ihm klar, dass er überhaupt nicht in einem Zimmer stand, dass er tatsächlich nicht einmal mehr auf dem Erdboden stand: Er war umgeben von und stand auf – einer Wolke. Er befand sich tatsächlich im Inneren einer hellen, flockigen, weißen Wolke!
Aber bevor er darüber noch weiter nachdenken konnte, hörte er eine Stimme: „Ah, der Nächste. Hallo, Sie da. Hallo? Ja, ich meine Sie, Will. Und zwar Mr Will Burns, wenn ich korrekt informiert wurde.“
Will war komplett verwirrt. Wie konnte jemand hier oben sein? Nun, er war hier oben, also war zu erwarten, dass jemand anderes auch hier oben sein konnte. Aber wie konnte dieser jemand seinen Namen wissen? Er drehte sich um und fand es ziemlich schwer zu glauben, was er da sah: eine ziemlich kleine Gestalt hinter einem hellbraunen Schreibtisch. Die Gestalt war vollständig grün: grüne Arme, grünes Gesicht, grüne Augen und sogar grüne Haare. Im scharfen Kontrast hierzu trug sie ein leuchtend rotes Gewand, goldene Handschuhe und einen goldenen Zylinder mit einem rotem Band. Offensichtlich stand sie auf einer Erhöhung, um über den Schreibtisch reichen zu können.
Die seltsame Gestalt winkte Will zu: „Kommen Sie schon, ich beiße nicht. Und wir haben nicht den ganzen Tag Zeit, wissen Sie.“
Will ging hinüber zu dem Schreibtisch. Mit jedem Schritt fühlte er, dass der „Boden“ unter seinen Füßen ziemlich federte.
„Sie sind also auch auf dem Weg nach Snowfields, richtig?“, fuhr die Gestalt hinter dem Schreibtisch fort.
Will nickte, als er den Schreibtisch erreichte.
„Das dachte ich mir. Nun, ich habe natürlich auch ein Memo bekommen, dass Sie heute hier durchkommen werden.“
Die Gestalt verzog das Gesicht. „Das Memo sagte auch noch, dass wir uns benehmen und Sie angemessen willkommen heißen sollen.“ Sie schnaubte. „Als ob wir jemals unhöflich gegenüber Kunden wären!“
Dann bemerkte sie, dass Will sie verständnislos ansah. Ihre Augen verengten sich.
„Ich weiß, was Sie denken. Sie denken, ich bin ein Wicht, ja?“
„Nein, nein, natürlich habe ich ...“, stotterte Will.
„Nun, es wäre besser, Sie würden es denken, denn genau das bin ich. Jeder, der hier oben arbeitet, ist ein Wicht.“ Die Gestalt lächelte. Dann schlug sie sich mit der flachen Hand gegen die Stirn, wobei sie fast ihren Zylinder verlor. „Aber wo bleiben meine Manieren. Bitte entschuldigen Sie mich.“ Dann verbeugte sie sich tief, lächelte und streckte eine Hand aus. Will bemühte sich sehr zu ignorieren, dass diese sechs Finger hatte. „Ich bin Lektrin, Ihr ergebener Diener. Und bevor Sie irgendetwas verwechseln, ich bin ein Wicht-Mann. Wir Männer tragen die Zylinder und die Wicht-Frauen die spitzen Hüte. Spitzer Hut, spitze Zunge – klar?“
Will fühlte sich immer noch ziemlich verwirrt, schüttelte aber die angebotene Hand und sagte: „Äh, ich bin Bill Wurns … äh, ich meine, Will Burns.“
„Nun gut, Will. Willkommen bei Cloudy's Transportation Service, mit uns wird Reisen einfach. Suchen Sie sich einfach eine Straßenlaterne, sagen Sie die Worte, dann holen wir Sie ab und bringen Sie hin, wo immer Sie wollen. Das ist unser Motto“, fügte er mit einem leicht verlegenen Grinsen hinzu und deutete auf das Abzeichen, das an seiner Robe befestigt war. Dort stand „Cloudy's“.
„So“, fuhr er fort, „Sie wollen also nach Snowfields? Eine ausgezeichnete Schule ist das. Geben Sie mir nur eine Sekunde, um das richtige Formular für Sie zu finden.“
Er blätterte durch die Papiere auf seinem Schreibtisch. Einige fielen auf den Boden, aber der Wicht ignorierte sie.
„Ah, hier haben wir es: Will Burns.“ Er schaute das Papier genauer an, dann musterte er Will. „Ja, das sind Sie auf dem Foto hier, also haben Sie die Genehmigung, Cloudy's Transportation Service zu nutzen.“
Er riss etwas von dem Formular ab und gab es Will. Es sah aus wie eine Art Kreditkarte.
„Das ist Ihr Beförderungsausweis für Cloudy's Transportation Service. Zeigen Sie diesen einfach dem Personal, wenn Sie den Service nutzen wollen, und wir werden Sie überall hinbringen, wo immer Sie auch hin wollen. Nun, wenn Sie jetzt bitte durch das Tor dort drüben gehen würden, dann werden sich meine Kollegen weiter um Sie kümmern. Vielen Dank, dass Sie Cloudy's Transportation Service nutzen, und vergessen Sie nicht, Ihre 'Miles-and-a-lot-More' zu sammeln.“
Lektrin schaute wieder hinunter auf seine Papiere, dann schien er zu bemerken, dass einige auf den Boden gefallen waren. „Mist.“ Er stieg herunter von wo auch immer er drauf gestanden hatte und fing an, die Papiere fluchend aufzusammeln.
Will ging zu der Öffnung in der Wand neben dem Schreibtisch, wobei er sich fragte, was Lektrins letzte Bemerkung bedeuten sollte. Aber dann sah er ein Plakat, das an der Wand – bzw. „der Wolke“ – hing, wie Wills Gehirn vorlaut einwenden musste, und las: „Denken Sie daran, Ihre Meilen mit unserem Miles-and-a-lot-More-Programm zu sammeln, und freuen Sie sich über unsere attraktiven, – kostenlosen Prämien.“ Er schüttelte den Kopf und ging durch die Öffnung.
Jetzt stand er in einem ziemlich großen, runden Raum. Wieder waren Boden und Wände weiß und flauschig und der blaue Himmel bildete die Decke. In den Wänden waren über ein Dutzend Öffnungen, die in Tunnel führten, die so lang waren, dass er ihre Enden nicht sehen konnte. In der Mitte des Raumes waren mehrere Schreibtische. Dahinter saßen weitere Wichte. Auch diese waren vollständig grün, in rote Roben gewandet und trugen goldene Hüte mit roten Bändern. Mehrere von ihnen unterhielten sich mit Kunden.
Will sah sich um. Da war ein kleiner Mann mit Brille, der einen langen schwarzen Mantel und eine Melone trug. Neben ihm stand ein schwarzer Aktenkoffer, gegen den ein schwarzer Schirm gelehnt war. Das Holz des Griffs war sehr sorgfältig zu dem Kopf eines Papageien ausgearbeitet. Will wollte sich gerade weiter im Raum umsehen, schaute dann jedoch schnell wieder zu dem Schirm zurück. Denn was gerade noch wie ein gewöhnlicher Papageienkopf aus Holz ausgesehen hatte, fing plötzlich an, sich zu bewegen. Er starrte ihn an und der Kopf starrte zurück. Dann zwinkerte dieser Will listig zu und begann, mit seinem Eigentümer zu reden, der ihm gelassen antwortete.
Will schüttelte fassungslos den Kopf und schaute den nächsten Kunden genauer an. Dieser war sogar noch seltsamer: eine ziemlich kleine Gestalt, die einen großen konischen Helm trug sowie einen dunkelroten Umhang mit goldenen Verzierungen. Ihr Gesicht war hinter einem riesigen Bart verborgen. Dies war an sich noch nicht weiter schlimm, bis Will die kleine Axt an ihrer Seite auffiel und feststellen musste, dass dies offensichtlich ein Zwerg war. Ein echter Zwerg!
Mittlerweile hatte einer von den Wichten bemerkt, dass Will dort im Eingang stand, und winkte ihm zu. „Hey, Mr Burns! Hier drüben! Wie kann ich Ihnen helfen?“
Irgendwie wusste hier anscheinend jeder seinen Namen, dachte Will. Er ging hinüber zu dem Schreibtisch. Als er ihn erreichte, verbeugte sich der Wicht tief, wobei der spitze Hut direkt auf Will zeigte und sagte: „Lektra, Ihre ergebene Dienerin.“
„Äh, Ihr Kollege hat mir das hier gegeben und mich hierhin geschickt.“ Will gab Lektra den Beförderungsausweis.
„Ah, Sie sind einer von den Neuen, richtig? Nur einen kleinen Augenblick. Ich habe das Memo hier irgendwo.“ Sie blätterte durch die Papiere auf ihrem Schreibtisch und ziemlich viele davon fielen über den Rand und außer Sicht. „Oh, Mist“, murmelte sie. Sie gab Will ein kurzes, entschuldigendes Lächeln. „Diese Verzögerung tut mir wirklich leid. Normalerweise machen wir alles mit unseren Computern, aber es wurde dieses großartige neue System installiert. 'Doors' heißt es. Als sie es installiert haben, sagten sie, dass es das fortschrittlichste System überhaupt sei und nur äußerst selten abstürzen würde, etwa einmal in zehn Jahren. Nun, die zehn Jahre waren genau nach zwei Stunden um und für den Rest des Tages ist das System alle zwei Minuten abgestürzt. Wir haben dann wieder auf normales Papier umgestellt.“ Sie schnaufte verächtlich. „'Was wollen Sie heute machen?' ist der Slogan von diesem blöden Doors-Programm. Nun, ich weiß genau, was ich mit diesem Programm machen will, aber es wäre äußerst unangemessen, dies vor einem Kunden auszusprechen ... Ah, hier ist es endlich.“ Sie zog ein Blatt Papier aus einem der Stapel, der anfing, gefährlich zu wackeln und dann ins Rutschen kam. Die Papiere segelten vom Schreibtisch und gesellten sich zu den anderen am Boden. Auf der Wolke. Wie auch immer.
„Mal sehen“, fuhr Lektra fort. „Genau, Will Burns, Schüler in Snowfields. Oh, Sie gehen ja nach Snowfields. Das ist toll. Ich habe gehört, dass die Schule dort einfach fantastisch sein soll. Nun, geben Sie mir eine Minute. Ich glaube ...“ Sie sah sich in der Halle um. „Perfekt. Lektrius“, rief sie.
Ein anderer Wicht, der gerade einen Kunden bediente, schaute auf. „Lektra, meine Liebe, was kann ich für dich tun?“
Will sah mit Erleichterung, dass der Kunde, den der andere Wicht bediente, ein vollkommen normaler Mensch war. Genauer gesagt war es ein Mädchen und es schien ungefähr so alt wie Will zu sein. Es hatte ziemlich langes blondes Haar und trug einen langen schwarzen Mantel. Es schaute zu Lektra herüber und als sie Will sah, wechselte ihr Gesichtsausdruck von leichter Verwirrung zu ziemlicher Erleichterung, als ob es auch ganz froh war, einen anderen Menschen hier oben zu sehen.
„Du hast doch auch einen für Snowfields da, oder?“, rief Lektra.
„Ja, das stimmt“, kam die Antwort von Lektrius, nachdem er die Papiere auf seinem Schreibtisch konsultiert hatte.
„Dann können die beiden doch zusammen reisen, oder? Meiner ist auch für Snowfields.“
„Klar, kein Problem. Ich warte auf dich.“
Lektra wandte sich wieder an Will und grinste. „Perfekt. Sie haben da jetzt schon eine Schulfreundin getroffen. Ich mache nur kurz die Papiere fertig und dann schicken wir Sie beide auf den Weg.“
Hiermit begann sie eine richtiggehende Schlacht auf ihrem Schreibtisch: Formulare in allen möglichen Farben flogen durch die Gegend und ihre Waffen waren eine Armee von Stempeln und ein Arsenal von Federkielen, Stiften und Bleistiften. Nach einigen Minuten schien sie den Kampf gewonnen zu haben, lächelte Will entschuldigend zu und gab ihm seinen Beförderungsausweis zurück – zusammen mit einem kleinen roten Papierstück.
„Das tut mir echt leid, aber ohne die Computer haben wir so einen Berg von Papierkram hier oben, dass ich mich manchmal frage, ob wir tatsächlich ein Transportdienst oder doch eher eine Papierfabrik sind. Sie müssen jetzt in den Tunnel dort drüben gehen, wo 'Transfers' auf dem Schild steht. Gehen Sie einfach hinein, der Rest wird automatisch passieren. Die rote Karte ist Ihr Ticket. Sie erhalten 120 Meilen für diese Reise. Vielen Dank, dass Sie Cloudy's Transportation Service nutzen.“
„Vielen Dank“, sagte Will. „Tschüss.“ Als er zu dem genannten Tunnel hinüberging, sah er, dass das Mädchen ebenfalls fertig war und zu dem gleichen Tunnel unterwegs war. Sie trafen sich vor dem Eingang und sahen sich an.
„Hallo. Ich bin Will, Will Burns“, sagte er mit einem zaghaften Lächeln.
„Hallo. Mein Name ist Annabel Winston“, sagte sie und lächelte zurück. „Bist du auch neu in Snowfields?“
„Ja. Ich kann immer noch nicht ganz glauben, dass dies alles tatsächlich passiert und ich wirklich zu dieser Schule gehen werde.“
Sie lachte. „Mit geht’s genauso. Ich war ja so überrascht, als Mr Chevalier an Weihnachten zu unserem Haus gekommen war, um mir zu sagen, dass ich von Snowfields angenommen wurde – obwohl ich mich doch nie dort beworben hatte. Ich hatte ja noch niemals von diesem Ort gehört.“
Will nickte. „Das ist genau, was ich auch gedacht hatte.“ Er schaute in den Tunnel. „Nun, wir sollten da reingehen.“
Annabel nickte ebenfalls und zusammen betraten sie den Tunnel. Dann quiekte Annabel leicht und Will schnaufte überrascht. Der Boden hatte genau so ausgesehen, wie in den anderen Räumen, weiß und flauschig. Aber sobald sie den Tunnel betreten hatten, fing der Boden plötzlich an, sie vorwärts zu tragen. Will erholte sich von der Überraschung und wandte sich an Annabel.
„Ich denke, das muss so etwas sein wie diese flachen Rolltreppen, wie es sie an großen Flughäfen gibt.“
„Ja, vermutlich. Aber sie hätten uns doch wenigstens warnen können!“, sagte Annabel empört.
„Wahrscheinlich haben sie einfach nicht daran gedacht, dass wir sowas nicht kennen.“
Annabel sagte nichts dazu, sondern musterte den sich bewegenden Boden immer noch misstrauisch.
Da sie sich ziemlich schnell bewegten, dauerte es nur einen kurzen Augenblick, bis sie das Ende des Tunnels erreichten. Dort wurde der Boden langsamer und hielt schließlich vollständig an, als sie am Ende eine Öffnung zu einem weiteren Raum gelangten. Sie nahmen ihre Koffer, die sich mit ihnen vorwärts bewegt hatten, gingen einige Schritte in den Raum hinein und schauten sich um. Sie waren anscheinend in einem weiteren Abfertigungsbereich: Vier Tunnel führten aus dem Raum heraus, jeweils beschriftet mit „Express“, „Premium“, „Standard“ und „Funktionell“. Es gab außerdem vier Schalter, einen neben jedem Tunnel.
Hinter den Schaltern schwebten kleine Wolkenvierecke mehrere Zentimeter über dem Boden. An den Schaltern saßen vier Wichte, alle in eine rote Robe gekleidet und mit den goldenen Hüten mit rotem Band und sie hatten alle die üblichen Papierstapel vor sich.
Als Will und Annabel den Raum betraten, schauten alle vier Wichte erwartungsvoll auf. Derjenige, der an dem Tunnel mit der Kennzeichnung 'Express' saß, rief: „Miss Winston, Mr Burns. Wenn Sie so freundlichen wären, hier herüber zu kommen, dann werden wir Sie in Nullkommanichts auf den Weg bringen.“ Die anderen drei Wichte wandten sich wieder ab und sahen ziemlich gelangweilt aus.
Will und Annabel gingen hinüber zu dem Schalter. Der Wicht verbeugte sich vor jedem von ihnen und sagte: „Lektro, Ihr ergebener Diener.“ Dann sah er auf seine Papiere und murmelte: „Nun, mal sehen. Will Burns und Annabel Winston. Wo habe ich dieses Memo nochmal ... ah, hier ist es ja! Könnte ich wohl Ihre Tickets sehen, bitte? Das sind die roten Karten.“ Will und Annabel gaben ihm ihre Karten. „Danke schön. Ah, ja. Ziel ist Snowfields, Klasse ist 'Express', Status ist 'bevorzugt', besondere Vorkehrungen ... Oh, Sie haben die prachtvolle Tour. Die ist großartig! Sie wird Ihnen bestimmt gefallen. Die große Tour ist meine bevorzugte Art, nach Snowfields zu reisen. Sie ist perfekt, um einen ersten Eindruck von dem Ort zu gewinnen. Aber das werden Sie ja alles selber sehen. Nun gut, wenn Sie mir bitte Ihr Gepäck geben würden? Vielen Dank.“
Lektro stellte ihre Koffer auf ein kleines Wolkenrechteck, das hinter seinem Schalter einige Zentimeter über dem Boden schwebte. Dann holte er etwas hervor, das aussah wie ein kleiner Stock, und berührte damit die Koffer. Ein leuchtendes Etikett erschien auf beiden wie aus dem Nichts. Darauf stand in großen goldenen Lettern „Snowfields“. Er gab der Wolke eine leichten Stoß mit seinem Stock und sie schwebte lautlos durch eine kleine Öffnung in der Wand hinter den Schaltern. Will verfolgte alles voller Verwunderung und schaute dann Annabel an. Das war Magie – die Etiketten waren einfach so erschienen! Annabel sah ihn ebenfalls an und wirkte genauso überrascht.
Lektor ignorierte dies völlig. „Also gut, damit haben wir uns um Ihr Gepäck gekümmert. Dann sehen wir mal zu, dass wir Sie beide auf den Weg bringen.“ Lektro gab ihnen ihre Tickets zurück. „Gehen Sie einfach durch das Portal hier neben meinem Schalter und Ihre Reise wird beginnen. Vielen Dank, dass Sie Cloudy's Transportation Service benutzen. Immer Ihr ergebener Diener.“
Er verbeugte sich jeweils wieder tief vor ihnen.
Will und Annabel gingen durch das Portal. Dahinter war ein weiterer Korridor und wieder, sobald sie ihn betraten, fing der Boden an, sich zu bewegen und sie mit sich zu nehmen. Dieses Mal waren sie jedoch hierauf vorbereitet. Schließlich hielt der Boden an und sie kamen in den bisher größten Raum, den sie hier oben gesehen hatten. Will fiel sofort auf, dass dieser nur drei Wände hatte. Wo die vierte Wand hätte sein müssen, konnte er nur blauen Himmel sehen. Dutzende Schlitten standen überall in der Halle, jeder mit Rentieren davor. Alle waren in ordentlichen und geraden Reihen angeordnet, genauso wie auf einem Autoparkplatz – oder vielmehr einem Schlittenparkplatz. Einige waren sehr groß und wurden von vier oder sogar sechs Rentieren gezogen; die anderen waren kleiner und hatten nur zwei Rentiere. An einer Seite der Halle stand ein riesiger Schlitten und dieser wurde von nicht weniger als zwölf Rentieren gezogen.
Bevor Will und Annabel sich weiter umschauen konnten, wurden sie wieder von einem anderen Wicht (grün, rotes Gewand, goldener spitzer Hut mit rotem Band) begrüßt. „Miss Winston, Mr Burns? Willkommen. Ich bin Lektrissara, Ihre ergebene Dienerin.“ Sie verbeugte sich tief vor ihnen. Dann zog sie ein Memo aus Ihrer Robe und schaute es flüchtig an. „Ah, ja.“ Sie schaute wieder auf, lächelte Will und Annabel freundlich zu und machte eine einladende Geste mit ihrer Hand. „Wenn Sie mir bitte folgen würden? Schlitten Nr. 16 ist für Sie reserviert.“
Sie folgten ihr zu einem Schlitten und als sie dort ankamen, bedeutete Lektrissara ihnen aufzusteigen. Dann ging sie, jedoch nicht ohne ein „Vielen Dank, dass Sie Cloudy's Transportation Service nutzen“, sofort gefolgt von der unvermeidlichen Verbeugung , kombiniert mit „Ihre ergebene Dienerin“.
Sobald sie sich hingesetzt hatten, sagte der Fahrer des Schlittens: „Hallo. Mein Name ist Lektrorius, Ihr ergebener Diener!“ Er verbeugte sich ebenfalls tief vor ihnen. „Bitte machen Sie es sich bequem. Ich fliege Sie hinüber nach Snowfields. Dies ist Ihr erster Flug?“, fügte er mehr als Feststellung denn als Frage hinzu.
Beide nickten, obwohl Will kurz an seinen Flug mit Conrad dachte. Aber das war ja nur ein kurzer gewesen, nur eben über sein Haus, und zählte daher wohl nicht.
„Nun gut. Ich kann Ihnen versichern, dies wird Ihnen ganz bestimmt gefallen! Ich habe noch nie jemanden getroffen, der das Fliegen nicht großartig fand. Und der Ausblick ist unglaublich. Es gibt keinen Grund, sich Sorgen zu machen“, fügte Lektrorius hinzu, als er ihr leicht besorgtes Lächeln sah. „Dies ist eine völlig sichere Art des Reisens. Also, genießen Sie einfach die Aussicht, wickeln Sie sich in die Decken ein, falls Ihnen kalt wird, und schon geht’s los.“
Er schüttelte die Zügel, die vier Rentiere traten aus der Reihe heraus und zogen den Schlitten zu der offenen Wand – und weiter direkt über den Rand hinaus, gerade so, als würde sich dort fester Boden befinden und nicht dünne Luft. Lektrorius zog die Zügel. Die Rentiere wurden schneller und gewannen an Höhe.
Nach dem ersten Schock fühlte Will sich etwas sicherer und lockerte seinen doch sehr festen Griff an der Reling des Schlittens. Er sah sich um. Sie waren bereits hoch in der Luft und auf gleicher Höhe mit einigen aufgetriebenen, weißen Wolken. Er konnte kaum noch den Boden sehen und das auch nur hin und wieder, wenn es eine Lücke in der Wolkendecke gab. Daher konnte er auch nicht viele Details ausmachen, nur eine kleine Stadt, einen dunklen Wald und einen kleinen See. Hinter ihm wurde die Öffnung zum Schlittenhangar immer kleiner und kleiner. Dann konnte er nur noch eine vollkommen unverdächtig aussehende Wolke erkennen. Er drehte sich zu Annabel. Sie sah immer noch etwas geschockt aus, aber schien sich zu beruhigen, als sie die Wolken rundherum anstarrte. Ein Ausdruck voller Wunder leuchtete aus ihrem Gesicht.
„Sie sehen so wunderschön aus, wenn man so dicht bei ihnen ist“, sagte sie verträumt. Und sie hatte recht, dachte Will. Die Wolken strahlten so leuchtend und rein im hellen Sonnenlicht. Sie formten filigrane Figuren aus purem Weiß in dem ansonsten blauen Himmel. Und jede leichte Berührung durch den Wind hinterließ hier und da kleine Veränderungen in der Struktur.
„Ja“, sagte Will, während er hierüber nachdachte. „Und die Welt sieht so klein und unbedeutend aus da unten.“
Annabel nickte nur und sie betrachteten beide schweigend und voller Bewunderung die Umgebung, vollkommen verzaubert von der Schönheit, die sie umgab.
Schließlich näherten sie sich einer riesigen Wolke und Lektrorius schüttelte erneut die Zügel, sodass die Rentiere langsamer wurden. Will schluckte. Es sah so aus, als ob sie direkt in die Wolke hineinfliegen würden.
Lektrorius drehte sich zu Will und Annabel. „Wir werden nun durch die Hauptpassage nach Snowfields fliegen“, sagte er zu ihnen und deutete, nicht ohne zu Grinsen, auf eine große Öffnung, die sich in der Wolke auftat.
Sie flogen durch die Öffnung und einen Tunnel entlang, der sie immer weiter nach unten führte. Er wurde durch das Sonnenlicht beleuchtet, das durch die Wolke gefiltert wurde und dem Tunnel ein ziemlich unheimliches Aussehen verlieh. Er war viel breiter als hoch und unterwegs flogen sie an recht vielen anderen Schlitten vorbei, die den Tunnel hinaufkamen. Nach einer kurzen Zeit und einigen leichten Kurven erreichten sie eine Öffnung. In dem Augenblick, da sie den Tunnel verließen, entfuhr Annabel ein kleiner Schrei der Entzückung.
„Oh, das ist einfach wunderschön.“
Will war auch ziemlich beeindruckt von dem Anblick.
Sie flogen hoch über einem Tal, das auf drei Seiten von Bergen umgeben war. Sie konnten die Bergspitzen nicht erkennen, da Wolken wie ein Ring um sie herum lagen. Der Gebirgszug öffnete sich auf der gegenüberliegenden Seite von einem Dorf. Dort befand sich ein dunkelgrüner Wald, der nur durch einen Weg und einen kleinen Fluss geteilt wurde, welcher sich zwischen den Bäumen hindurchwand. Der Fluss wurde von einem funkelnden Wasserfall gespeist, der an einem der Berge in die Tiefe stürzte. Dann floss er in leichten, eleganten Kurven durch das Dorf, bevor er in den Wald führte.
Die Häuser in dem Dorf waren von sehr unterschiedlicher Größe. Einige waren so klein, dass Will nicht glauben konnte, dass in ihnen genug Platz war, um dort leben zu können. Es gab normal-große Häuser – diese machten die Mehrzahl aus – und es gab einige extrem große, die wie Lagerhäuser aussahen.
Lektrorius zog erneut an den Zügeln und flog direkt über das Dorf hinweg. Er flog einen großen Bogen und ließ den Schlitten langsam tiefer sinken, sodass sie einen guten Blick auf die Gebäude erhielten. Will konnte nun erkennen, dass die Häuser alle im selben Stil gebaut waren, aber jedes hatte seine speziellen Besonderheiten, die es einzigartig machten, ohne jedoch das einheitliche Gesamtbild zu stören. Alle waren aus rotem Ziegelstein gebaut, hatten goldene Fensterrahmen und braune Türen. Die Dächer waren mit hellbraunen Pfannen gedeckt. Zwischen den Häusern verliefen sorgfältig gepflasterte Straßen mit goldenen Laternen in kurzen, regelmäßigen Abständen.
Dann bemerkte Will etwas, das nur die Lagerhäuser und die sehr großen Häuser besaßen: Genau in der Mitte der Dächer gab es keine Dachpfannen, sondern die Dächer waren mit beigen Kacheln gedeckt, mit Markierungen darauf. Dann verstand Will – dies waren Landeflächen für Schlitten, denn mehrere davon waren in den markierten Bereichen am Rande dieser Plattformen abgestellt. Während er noch schaute, konnte er sogar einen Schlitten sehen, der auf einer solchen Plattform auf einem der Warenhäuser landete.
Er konnte Leute in den Straßen sehen, aber keine Einzelheiten ausmachen. Es gab auch verschiedene Arten von Fahrzeugen, hauptsächlich Wagen und Schlitten. Über das ganze Dorf verteilt gab es recht viele kleine Gärten und grüne Bezirke mit Rasenflächen, mächtigen Bäumen, Blumen in allen möglichen Farben, Teichen und Springbrunnen.
Es war bei weitem der schönste und malerischste Ort, den sowohl Will als auch Annabel je in ihrem Leben gesehen hatten. Lektrorius drehte sich grinsend zu seinen beiden Passagieren um.
„Großartig, nicht wahr?“, fragte er sie.
Will konnte nur zustimmend nicken.
Lektrorius lenkte den Schlitten in eine Kurve und flog in Richtung des südlichen Endes des Dorfes. Dort stand ein sehr großes Gebäude, oder vielmehr ein Komplex von mehreren Gebäuden, umgeben von einem großen Park, der auch den leicht geschwungenen Fluss umfasste, welcher hier hindurchfloss, bevor er im Wald verschwand.
„Das dort drüben ist Ihre Schule“, sagte Lektrorius und deutete auf den Komplex. Will spähte über die Seite des Schlittens und in die Richtung, in die Lektrorius gezeigt hatte. Als der Schlitten in einem weiten Bogen entlang der Vorderseite der Schule flog, konnte Will sehen, dass die prunkvolle Fassade aus den gleichen roten Ziegelsteinen gebaut war wie bei den anderen Gebäuden, die er gesehen hatte. Fenster mit goldenen Rahmen glitzerten im Sonnenlicht. In der Mitte der Wand befand sich eine sehr hohe, mit kunstvollen Schnitzereien verzierte Tür aus braunem Holz, das auf Hochglanz poliert war. Aber bevor er noch mehr Einzelheiten erkennen konnte, waren sie schon vorbei und flogen über den Rest des Schulgebäudes. „Sieh nur, diese wunderschönen Türme und Türmchen da drüben“, sagte Annabel. „Und die Struktur mit dem Glasdach ganz dort hinten in der Nähe von dem Wald sieht so aus, als würde sie gar nicht hierhin passen – es sieht eher wie ein Labor oder eine Fabrik aus.“
Sie hatten nun die andere Seite des Komplexes erreicht. Die Fassade war so ähnlich wie auf der Vorderseite und hier war eine weitläufige Rasenfläche, die von Bäumen und Büschen begrenzt wurde. Dann waren sie wieder über dem Hauptgebäude und flogen immer niedriger. Will konnte jetzt sehen, dass auch die Schule über eine kleine Landeplattform verfügte. Lektrorius flog direkt darauf zu und landete den Schlitten fast ohne jeden Stoß.
„Da wären wir“, sagte er zu ihnen. „Ich hoffe, Ihnen hat der Flug gefallen, besonders natürlich die Aussicht auf Snowfields. Und ich wünsche Ihnen eine gute Zeit hier. Vielleicht treffen wir uns ja mal wieder.“
Er grinste, stieg vom Schlitten und half Will und Annabel herunter. Dann nahm er seinen Zylinder ab, verbeugte sich tief vor ihnen und sagte höflich: „Vielen Dank, dass Sie Cloudy's Transportation Service genutzt haben. Immer Ihr ergebener Diener.“
Er hüpfte wieder auf seinen Schlitten, zog an den Zügeln und war fort.
Will und Annabel schauten sich auf dem Dach ringsherum um, bis sie eine Tür in der Wand neben der Plattform entdeckten. Sie sahen einander an und Will zuckte mit den Schultern. „Lass uns gehen.“
Und sie gingen hinüber zu der Tür. Sie waren immer noch einige Schritte entfernt, als diese sich plötzlich öffnete. Eine Frau trat hindurch und kam auf die Plattform. Sie war etwa mittleren Alters, nicht sehr groß und recht schlank; sie hatte blonde Haare und trug eine rot umrandete Brille, die einen ziemlichen Kontrast zu ihrem langen, recht schlichten, dunkelblauen Kleid bildete. Als sie Will und Annabel sah, blieb sie stehen, lächelte und nickte ihnen zu.
„Hallo. Willkommen in Snowfields, Miss Winston.“ Sie sah Annabel an, streckte ihren Arm aus und schüttelte Annabels Hand. „Und Mr Burns.“ Sie gab auch Will ihre Hand. „Ich bin Miss Dustfall und wünsche Ihnen eine sehr erfolgreiche Zeit hier in Snowfields. Wenn Sie mir bitte folgen würden, dann bringe ich Sie hinunter, wo schon andere neue Schüler warten.“
Sie drehte sich um und ging wieder hinein. Will und Annabel folgten ihr. Sie gingen einige Stufen hinunter und sie fragte die beiden, wie die Reise gewesen wäre. Während sie sich unterhielten, dachte Will, dass er sie eigentlich ganz nett fand. Dann hatten sie das Ende der Treppe erreicht und gingen einige Flure entlang, zwei kürzere Treppen hinunter und schließlich erreichten sie ein großes Foyer. Zuletzt schritten sie einen weiteren kurzen Flur entlang und kamen zu einer großen Doppeltür, die aus klarem und teilweise milchigem Glas bestand, sodass sich ein geschmackvolles Muster bildete.
Miss Dustfall öffnete die Tür und sagte: „Bitte warten Sie dort drin. Es geht weiter, wenn alle Schüler eingetroffen sind.“ Damit verließ sie die beiden.
Annabel ging in den Raum hinein und Will folgte ihr. Der Raum war ziemlich groß und enthielt Reihen von Tischen und Stühlen. Es gab jeweils einen Kamin an beiden Enden, in denen ein gemütliches Feuer brannte. Aber es gab kein Feuer in dem großen Kamin gegenüber der Tür. Zwei Mädchen und drei Jungen saßen an einem Tisch nicht weit von der Tür und sahen auf, als Will und Annabel hereinkamen.
Ein rothaariges Mädchen winkte ihnen zu und sagte: „Hallo. Seid ihr neu hier?“
Beide nickten und gingen hinüber zu dem Tisch.
„Wir auch“, fuhr das Mädchen fort. „Wir sind nur ein paar Minuten vor euch hier angekommen und waren gerade dabei, uns kennen zu lernen. Mein Name ist Bianca, Bianca Lane.“
Will und Annabel stellten sich vor.
„Mein Name ist Wesley Limerick“, sagte der dunkelhaarige Junge, der neben Bianca saß. Er war ziemlich groß und muskulös, auch wenn er etwas schüchtern wirkte.
Der Junge neben ihm hatte glatte, blonde Haare, trug eine Brille mit blauem Rahmen und war klein und schmal. Er sprang auf, um sie zu begrüßen. „Hallo, toll euch zu treffen. Fredorgius Bagshot ist mein Name, aber bitte nennt mich einfach Freddy. Jeder nennt mich so.“
Er schnappte sich Wills Hand und schüttelte sie energisch, während er weiter redete. „Ich glaube, wir werden hier in Snowfields eine großartige Zeit haben. Bei Corny hat sich das alles einfach nur fantastisch angehört. Wir werden dabei helfen, jedes Jahr Weihnachten zu organisieren und wir werden für … für den Weihnachtsmann persönlich arbeiten!“ Seine Stimme klang ganz ehrfurchtsvoll. „Stellt euch das nur mal vor. Ich kann es gar nicht abwarten, endlich anzufangen. Es wird so viel geben, was wir lernen müssen. Ich ...“
Will hatte seine freie Hand hochgehalten, um Freddy zu stoppen. Er fühlte sich ganz so, als würde er in dem Wortschwall ertrinken. „Freddy“, sagte er. Aber vergeblich, Freddy redete einfach weiter. Also reif er lauter: „Freddy!“
Dies zeigte Wirkung. Freddy brach mitten im Satz ab und ein ziemlich verlegener Ausdruck breitete sich auf seinem Gesicht aus.
Will lachte. „Freddy, es ist echt toll, mit dir zu reden, aber bevor wir weitermachen, könntest du wohl meine Hand loslassen? Ich denke, ich werde sie in Zukunft noch brauchen.“
Freddy schaute nach unten und bemerkte, dass er Wills Hand die ganze Zeit noch weiter geschüttelt hatte. „Oh, es tut mir so leid. Ich bin nur ein bisschen aufgeregt, dass ich endlich hier bin, und wenn ich aufgeregt bin, dann plappere ich immer ohne Punkt und Komma und ich ...“ Er bemerkte, dass er es schon wieder tat, und klappte seinen Mund fest zu.
Will lachte erneut. „Das ist schon in Ordnung. Ich denke, ich bin mindestens genauso aufgeregt wie du, und ich hoffe, dass sie uns bald mehr über alles hier erzählen werden.“ Er wandte sich dem dritten Jungen zu, der bis jetzt still und ruhig am Kopfende des Tisches gesessen hatte.
„Hi, ich bin Will“, sagte er und streckte seine Hand aus.
„Hallo. Richard Loxley.“ Und das war es. Er ignorierte Wills Hand völlig.
Annabel wandte sich an das zweite Mädchen, das sie anlächelte. „Ich heiße Wendy. Ich bin so froh, dich und Bianca hier zu treffen, denn bevor ich angekommen bin, hatte ich befürchtet, dass hier hauptsächlich Jungen wären.“ Sie grinste, als sie Annabels verständnisvolles Lächeln sah. „Ich sehe, du verstehst, was ich meine.“
Will und Annabel setzten sich zu den anderen und sie redeten über ihre Erwartungen. Sie hatten erst einige Minuten dort gesessen, als die Glastür sich erneut öffnete und eine weitere Schülerin hereinkam. Sie sah sich um und als sie sie alle am Tisch sitzen sah, kam sie näher und sagte: „Hallo, seid ihr auch neu hier?“
Alle nickten und sie lachte nervös: „Gut. Ich komme mir hier gerade ein bisschen verloren vor.“
Freddy lachte ebenfalls: „Mach dir keine Sorgen, wir fühlen uns auch alle so.“
Die anderen grinsten oder nickten.
„Oh, tut mir leid, ich habe mich gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Sabrina Bluetonic.“ Sie hielt ihre Hände hoch. „Fragt mich nicht, wie meine Eltern an den Namen gekommen sind. Ich habe alle ihre Erklärungsversuche nicht im Geringsten verstanden.“
Die anderen stellten sich ebenfalls vor und Sabrina setzte sich zu ihnen an den Tisch. Will bemerkte, dass sie schöne, tiefblaue Augen hatte, die einen perfekten Kontrast zu ihren langen, blonden Haaren darstellten.
Freddy nahm die Unterhaltung wieder auf. „Also, was denkt ihr?“, fragte er. „Werden wir dem Weihnachtsmann schon nächstes Weihnachten helfen?“
„Nun“, sagte Bianca, „nach dem, was ich bisher gehört habe, denke ich, dass die Organisation ziemlich groß ist und dass Snowfields nur eine kleine Sektion davon ist. Ich bin mir gar nicht sicher, ob der Weihnachtsmann tatsächlich auch hier ist. Ich bin aber überzeugt davon, dass wir zuerst das Training hier abschließen müssen, bevor wir wirklich für die Organisation arbeiten dürfen.“
Wesley fügte hinzu: „Und sicher wird es Tests und Prüfungen geben, die wir erst bestehen müssen, bevor wir etwas außerhalb der Schule machen dürfen.“
„Ja“, sagte Sabrina. „Und natürlich werden wir dem Weihnachtsmann nicht direkt helfen oder überhaupt in seiner Nähe sein. Diese Positionen werden den besten, erfahrensten Mitgliedern der Organisation vorbehalten sein. Wir werden den Weihnachtsmann sicher einige Jahre lang nicht einmal sehen.“
Freddy sah ein bisschen enttäuscht aus.
Dann öffnete sich die Tür und ein ziemlich gut aussehender, recht großer Mann, ungefähr Mitte vierzig, betrat den Raum und lächelte ihnen zu.
„Hallo.“ Er kam zu ihnen herüber. „Ich bin Argius Contractus, einer eurer Lehrer. Ich hoffe, ihr hattet alle eine interessante Anreise. Der Flug mit dem Schlitten war doch großartig, oder?“ Er lächelte, als einige von ihnen schüchtern nickten. „Ich möchte euch alle ganz herzlich hier in Snowfields willkommen heißen, in eurem neuen Zuhause für die nächsten Jahre.“ Er machte eine weite, ausladende Bewegung mit seinen Händen. „Es wird euch hier gefallen, obwohl ...“, zwinkerte er ihnen zu, „es wartet hier auch eine Menge zum Lernen auf euch.“
Die Schüler lächelten unsicher.
„Nun denn.“ Contractus klatschte in die Hände. „Ich hoffe, ihr habt euch schon miteinander bekannt gemacht.“ Er wartete auf ihr Nicken. „Gut. Ich habe euch schon gesagt, dass mein Name Contractus ist. Ich bringe euch bei, wie die Rohstoffe, die wir hier gebrauchen, angeschafft werden, und ich bin auch euer Lehrer für die grundlegenden Verfahren der Geschenkherstellung. Zusätzlich werde ich euer Tutor in Snowfields sein. Ich werde euch herumführen und helfen, euch hier einzuleben. Und ich bin immer für euch da, wenn ihr irgendwelche Probleme habt. Habt keine Hemmungen, mich anzusprechen. Das ist mein Job, und ich werde immer da sein, wenn ihr Hilfe braucht.“ Er lächelte sie erneut an. „Fangen wir damit an, dass ihr mir eure Namen sagt. Fang' du am besten an.“ Er deutete auf Annabel.
Nachdem sie ihm alle ihren Namen genannt hatten, lächelte Contractus wieder. „Fabelhaft. Dann lasst uns gehen und eure neue Schule erforschen – und euer neues Zuhause. Wir sind jetzt gerade im Ferum. Hier werden Versammlungen abgehalten, das Essen aufgetragen und es ist der allgemeine Aufenthaltsraum.
Sie sahen sich in dem großen Raum noch einmal genauer um.
„Okay, dann folgt mir. Wir kommen später hierher zurück.“
Er führte sie durch die Glastüren. Sie gingen einen Korridor entlang und kamen zurück in das große Foyer, das sie schon auf dem Weg zum Ferum durchquert hatten. Will sah sich um. Es war spektakulär. Und elegant. Das Foyer war ein großer, runder Raum. Flure und Treppen führten in alle Richtungen, außer einer Seite, wo eine mächtige hölzerne Doppeltür befand, die mit feinen Schnitzereien versehen war. Über das ganze Foyer verteilt waren weiße Bänke mit goldenen Kissen, die sowohl ziemlich bequem als auch elegant wirkten. Dazwischen standen große Weihnachtsbäume, die schwer beladen waren, mit leuchtend roten Kugeln, vielen kleinen, glitzernden Lichtern, Lametta, Zuckerstangen und all den anderen Dingen, die zu einem richtigen Weihnachtsbaum gehörten. Prächtige weiße Säulen waren in die Wände integriert. Goldfarbene Girlanden waren in sie hinein gemeißelt und wanden sich bis zur Spitze empor. Dekorative, leuchtend rote und grüne Wandteppiche hingen von der Decke. Eine imposante Glaskuppel bildete die Decke. Sonnenlicht fiel hindurch und glitzerte auf den goldenen Girlanden auf den Säulen. Der Boden bestand aus großen, polierten, cremefarbenen Marmorfliesen, die fugenlos zusammengefügt waren.
„Dies ist unsere große Eingangshalle.“ Contractus sah sich bewundernd um. „Ziemlich schön, wie ich finde. Macht euch keine Sorgen, dies ist der einzige Ort in Snowfields, an dem das ganze Jahr über Weihnachtsschmuck ist. Oh, und hier und auf der Plaza im Dorf natürlich. Überall sonst wird nur zur Weihnachtszeit geschmückt.“ Er deutete auf die hölzernen Türflügel. „Dies ist der Eingang zu unserer Schule. Dort draußen befindet sich der Rest von Snowfields. Es wird euch am Anfang wahrscheinlich schwer fallen, euch hier in der Schule zu orientieren, aber ihr werdet mit der Zeit alle Wege und Winkel kennenlernen. Kommt jetzt weiter, ich werde euch als Nächstes zu euren Räumen bringen.
Sie stiegen mehrere Treppen hinauf und durchquerten ein verwirrendes Labyrinth aus Fluren, bis sie schließlich eine weitere große Tür erreichten.
Mr Contractus trat direkt davor und murmelte etwas. Will hatte den Eindruck, er hätte eine andere Stimme antworten gehört. Aber er konnte nichts sehen, denn was auch immer Contractus dort machte, es wurde von seinem Körper verdeckt. Will nahm an, er öffnete die Tür mit einem Schlüssel. Jedenfalls war er auch viel zu sehr damit beschäftigt, sich umzuschauen, als dass er wirklich darauf achtete, was genau der Lehrer tat.
Die Tür öffnete sich und sie folgten Mr Contractus in den dahinter liegenden Raum. Hier gab es hochlehnige, gepolsterte Stühle, tiefe, gefederte Sofas und Tische mit Stühlen. Ein gemütlicher Kamin dominierte den Raum. Bunte Teppiche hingen hier und dort an den Wänden, während die Zwischenräume entweder grauer Stein oder braunes Holz waren. Will fühlte sich hier gleich ziemlich behaglich. Der Raum strahlte eine gemütliche Atmosphäre aus, ideal, um sich zu entspannen oder mit Freunden zusammenzusitzen.
Contractus machte erneut eine ausladende Bewegung mit seinen Händen. „Hier sind wir in dem Teil der Schule, der nur für euch ist. Dies wird euer neues Zuhause werden. Wir stehen jetzt in eurem Gemeinschaftsraum, wo ihr eure freie Zeit verbringen könnt.“
Dann gingen sie durch eine Tür in das nächste Zimmer. Es fiel Will nicht schwer, zu erkennen, dass sie jetzt im Arbeitszimmer waren: Schreibtische in allen möglichen Größen standen überall im Raum herum. Die Stühle hatten gerade Rückenlehnen und waren nur minimal gepolstert. An den Wänden standen hohe Bücherregale, alle komplett bis zur Decke gefüllt. Es gab sogar eine Leiter auf Rädern, um die obersten Regale zu erreichen. Dieser Raum verhieß harte und ernüchternde Arbeit und sie verließen ihn daher rasch.
Gerade als sie durch eine andere Tür traten und in den Flur dahinter kamen, gab eine riesige Standuhr zu ihrer Linken ein lautes, tiefes und durchdringendes „Gong“ von sich. Will und die anderen erschraken bei diesem plötzlichen Geräusch. Sie drehten sich um und gingen zu der Uhr hinüber. Dies war bei weitem die imposanteste Standuhr, die Will je gesehen hatte, gefertigt aus dunklem, polierten Holz und mit schweren, goldenen Gewichten. Das Zifferblatt war reich verziert und die goldenen Zeiger waren klar erkennbar. Aber am interessantesten war das Schild direkt unter dem Zifferblatt – rote Buchstaben auf weißem Grund. Will las dort: „Mittagessen in fünf Minuten.“ Er sah nach der Uhrzeit. Es war 25 Minuten nach zwölf.
Mr Contractus legte eine Hand an die Seite der Uhr. „Ah ja, die Uhr. Ihr habt sicher das Schild unterhalb des Zifferblatts bemerkt. Ihr müsst wissen; jedes Mal, wenn der Gong schlägt, erscheint ein Schild wie dieses und wird euch mitteilen, was los ist. Und wird euch natürlich darauf hinweisen, wenn ihr zu spät seid oder, was sicherlich nicht vorkommen wird, die nächste Unterrichtsstunde vergessen haben solltet. Sie wird euch auf die Essenszeiten hinweisen, auf den Anfang der nächsten Stunde und so weiter. Das kann ganz praktisch sein, wenn man so in seine Studien vertieft ist, so wie es bei euch – vermute ich mal – öfter der Fall sein wird.“
Die Schüler machten lange Gesichter, als er diese ganze Arbeit erwähnte. Aber dann sah Will, dass Mr Contractus ihnen zuzwinkerte. Er winkte sie weiter. „Los, lasst uns zum Mittagessen gehen.“
Und sie folgten ihm zurück in das Ferum.