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4.
ОглавлениеVerschwinden
SOLVEIG SPRICHT MEINEN Namen aus, als würde sie ihn flüstern. Doch ich kann ihn hören. »Emelie«, sagt sie. »Es ist Zeit. Wir müssen gehen.«
Solveig wird mich zum Bus bringen. Es wird das erste Mal sein, sagt sie, dass ich allein auf ein Progerie-Treffen reise. Kein anderes Kind ist je allein zu einem solchen Treffen gefahren. Der Gedanke, dass ich dort niemals ankommen werde, verursacht mir Herzklopfen.
Auf der Fahrt zum Bahnhof stellt mir Solveig Fragen. Sie listet alles auf, was ich im Koffer haben sollte. Sie schärft mir ein, woran ich alles zu denken habe. Sie fragt und fragt.
Ich bin erleichtert, dass der Fernbus pünktlich ist. Das Warten ist das Schlimmste. Dann starren sie dich an. Die Schüler zeigen mit dem Finger auf dich. Die Erwachsenen glotzen. Die religiös Getrösteten schenken dir mitleidige Blicke. Und die, die so tun, als wärst du normal für sie, bleiben mit ihren Blicken auf deiner Haut kleben, obwohl sie vorgeben, durch dich hindurchzusehen.
Du selbst kannst nur so tun, als würde dich das alles überhaupt nichts angehen. Als wärst du beschäftigt. Ich sehe dann immer auf meine Armbanduhr. Oder auf die Tafeln mit den Busfahrplänen. Oder ich suche mir einen Punkt auf den Hausfassaden. Auf dem Asphalt der Straße. Irgendwie ist der Himmel immer zu hoch.
Wenn ich abends in meinem Bett lag und daran zurückdachte, weinte ich. Meine Mutter bot mir immer wieder an, mich zur Schule zu bringen.
»Du musst nicht mit dem Bus fahren, Emelie«, sagte sie. Aber eigentlich wollte sie sagen, dass ich mir das nicht antun müsse. Sie, die mich jahrelang versteckt gehalten hatte, glaubte zu wissen, was ich an den hundertfünfundneunzig Schultagen im Jahr auszuhalten hatte. Aber sie war ahnungslos.
Der Fahrer starrt mich einen Augenblick fassungslos an. Er will etwas sagen, aber dann gibt er mir nur einfach schweigend das Ticket zurück.
Ebenso wortlos schiebt er meinen Koffer in den Laderaum. Die beiden Studentinnen, die vor der Fahrertür warten, begrüßt er mit einem Spruch, von dem er glaubt, dass er besonders cool sei: »Also bei mir kann jeder sagen, was ich will.«
Die Studentinnen lächeln gequält. Manche Leute, denke ich, muss man nur anschauen, um zu verstehen, warum es Klettverschlüsse für Erwachsenenschuhe gibt.
Solveig besteht darauf, mich zu meinem Platz zu bringen. Wir steigen hinten ein. So brauche ich nicht durch alle Sitzreihen zu gehen. Die hinteren Plätze sind fast alle noch leer. Ich wähle einen Fensterplatz. Da der Sitz neben mir sowieso meist unbesetzt bleibt, kann der kleine Rucksack, den Solveig auf den Nachbarsitz stellt, dort bleiben. Darin sind meine Bücher. Mein iPad. Meine Medikamente. Und ein Vorratspack Granatapfelriegel.
Solveig sieht mich zögernd an. Sie nimmt mich in den Arm. Sie flüstert mehr, als dass sie es sagt: »Pass gut auf dich auf, meine Kleine.« Dann verschwindet sie. Sie dreht sich nicht noch einmal um.
Ich frage mich, ob sie etwas ahnt.
Der Bus setzt sich in Bewegung. Es ist, als ob die Häuser, Parkplätze, Einkaufsmärkte und graufleckigen Parkanlagen wie auf einem Laufband an mir vorbeigezogen werden, während der Bus sich nicht von der Stelle zu bewegen scheint. Erst auf der Autobahn verschwindet diese Empfindung.
Ich genieße das Gefühl, unbeobachtet zu sein. Die hohen Sessellehnen schützen mich vor den Blicken der anderen. Das ist der Vorteil, wenn man nur einhundertfünfzehn Zentimeter groß ist.
Über die Bildschirme flackert eine amerikanische Teenagerkomödie. Es ist stockfinster. Offenbar liegen zwei Teenager zusammen im Bett.
»Ich liebe dich«, sagt der eine.
»Ich dich auch.«
»Ich begehre dich.«
»Ich dich auch.«
»Übrigens, ich heiße Ed.«
»Ich auch.«
Niemand lacht.
Zweifel steigen in mir auf. Werde ich den Bus so einfach verlassen können? Wird der Junge, mit dem ich verabredet bin, auch wirklich da sein? Und was dann?
Ich weiß, dass mein eigenes Leben langsam vor meinen Augen verschwindet. Ich muss an Jasper denken und daran, wie plötzlich er nicht mehr da war. Und nach einem Jahr ist es schon ein bisschen so, als wäre er niemals hier gewesen.
Ich kann es sehen, wie auch mein Leben verschwindet. Aber noch bin ich da. Ich bin nicht nur da. Ich falle auf. Doch was unterscheidet mich von den Menschen, die den Anschluss an ihr eigenes Leben längst verloren haben? Die nichts mehr erkennen können? Am allerwenigsten sich selbst oder die anderen? Sind sie nicht auch längst verschwunden?
Zumindest werden sie von niemandem mehr bemerkt. Vielleicht sind es einfach zu viele. Ein riesiges Heer Unsichtbarer.
Man denkt, es sind immer nur die anderen. Man denkt nicht, dass einem das auch passiert. Plötzlich die Arbeit zu verlieren. Den Freund oder die Freundin. So krank zu werden, dass einen nichts auf der Welt mehr gesund machen kann. Über Nacht alt zu werden. Von einer Minute auf die andere allein zu sein.
Und wie macht man dann aus Unsichtbaren wieder Menschen, die einander plötzlich sehen, fühlen und vielleicht sogar verstehen können?
Ich weiß es nicht.
Ich schalte das Hörgerät aus. Eine Wolke aus halbem Schlaf umfängt mich, bis ich nichts mehr fühlen kann. Gar nichts mehr. Das FTI macht mich so müde. Doch wenn ich es nicht nehmen würde, wäre ich vielleicht schon tot.
Im Halbschlaf erinnere ich mich am besten. Während der Bus in die grauen Schlieren des immer wieder aufsteigenden Nebels fährt, setze ich in meiner Erinnerung eine Sequenz an die andere. Schreibe sie auf. Bestimmte Ereignisse nehme ich mir immer wieder vor. Ich füge sie neu zusammen. Vertausche deren Chronologie. Werde jünger. Werde älter. Und manchmal sterbe ich.
Das ist doch keine Erinnerung, sage ich mir, das ist Erfindung. Was spielt das schon für eine Rolle, wenn ich am Ende weiß: So war es. Es ist, als bräuchte ich meine ganze Fantasie, um das Narbengewebe zu durchstechen, was mich von mir und dem, was ich einmal erlebt, gefühlt und gedacht habe, trennt. Das ist Lichtjahre entfernt. Viel weiter als bei anderen Menschen, weil ich nicht daran erinnert werden möchte.
Die Erfindung macht mir klar, wie es wirklich gewesen ist. Ich sehe dann alles vor mir wie auf einer Fotografie. Und dann weiß ich, dass es sich so zugetragen haben muss.
Die geträumten Bilder verschwinden. Und ich erlebe alles noch einmal wie in Echtzeit. Es gibt keinen Punkt, an dem ich Stopp sagen könnte. Selbst im Augenblick der Erfindung kann man die Wahrheit sagen.
Ich erinnere mich an einen Nachmittag, als ich zum wiederholten Male einfach fortgelaufen war.
In den Wochen vorher war ich krank gewesen. Es kam oft vor, dass meine Kraft nicht reichte, um in die Schule zu gehen. Nachdem ich gerade erst eine Bronchitis überstanden hatte, fesselten mich rheumatische Anfälle an mein Zuhause. Das kalte Februarwetter ließ mich die Arthrose in meinen Knien spüren. Das Rheuma zog in meinen Schultern. Es war schlimmer als sonst.
Ich war zwölf Jahre alt und besuchte die siebte Klasse. Doch in diesem Schuljahr war ich nur wenige Wochen in der Schule gewesen. Vor allem die Gelenkveränderungen machten mir zu schaffen. Knochen und Blutgefäße schienen mit einem Mal noch rascher zu altern.
In der Schule hatte das keine Folgen. Alles war mit den Ärzten, den Lehrern und meinen Eltern besprochen. Ich, das Greisenkind, hatte hier eine Gnadenzeit. Ich würde niemals einen Abschluss erreichen. Wozu auch?
Also brauchte sich auch niemand über Fehlzeiten und nicht erbrachte Leistungsnachweise Gedanken machen.
Erst im April, nach den Osterferien, konnte ich wieder in die Klasse zurückkehren. Jedes Mal war es dann wieder da. Das staunende Entsetzen beim Anblick von dem, was in der Natur nicht vorgesehen war. Das unter dem Mantel der erlernten Umgangsformen nur mühsam verborgene Erschrecken. Wer mir ins Gesicht blickt, schaut in seine eigene Zukunft.
Wenn ich nach längerer Abwesenheit ins Klassenzimmer trat, war dieses Erschrecken da. Nach einem, manchmal zwei Tagen verschwand es wieder.
Aber diesmal war es anders. Das lag daran, weil in meiner Zeit des Fernbleibens ein neuer Schüler in die Klasse gekommen war. Er war aus Hessen zu uns gewechselt. Groß und schlaksig saß er mit angegelten Haaren und spöttischem Gesichtsausdruck in der letzten Reihe am Fenster. Er hörte nicht auf, mich anzustarren. Er tat dies ohne Ausdruck, als betrachtete er ein interessantes Insekt oder einen Vogelkadaver.
Nach zwei Tagen war die Atmosphäre in der Klasse wieder so, als wäre ich niemals fortgewesen. Nur Gerrit, der Neue, ließ mich nicht aus den Augen. Er folgte mir überallhin. Akribisch studierte er meinen Gang, meine Bewegungen, jede meiner Gesten.
Pantomimisch begann er, meine Bewegungen zu parodieren. Er achtete penibel darauf, dass uns andere dabei nicht sahen.
Wenn wir unbeobachtet waren, schlich er sich von hinten an mich heran. Er sagte dann Dinge wie: »Magst du die Natur noch? Nach allem, was sie dir angetan hat.«
Er lachte niemals über seine eigenen Bemerkungen. Er sah mich nur an.
Eines Tages folgte er mir aus dem Werkunterricht auf die Mädchentoilette. Er schob mich in eine der Kabinen. Plötzlich drängte er mich auf die Toilettenschüssel. »Wenn du schreist, sorg ich dafür, dass du ’nen Herzinfarkt bekommst. Wird keiner was merken, denn den kriegst du sowieso bald, hässliche Kröte!«
Gerrit stand vor mir. Er öffnete seinen Hosengürtel und schob Jeans und Unterhose mit einem Ruck zu den Knien. Er wies auf sein Ding, das ihm wie ein Spargel aus dem dünnen Flaum zwischen seinen Beinen ragte. »Du darfst ihn mir lutschen«, forderte er mich mit rauer Stimme auf.
Ich versuchte, mir meine Angst nicht anmerken zu lassen. »Aus welchem schlechten Film hast du denn das?«, fragte ich ihn. »Und im Übrigen«, sagte ich langsam, während ich meine Lesebrille aus der Jackentasche nahm, mir vor die Augen hielt und damit sein Ding fixierte, »hast du vielleicht nicht noch was Größeres mitgebracht?« Den Satz hatte ich aus einem Film. Einem wirklich schlechten Film.
Gerrit wurde tatsächlich rot. Aber er wurde auch schrecklich wütend. Er packte mich am Hals und begann, mich zu würgen.
Auf dem Flur entstand mit einem Mal ein großer Lärm. Eine ganze Horde Achtklässlerinnen stürmte in den Toilettenvorraum. Die Mädchen füllten sich Wasser in die mitgebrachten Flaschen.
Gerrit hielt mitten in der Bewegung inne.
Ich wollte schreien, doch er presste mir seine schweißige Hand auf den Mund. Mit der anderen Hand versuchte er vergeblich, seine Hose hochzuziehen.
Das Stimmengewirr hielt an. Türen schlugen. Toilettendeckel klappten hoch und wieder runter. Die Wasserleitungen rauschten.
Mein Körper begann zu zittern. Ich hatte das Gefühl, jeden Moment tatsächlich einen Herzinfarkt zu bekommen. Es war die gleiche, unkontrollierbare Panik, die mich immer dann befiel, wenn mein Herz plötzlich anfing, schneller zu schlagen. Das geschah in letzter Zeit immer häufiger. In dieser Situation war es meine Rettung.
Während der Lärm um uns herum langsam aufhörte, ließ Gerrit von mir ab. Ich steigerte mich in meinen Anfall hinein. Als der Junge seinen Griff lockerte, ließ ich mich vom Toilettensitz auf den Boden rutschen. Ich streckte die Arme in die Luft. Mein Atem ging stoßweise. Ich konnte das gut.
Gerrit wich zurück. Er starrte mich an. Seine dunklen Augen hatten den gleichen Blick wie im Klassenzimmer oder auf dem Pausenhof. In ihnen war keine Regung.
Ohne jede Emotion sagte er: »Stirb doch. Stirb doch endlich, Monster!« Dann verschwand er.
Und genau das war es, was ich mir in diesem Augenblick wünschte: zu sterben.
Ich spürte, wie meine Hose nass wurde. Meine Arme und meine Beine fingen unkontrolliert an zu zucken. Panisch tastete ich nach meinen Medikamenten in dem kleinen Beutel, den ich immer um die Hüfte trug. Ich konnte nichts mehr sehen, doch meine Hände ertasteten die richtige Tablettenform. So, wie ich es in der Arztpraxis gelernt hatte.
In meinen Ohren rauschte es. Nur um mich herum war eine gespenstische Stille. War es die dritte Schulstunde? Oder schon die vierte? Wann würde es zur Pause klingeln? Dann würden sie mich finden. Aber ich wollte nicht so gefunden werden.
Ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war. Vorsichtig setzte ich mich auf. Dunkelfeuchte Flecke zeichneten sich auf meiner Hose ab. Die Kabinentür stand offen. In der langen Spiegelreihe über den Waschbecken sah ich einen vergreisten Gnom auf der Toilettenschüssel sitzen.
Das Bild verschwamm mir vor den Augen. Mühsam stand ich auf. Und wenn Gerrit hinter der Tür wartete? Ich starrte auf die hellbraune Maserung der Toilettentür. Alles, was dahinter lag, machte mir Angst.
Ich konnte nicht zurück in das Klassenzimmer. Niemandem konnte ich sagen, was passiert war. Sie würden mir nicht glauben. Jemand anderem schon. Jemandem, der normal entwickelt war und der aussah wie ein zwölfjähriges Mädchen. Mir würde niemand glauben.
Ich wollte nur weg. Und ich konnte mir nicht vorstellen, jemals wiederzukommen.
Vorsichtig öffnete ich die Tür. Der Flur lag verlassen. Hinter den Klassenzimmertüren raunten Stimmen. Über mir stampften Füße rhythmisch auf den Boden. Aus einem anderen Gebäudeteil kam Musik und Gesang über die Flure. Ich drückte mich an der Wand entlang in Richtung des Ausgangs.
Als ich draußen war, versuchte ich, so normal wie möglich zu laufen. Aus den Augenwinkeln sah ich die Schüler einzeln oder in kleinen Gruppen an ihren Tischen sitzen.
Es war einer der ersten warmen Frühlingstage. Das dünne weiße Licht des Frühlings befiederte Wege und Straßen.
Ich war mir sicher, niemand würde mich finden. Hinter meinem Rücken würde es keine Spur mehr von mir geben. Ich staunte, wie still und leer es geworden war seit dem Morgen. Die wenigen Menschen, denen ich begegnete, erschienen mir wie gestrandete Reisende. Sie sahen mich kaum an.
Immer wieder musste ich erschöpft anhalten. Mein Brustkorb schmerzte. Die Häuser und Straßen stahlen sich unmerklich aus dem Licht. Ich war noch nie zuvor in dieser Gegend gewesen. Ich wurde ja immer direkt von der Schule abgeholt. Oder der Bus brachte mich nach Hause.
Jetzt fühlte es sich an, als würde man der gleichen vertrauten Straße plötzlich links folgen, statt rechts abzubiegen. Bereits nach wenigen Metern war mir alles fremd. In konturenloser Schärfe sahen die Fassaden von Gründerzeitvillen auf mich hinab. Die Gehwege schimmerten in einem Licht, das aus den Tiefen der Häuser zu kommen schien.
Ich konnte nur langsam laufen, weil mich jedes Gehen erschöpfte. Und weil ich nach den schrecklichen Minuten auf der Toilette das Gefühl hatte, wieder mit all dem konfrontiert zu sein, was ich sonst verdrängte.
Insbesondere immer dann, wenn alles für eine kurze Zeit so funktionierte, wie es in einem anderen Leben vielleicht hätte funktionieren können.
Unwillkürlich fing ich dann an, schneller zu gehen. Bis sich mein Körper zu verweigern begann.
Nichts erkannte ich wieder. Das Gefühl, sich verlaufen zu haben, verursachte mir kein Unbehagen. Es war vielmehr so, dass ich mich auf eine kaum zu beschreibende Weise geborgen fühlte, obwohl ich dunkel begriff, dass ich ja eigentlich gerade dabei war fortzulaufen.
In diesem Augenblick gab es nichts, was mich zurückgebracht hätte.
Die Straße verengte sich. Eine Weile lief sie unter unbelaubten Bäumen dahin. Rechts und links der schmalen Gehsteige erstreckten sich uneinsehbare Gärten. Nur vereinzelt ragten die Schatten von Häusern aus dem flirrenden Grün. Die Straße endete in einer Sackgasse.
Ich stand vor einem von hohen Eisenzäunen umschlossenen parkähnlichen Garten. Aus dem Grün ragte ein halb zugewachsenes Haus mit Spitztürmen und zinnenartigen Giebeln.
Ungläubig stellte ich fest, dass ich mich doch an all das erinnern konnte. Dabei war ich niemals hier gewesen. Eine zerfallene Parkbank stand zwischen zwei Bäumen.
Durch das offene, nur noch halb in den Angeln hängende Tor betrat ich den Garten. Die Überreste zerbrochener Skulpturen und Steinfiguren schimmerten aus dem verdorrten Gras. Die Wege waren verschwunden.
Wie in einem Traum lief ich durch die Wildnis des Gartens auf das Haus zu. Der Garten war voller leiser Laute. Die Tür zur großen Eingangshalle stand offen. Aus der Ferne des Hausinneren schlugen die Töne einer Musik an die rissigen Wände. Im Haus war es kalt, als hätte der Winter sich hierher zurückgezogen.
Ich rief nach jemandem. Meine Stimme hallte seltsam fremd zwischen den Wänden wider. Die Musik kam aus der oberen Etage des Hauses. Offenbar war die Treppe lange Zeit nicht mehr benutzt worden. Meine Schritte wirbelten Staub auf.
Zögernd betrat ich den hohen Raum im Obergeschoss. Vorhänge aus schwarzem Samt dämpften das Tageslicht. Es roch nach kaltem Rauch und schwerem Parfüm. In einem großen Wandspiegel suchte ich vergeblich nach meinem Gesicht.
Mir hatte einmal jemand gesagt, dass all das, woran wir uns erinnern, lebendig wird. Wie kam es dann, dass ich mein Gesicht nicht mehr sehen konnte?
Jetzt konnte ich die Stimme hören. Sie war ganz dicht an meinem Ohr.
Meine Augen öffneten sich. Ich sah in ein Blau, wie ich noch nie eines gesehen hatte. Auf der Netzhaut dieser Augen pulsierte etwas, das sich wie die Zeiger einer Uhr unaufhörlich im Kreis drehte.
»Wach auf, hey, wach auf!«, drang eine Stimme an mein Ohr.
Eine junge Frau saß neben mir. Sie sah mich an. Ihr gehörten diese großen blauen Augen mit den unruhigen Pupillen.
»Soll ich einen Arzt rufen? Oder kann ich dich irgendwo hinbringen?«
Ich schüttelte den Kopf. Meine Hände tasteten nach den Medikamenten in meinem Beutel.
»Soll ich dir helfen?« Sie wartete meine Antwort nicht ab, öffnete den Beutel und legte die Medikamente auf die Bank.
Ich zeigte auf zwei Röhrchen.
Daraufhin drehte sie an den Verschlüssen und legte mir zwei Pillen auf die Handinnenfläche. Langsam führte sie dann meine Hand an meine Lippen.
Ich schluckte die Pillen. Müde lehnte ich mich zurück.
»Bist du sicher, dass alles in Ordnung ist?«
»Es geht schon wieder.«
»Hast du das öfter?«
Ich nickte. Ja, möchte ich sagen. Es war ein Gefühl, als ob mir schon mal jemand sagen möchte, wie das ist, wenn man stirbt. Dabei möchte ich das gar nicht wissen. Ich wollte auch kein Grab. Nirgendwo. Ich wusste ja, dass es nur mein Herz war, das nicht mehr so schlug, wie ein Herz schlagen sollte in meinem Alter. Dann bekam man solche Halluzinationen.
Doch man starb nicht. Noch nicht.
Aber ich sagte nichts. Ich nickte nur weiter mit dem Kopf. Und dann erzählte ich dem fremden Mädchen doch etwas, aber nur das mit dem Gesicht im Spiegel.
Zu meiner Überraschung sagte sie: »Ja, das kenne ich gut. Ich habe das auch manchmal. Vielleicht liegt es einfach nur daran, dass ich nicht weiß, wer meine Eltern sind. Man sucht dann immer etwas, das gar nicht da ist.«
Sie erzählte mir, dass sie in einem Waisenhaus aufgewachsen sei. Ihre Akte sei angeblich bei einer Überschwemmung vernichtet worden. Niemand könne ihr etwas über ihre Herkunft sagen. Die Sache mit dem Spiegel wäre dann möglicherweise so eine Art Effekt davon.
Sie sah mich lange an. Einen unheimlichen Augenblick lang hatte ich das Gefühl, ich würde sie sein, wenn ich noch länger leben würde. So würde ich aussehen. So sprechen. So leben.
»Erzähl mir von dir!«, forderte sie mich auf. »Wie heißt du? Wer sind deine Eltern? Wo wohnst du?« Sie stellte mir noch ein paar solcher Fragen. Mit jeder Frage schien ihre Stimme trauriger zu werden.
»Emelie«, sagte ich.
In diesem Augenblick tauchte meine Mutter auf.
Zwischenzeitlich hatte die Schule meine Mutter informiert, dass ich nicht mehr in den Unterricht zurückgekehrt sei. Man durchsuchte das Schulgelände. Meine Mutter war durch das Viertel gefahren. Kurz bevor sie die Polizei informieren wollte, fand sie mich. Ich saß inmitten eines verwilderten Gartenstücks auf einer halb in das Gras eingesunkenen Parkbank. Meine rote Jacke leuchtete durch das Grün. So hatte meine Mutter mich aus dem langsam fahrenden Auto heraus entdeckt.
Die junge Frau, die neben mir gesessen hatte, war verschwunden. Ich erzählte nichts von dem, was passiert war.
Der Bus fährt ruhig dahin. Manchmal fährt er in Städte, die ich nicht kenne. Menschen steigen aus, und andere steigen zu. Der Bildschirm zeigt an, dass wir noch hundertundvierzig Kilometer von unserem Fahrtziel entfernt sind.
Später war ich immer wieder von der Schule aus durch das Viertel gelaufen. Ich wollte die Allee und den fremden Garten wiederfinden. Ich flunkerte meine Eltern an, Nachhilfestunden zu haben. Doch die Zeit reichte nie. Jedenfalls dachte ich, das sei der Grund, warum ich das Haus und den Garten niemals wiederfand. Dann wieder dachte ich, das alles sei nur ein Traum gewesen. Ich träumte sehr oft von meinem verschwundenen Gesicht im Spiegel.
Vielleicht werde ich Fynn von diesem Traum erzählen.
Fynn hatte ich kennengelernt, als ich das dritte Mal fortgelaufen war. Er sagte, er habe manchmal auch kein Gesicht, wenn er in den Spiegel blicke. Aber sein Erstaunen darüber hielte sich in Grenzen. Dumm schauen sollten die anderen. Auf seinem Grabstein sollte stehen: Guck nicht so doof, ich läge jetzt auch lieber am Strand.