Читать книгу MONDWELT - Daniel Schiller - Страница 10
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Lokation: Orbit über der Erde
Leona erwachte wieder, schwerfällig, wie in Trance. Es lockte, immer wieder in die Bewusstlosigkeit zurückzugleiten. Blinzelnd gingen ihre Augen auf. Alles war noch unscharf und milchig. Sie war bewusstlos geworden. Alle Muskeln taten weh, waren verkrampft. Sie fühlte sich, als wäre sie äußerst hart auf dem Boden aufgeschlagen … benommen und dumpf. Das war die Beschleunigung gewesen. Am Ende hatte ihr Körper das nicht mehr ausgehalten. Richtig schlimm. Die Ohnmacht war als Erlösung gekommen. Und jetzt … Schwerelosigkeit!
Sie hatten es geschafft, offensichtlich. Der ganze Lärm war weg, das Rattern, das Schütteln, die Vibrationen der Rakete. Sie waren im Orbit angekommen, über der Atmosphäre. Jetzt gab es keinen Weg zurück. Die Kabine war dunkel. Eigentlich war das nur ein umgebautes, aufgerüstetes Frachtmodul. Neben ihr, über ihr, vor ihr regten sich andere Gestalten, schattenhaft, schemenhaft in der Dunkelheit. Jemand atmete schwer, räusperte sich. Ein Anderer wimmerte. Zwei Stimmen in der Ferne flüsterten. Das waren ihre Mitreisenden. 29 Glückliche, mit denen sie die Reise in die Neue Welt antrat.
Leona schnallte sich ab … und verlor sofort jede Orientierung. Nur durch Zufall bekam sie einen Gurt zu fassen und zog sich zum … Licht … zu diesem kleinen Bullauge über ihrem Kopf. Oder war das doch der Boden? Hier fiel wenigstens ein heller Lichtstrahl herein. Sie blinzelte. Es war hell da draußen. Sie schaute zur Erde … hinauf. Oben und unten waren durcheinander, hatten keine echte Bedeutung mehr. Sie musste ihre Wahrnehmung erst dazu überreden, dass sie jetzt über der Erde war … und plötzlich blickte sie hinab … bodenlos. Sie presste die Augen zusammen, damit sich ihr Kopf endlich beruhigte. Beim zweiten Blick hinaus war es schon einfacher …
Das Eis der Polarkappe strahlte hell und weiß ein paar hundert Kilometer unter ihr. Von dort waren sie vor zehn Minuten gestartet, ein Höllenritt. Dort, in der Kälte und Leere der Antarktis lag Station C, einer der Startplätze für das, was später Der Exodus genannt werden sollte.
Dort unten waren noch Marcus, Danil, Ilka, Molina mit Zonja, Gil, Juano, Serge, Moya … und noch tausende andere Menschen ... Flüchtlinge. Die gesamte Menschheit flüchtete. Sie überquerten die Kontinente, wagten die Überfahrt von Südamerika und Südafrika über den stürmenden südlichen Ozean. Nicht von Australien! Dort stand nicht mehr viel. In Trecks marschierten sie dann durch die weiße Einöde zu den Auffanglagern auf dem Gletschereis, diese riesigen Zeltstädte und Containersiedlungen in der kalten Weite. Sie waren lieber dort, in der unerbittlichen Kälte und den Gefahren der Antarktis, als noch irgendwo auf den anderen Kontinenten. Alles in der Hoffnung lieber früher als später einen Platz zu bekommen. Tausende Menschen waren auf der Reise schon gestorben, entweder von einer Katastrophe auf den Kontinenten heimgesucht, auf See im Sturm verschollen oder auf der letzten Etappe … auf dem Eis säumten unzählige starrgefrorene, halbverschneite Leichen den Weg. Im Rossmeer und im Weddellmeer ankerten die großen Startplattformen. Von dort ging es hinauf, ins All und dann weiter zur Neuen Welt. Jeder wartete auf seinen Slot, seinen Platz, seine Chance … bevor der letzte Flug aufbrach, bevor sie auf der Alten Welt gefangen waren.
Dicke Wolken schoben sich ins Bild, verdeckten den Blick hinunter. Leona schaute in die andere Richtung, nach Norden, wohin ihre Flugbahn sie führte. Ein grauer, dichter, stürmender Brei verhüllte den Globus. So sah es im ganzen Rest der Welt aus. Der mächtige Polarwirbel hielt die Stürme vom Südpol fern … noch. Deswegen starteten sie aus dieser unwirtlichen Gegend. Die Antarktis war das Tor zur Neuen Welt.
Das Schiff zog auf seinem polaren Orbit weiter nach Norden, weg vom Startplatz, auf seiner Ellipse zum Rendezvous steigend. Der Südpol, das Eis der Antarktis, war schon aus dem Sichtfeld verschwunden. Das eben war ihr allerletzter Blick zurück gewesen. Leona zitterte. Sie würde die Oberfläche nie wieder erblicken.
„Mir ist übel!“, sagte jemand neben ihr, ein Mann, etwa in ihrem Alter. Er würgte und erbrach sich schon. Nicht alles landete in der Tüte, die er sich schnell an den Mund drückte. Feine Brocken Kotze schwebten durch den Lichtstrahl davon. Es roch säuerlich. Die Nachbarn versuchten sich irgendwie aus der Flugbahn zu bringen, nichts abzubekommen. Aber niemand kümmerte sich um ihn. Da waren noch andere Stimmen, weiter weg, in der Dunkelheit. Leona verstand sie nicht. Sie alle waren ein wild zusammengewürfelter Haufen hier drin. Leona griff nach ihrem Rucksack. Da war ihre Ration, ihr gesamter Proviant für die Reise, Essensriegel, Wassertüten, Reinigungstücher … vier Windeln …
„Ich heiße Jan, Jan-Erik.“, sagte der Mann, der sich eben noch erbrochen hatte, mit heißerer Stimme.
Sprach er mit ihr? Er hatte einen angenehmen Akzent. Leona schaute ihn unsicher an. Er lächelte unsicher zurück, aber offenbar dankbar, dass sie ihn nicht ignorierte. Es fühlte sich einfach gut an, wieder jemanden zu verstehen, nicht komplett mit sich allein hier drin zu sein.
„Leona Simow.“
Er nickte zum Bullauge. „Wir haben einen Fensterplatz!“
Leona musste lachen. Ja, in all dem Schlamassel hatten sie beide wenigstens einen Fensterplatz. Das Eis war gebrochen.
„Über welche Route bist du gekommen?“ fragte Leona.
„Kapstadt … oder das, was mal Kapstadt war.“
Das war sie ja auch. „Dann hätten wir uns schon treffen können.“
„Vielleicht waren wir auf demselben Boot.“
Sie hatten den gesamten afrikanischen Kontinent durchquert. Flüge gab es nicht mehr. In Zügen, Bussen oder zu Fuß war man unterwegs. Die Reise dauerte lang, sehr lang. Die Ungewissheit, wann sie das Ziel erreichten, ob sie das Ziel erreichten, was der nächste Tag brächte … die Reise dauerte ewig. Zuerst war das nervenaufreibend gewesen. Immerhin war Leona noch nie in Afrika gewesen. Am Ende waren sie dann stumpf, teilnahmslos, fast apathisch jeden Morgen neu aufgebrochen. Irgendwann verlor man jede Orientierung. Die liegengebliebenen Fahrzeuge, die verwüsteten Felder, die leeren Städte, die unzähligen Toten neben den Straßen, die tobenden Stürme und dunklen Wolkenbänke … die Welt starb und die Zivilisation hatte schon ihre Bastionen aufgegeben. Jeder Mensch musste sich entscheiden: flüchten oder eingraben? Die Flucht war ungewiss, über die Kontinente, über das Meer und dann ins All hinüber zur Neuen Welt. Mit Sicherheit konnten nicht alle hinüber. Die Alternative war, sich in Bastionen aus Stahl und Beton zurückzuziehen, oder in Bunker unter die Erde. Solche Enklaven entstanden überall. Aber auch deren Plätze waren begrenzt.
Beide Wege waren unsicher. Für Leona fühlten sich die Bastionen und Bunker aber wie ein Sterben auf Raten an. Die Neue Welt! Das sagte ihr die Intuition. Nur wer sich nicht entschied, zu spät entschied, würde mit Gewissheit sterben, würde draußen auf der verwüsteten Oberfläche untergehen, hatte ganz sicher keine Chance.
Leona kannte keinen der anderen Passagiere. Sie hatte auch keinen Kontakt mehr nach Hause, zu niemandem. Ben war bereits im Mittelmeer verschollen … sie hatte keine Familie, keine Freunde, keine Bekannten mehr. Und auch jetzt war sie schon wieder von ihren Begleitern da unten getrennt worden. So zerrissen Familien, Partnerschaften, Freundschaften. Das ganze soziale Gefüge kam durcheinander.
Ein dumpfe Dröhnen drangen durch die Hülle, fauchende Stöße. Die Wand vor ihr bewegte sich plötzlich … alles bewegte sich. Die Menschen griffen um sich, um sich irgendwo festzuhalten. Jemand rief etwas. Erstaunt? Erschrocken?
„Wir manövrieren.“, sagte Jan, ganz ruhig. „Das sind die Steuertriebwerke.“
„Aha.“ Etwas Sinnvolleres fiel Leona nicht ein. Aber sie war irgendwie erleichtert. „Und wer steuert uns?“
„Der Computer.“, antwortete Jan trocken. „Der weiß, wo wir hinsollen.“
„Woher weißt du das?“
„Ich habe die Dinger mit gebaut, zumindest die alten Frachtfähren. Ich wäre selbst zum Mond geflogen, stand schon im Karriereplan … bevor alles schief ging. Aber jetzt komme ich ja auch so dahin.“ War Jan stolz? Er winkte sie zum Bullauge. „Der Ring …“
Leona blickte wieder zu Erde hinab. „Wir steigen immer noch auf?“, fragte sie verwundert. Die Wolkenschicht lag deutlich tiefer.
Jan nickte. „Der Start hat uns auf eine weite Ellipse gesetzt.“ Bei technischen Fragen war er in seinem Element. Er malte eine Kurve in die Luft. „Über dem Südpol waren wir knapp über der Atmosphäre. Beim Rendezvous über dem Nordpol werden wir mehrere tausend Kilometer weiter oben sein. Wir müssen den Ring überfliegen.“
Der Trümmerring … die beiden Einschläge hatten nicht nur die Atmosphäre aufgewühlt, Schockwellen durch die Kontinente geschickt, Flutwellen um den Globus gejagt … sie hatten auch riesige Trümmermengen in die Höhe katapultiert. Das meiste davon war zurückgestürzt, hatte die Zerstörung um den Globus getragen. Aber es war sehr viel, mehr als genug, im Orbit geblieben. Unzählige Gesteinsbrocken umkreisten die Erde, auf wilden Bahnen, durcheinander, noch chaotisch … aber sie begannen schon einen echten Ring zu bilden … und damit die Alte Welt schmücken.
„Ist das gefährlich?“
Jan zuckte mit den Schultern. „Schon. Niemand weiß genau, was da alles rumfliegt … und wie hoch. Die Fähren sollen das überfliegen … aber …“
Ja, es gab immer wieder Verluste, Transporte, die plötzlich verstummten, sei es kurz nach dem Start, oder Stunden später auf der Reise hinaus …
Die ersten Fragmente wurden sichtbar, Bruchstücke, die im Sonnenlicht glitzerten, immer mehr. Eine ganze Wolke davon schob sich über den Horizont heran. Es war unmöglich ihre Größen oder die Entfernungen irgendwie abzuschätzen. Leonas Herz begann zu pochen. Sie blickte gebannt auf die heran eilende Trümmerwolke. Die Gefahr wirkte so irreal, unwirklich. Nichts passierte, sie hörte nichts, keine Hektik. Und trotzdem … es konnte jederzeit, schlagartig, zu Ende sein …
*
Schiff 1533-B flog stabil. Sein Computer wachte über alles. Seine elektronischen Augen schauten ins All hinaus. Unter den Linsen glitt die Wolkendecke der Erde vorbei. Es sah, wie sich die Erde bewegte, wie sich die Position der Sonne verschob, wo die Sterne standen. Es spürte, wie sich das Magnetfeld langsam änderte. Es wusste, wo es war und wie es sich bewegte: i = +89,8°, Ω = -21,0°, ω = 290°, a = 26540 km, e = 0,7527, T = 43028s, θ = 85° und fortlaufend …
1533-B verstand. Es bewegte sich auf einem elliptischen Orbit, dessen tiefste Stelle sich knapp 200 Kilometer über dem Südpol befand, dessen höchste Stelle mehr als 40 000 Kilometer über dem Nordpol lag. Ein Umlauf dauerte fast 12 Stunden. Gleich überflog es das erste Mal den Äquator. Der Computer rechnete ruhig weiter, wertete kontinuierlich die Sensordaten aus, überprüfte beharrlich den Zustand der Bordsysteme.
1533-B schickte eine letzte Botschaft zurück zum Startplatz. Alles war in Ordnung. Alle Systeme funktionierten. Die Kreisel kontrollierten die Lage, hielten das Schiff stabil. Es kannte seinen Orbit. Die Trägerrakete hatte 1533-B nicht optimal ausgesetzt, die ideale Trajektorie nicht erreicht. Aber 1533-B war nahe genug an den Zielparametern dran. Es setzte seinen Flug jetzt fort. 1533-B meldete sich ab.
Der Südpol verschwand hinter dem Horizont. Die Flugbahn führte es immer höher hinauf, immer weiter weg von der Atmosphäre und immer weiter nach Norden. 1533-B richtete seine Aufmerksamkeit nach vorne. Es rief seine Schwesterschiffe und wartete auf deren Antworten. 1533-A war zwanzig Minuten vorher gestartet. C und D folgten jeweils zwanzig Minuten später. 1533-B hörte das erste Signal von A … dann kam das von D … C schwieg.
1533-B konnte sich keine Sorgen machen. Es stoppte den Ruf auch nicht, denn einen Abbruch konnte es nicht entscheiden. Es rief einfach immer weiter. Aber da würde keine Antwort kommen. 1533-C hatte den Orbit nicht erreicht. In der Boosterstufe des Trägers war eine Anomalie aufgetreten. 1533-C hatte sich noch gelöst und war in die Atmosphäre zurückgestürzt, war zerbrochen, verbrannt, aufgeschlagen. Hatte 1533-C Fracht getragen? Oder Flüchtlinge?
Die Bordzeit lief weiter. 1533-B folgte stoisch seiner Routine. Alles lief wie ein Uhrwerk. Das Schiff hatte keine Ahnung, dass da Menschen in dem Transportmodul ausharrten, dicht gedrängt, unwissend, meist sorgenvoll. Es kannte nur die Parameter, die für seine Mission relevant waren: die eigene Position, das Ziel, seine Lage und Geschwindigkeit, der Zustand der technischen Systeme. Menschen waren ihm ebenso unbekannt wie der eigentliche Zweck des Flugs. Es verstand nicht die Bedeutung der Mission.
Nach und nach tauchten Objekte im Sonnenlicht auf. Die Sensoren registrierten mehr und mehr Reflexionen, unzählige Lichtpunkte, massenhaft. Sie strahlten richtig, sättigten die Sensoren, lösten eine ganze Datenlawine im Computer aus. Allmählich wuchsen diese Objekte an, kamen näher, rasten heran. 1533-B analysierte die Bilddaten. Darauf reagieren konnte es jedoch nicht. Selbst wenn eines der Objekte zu nahe kam, 1533-B würde nicht ausweichen. Ausweichmanöver waren nie einfach in so einer komplexen Umgebung. Bei Vorwarnzeiten von Minuten waren sie praktisch unmöglich. Außerdem war gerade genug Treibstoff an Bord, um das Rendezvous über dem Nordpol hinzubekommen. Alle anderen Massereserven waren in die Nutzlast gegangen, es gab kaum Puffer, keine zweiten Versuche und keine Umwege. 1533-B musste sklavisch seiner Trajektorie folgen. Es konnte die Objekte nur beobachten und ‘hoffen‘, dass der Booster es hoch und schnell genug ausgesetzt hatte.
1533-B hörte ein neues Funksignal, schwach, im S-Band. Es erkannte den Peilsender seines Ziels, Mutterschiff 1533, voraus und oberhalb. Sie waren noch weit voneinander entfernt, viele tausend Kilometer. Ihre elektronischen Augen sahen sich noch nicht. Aber die beiden Computer begannen schon miteinander zu reden. Sie tauschten erste Statusinformationen aus. 1533-B bekam neue Rendezvousdaten. Das Mutterschiff flog da oben auf einer fast perfekten Kreisbahn um die Pole, 40000 Kilometer über der Oberfläche. Es wartete. 1533-B und seine Geschwister holten auf, sie waren hier unten „schneller“ unterwegs und kletterten immer weiter in die Höhe. Der Abstand schrumpfte. Der Flug war so abgestimmt, dass 1533-B und das Mutterschiff zur selben Zeit über dem Nordpol auf derselben Höhe wären … das Rendezvous.
*
Leona schlug die Augen auf. Sie war tatsächlich eingeschlafen. Die Leute waren jetzt sehr still. Die Stunden zogen sich dahin und es passierte einfach nichts, gar nichts. Schlaf war da das Beste, das einem passieren konnte.
Jan schwebte immer noch vor dem kleinen Fenster. Er schaute nach wie vor gebannt hinaus, hinunter zur Erde. Leona war warm. Sie schälte sich aus dem Schlafsack. Das brachte keine Besserung. Es war zu warm hier drin. Die Luft fühlte sich stickig an und der Luftstrom aus den surrenden Lüftern brachte kaum Erleichterung.
„Irgendwie warm hier drin.“
„Das ist die Sonne. Wir fliegen seit dem Start im Sonnenlicht.“
Leona runzelte die Stirn. „Wird das etwa noch wärmer?“
„Bis zum Rendezvous“, beschwichtigte Jan. „Das Mutterschiff kann den Wärmehaushalt dann besser kontrollieren.“
Leona verstand das nicht. Sie wollte auch nicht weiter fragen. Stattdessen spürte sie jetzt andere Bedürfnisse. Sie musste dringend auf die Toilette. Und sie wusste, was das bedeutete. Die Instruktionen waren da eindeutig gewesen. Trotzdem schaute sie sich suchend um. Nur gab es hier eben keine Toilette … und auch keine Privatsphäre. Sie biss sich auf die Lippe. Das war doch klar gewesen … und trotzdem war das jetzt … schwierig. Wie hatten die Anderen das gemacht? Sie war doch sicher nicht die erste … Sie ließ es geschehen, einfach in die Windel. Der Druck verschwand. Keine Schmerzen mehr. Ihre Muskeln entspannten sich endlich. Das fühlte sich richtig gut an. Und da spürte sie die Flüssigkeit, wie sie sich verteilte und an ihrer Haut entlang kroch. Das war unangenehm … sehr unangenehm … Das war ein Wechselbad der Gefühle. Wie sollte sie später die Sachen wechseln?
„Das erste Mal ist immer schlimm.“ Jan schaute ungerührt, als wäre das alles gar nichts. „Das zweite Mal dann schon nicht mehr.“ Hatte ihr Gesicht sie verraten? Offenbar!
Er winkte sie heran. Das Panorama da draußen war wundervoll, noch viel besser als vor ein paar Stunden. Die Trümmerwolke hatten sie sicher passiert. Sie leuchtete und glitzerte in der Ferne, zumindest der Teil, der vom Sonnenlicht beschienen wurde. Sie stiegen jetzt über dem Nordpol auf. Die Nachtseite der Erde kam unten ins Blickfeld. Der Terminator zog auf den Wolkenmassen eine markante Linie zwischen hell und dunkel. Diese Dunkelheit verschluckte den Trümmerring über der Nachtseite regelrecht.
„Früher konnte man dort die Städte sehen. Neo-Paris war beeindruckend, perfekte Symmetrie. Ein feines Netz aus Lichtern hat alle Kontinente überzogen. Und die Archipele im Nordatlantik, oder die Neumannbrücke … Davon ist nichts mehr übrig.“
Jan war plötzlich sehr nachdenklich. Leona blickte auf die dramatischen Sturmwolken. Welcher Kontinent, welches Land lag gerade darunter? Keine Ahnung. Die Erde hatte sich unwiderruflich verändert. Sie sah anders aus als auf den vielen, unzähligen, alten Bildern. Die Alte Welt war nicht mehr blau, weiß, braun und grün. Sie war grau und dunkel. Das dort unten war voller Leben gewesen … nein! war es immer noch! … eine ganze Biosphäre voll von Pflanzen und Geschöpfen, voller komplexer Kreisläufe und Beziehungen. Daran erinnerte von hier oben nichts mehr. Spurlos … ausgelöscht … untergehend …
„Kaum vorzustellen.“, sinnierte Leona. Auch sie war jetzt nachdenklich. Der Gedanke an ihre Körperhygiene war erstmal beiseitegeschoben. Irgendwo da unten war ihre Heimat, die Heimat aller Menschen. Dort hatte sie 27 Jahre lang gelebt.
„Jetzt ist alles anders.“, antwortete Jan, als hätte er ihre Gedanken gelesen. „Einfach alles.“ Er blickte Leona in die Augen. „Wir werden der Erde nie wieder so nahe sein. Das sind unsere letzten Blicke zurück … unsere letzten Erinnerungen.“
Leona nickte. Deswegen hing Jan die ganze Zeit am Fenster. Sie bereute schon, dass sie eingeschlafen war. Minuten verstrichen. Die Wolkenschicht der Erde fiel immer tiefer zurück. Sie vergaß alles um sich herum, die abgestandene Luft, die unangenehme Wärme, diese Enge, die Windel … nur Jans Geruch, neben ihr, der blieb. Wenn sie seine Worte richtig verstand, kamen sie auf ihrer Bahn dem fernsten Punkt der Ellipse jetzt näher, über dem Nordpol.
Eine Serie dumpfer Schläge hallte durch den Rumpf. Leona zuckte. Die anderen Passagiere waren auch überrascht, schauten sich erschrocken um, griffen nach Dingen, brabbelten aufgeregt.
„Manövertriebwerke.“ Jan schaute noch nicht mal vom Fenster weg.
Die Wand bewegte sich. Das Schiff bewegte sich. Leona trieb vom Bullauge weg. Oder trieb das Bullauge von ihr fort? Sie griff wieder nach dem Gurt und zog sich zurück zum Fenster, neben Jan. Der Rumpf stöhnte. In der Außenhaut knackte etwas. Dann wurde es wieder still. Nur der Blickwinkel zur Erde hatte sich irgendwie verändert.
„Was macht das Schiff?“
Jan schaute auf seinen e-Assistenten. „Wir sind bald da, am Rendezvous. Es beginnt den Anflug. Das muss jetzt passen.“
Sie schaute ihn fragend an.
„Wir müssen das Rendezvous jetzt schaffen. Das Schiff wird sein Triebwerk zünden und den Orbit anheben. Wir müssen in dieselbe Kreisbahn, wie das Mutterschiff. Wenn das nicht klappt…“, Jan malte wieder die Ellipse in die Luft, „… geht’s wieder hinab.“
„Machen wir dann nicht einfach noch einen Umlauf, einen zweiten Anlauf?“
Er schüttelte den Kopf. „Wir fliegen da unten wieder durch die obere Atmosphäre. Wenn wir da nicht schon zerbrechen, werden wir auf jeden Fall zu langsam sein, um wieder so weit rauf zu kommen … und das Mutterschiff ist dann eh ganz woanders auf der Bahn, sicher nicht hier. Wir würden auf einem nutzlosen Orbit stranden. Außerdem haben wir nicht genug Ressourcen mit … der Strom wird uns bald ausgehen.“
So viele technische Details. Und die hörten sich alle nicht gut an, eher beunruhigend. Es gab mehr Möglichkeiten für die Katastrophe, nur eine Möglichkeit, dass alles gut ging.
„Meldet sich denn niemand bei uns? Oder sollten wir uns nicht irgendwie … anmelden?“, fragte Leona.
Jan lachte. „Bei wem denn?“ Offenbar schaute sie sehr verdutzt. „Man hat euch wohl echt nichts erklärt, oder?“
Sie schüttelte den Kopf. Leona fühlte sich fast wie ein Kind, das nichts verstand und nur eine Frage nach der anderen stellen konnte, und jeder eigene Gedanke war unzureichend. Das war reichlich absurd … aber real.
„Da ist niemand, mit dem wir reden können.“, begann Jan. „Zumindest wir Menschen. Das Schiff, das spricht mit seinen Schwestern und dem Mutterschiff über uns. Die tauschen schon seit Stunden Informationen aus und koordinieren jetzt den Anflug.“ Er machte eine Pause und grinste dann schräg. „Aber da ist niemand, der uns zuhört.“
„Wir sind bloß Fracht?“. Es war eigentlich eine Feststellung, ein Eingeständnis, keine Frage.
„Aber so was von bloß… Wir bekommen noch nicht mal mit, was das Schiff macht, oder wie es um die Mission steht. Die Fracht interessiert das nicht …“
Leona lachte kurz. Dabei war das doch gar nicht lustig, überhaupt nicht. Sie waren ausgeliefert, hilflos, ohne irgendeine Möglichkeit etwas zu tun, einzugreifen, zu korrigieren.
„Das sind alles Frachtfähren. Nur das Containermodul haben wir etwas umgebaut … und die meisten Flüge sind eh weiter Frachttransporte. Es ist noch lange nicht genug Material da oben. Die Alte Welt gibt der Neuen Welt eine Kick-Start … und dann müssen wir dort das Laufen lernen.“
„Wir sind doch schon so lange dort … Port Kopernikus, Tycho, …“, Leona dachte laut.
„Schon, ja. Als Außenposten und junge Kolonien haben die alle gut funktioniert. Die Erde war ja nie wirklich fern. Die waren sogar richtig autark … aber jetzt sollen wie viele tausend Menschen kommen?“ Jan schüttelte den Kopf. „Das kann man nicht mal simulieren. Das wird learning by doing … Versuch und Irrtum.“
Leona schaute von der Erde weg. Sie suchte. Dort stand der Mond, ihre Neue Welt, selbst halb im Schatten aus diesem Blickwinkel. Das war das altbekannte, immer gleiche Antlitz, wie alle Menschen den Mond kannten, seit den ersten bewussten Generationen bis heute. Jan sagte das alles so locker, so technisch-rational-kühl. Der kannte die Fakten wohl schon seit Jahren. Er wusste ziemlich genau, was kam, worauf er sich eingelassen hatte, wie die Chancen standen. Leona hatte sich da nie einen Kopf gemacht. Das war jetzt klarer, als je zuvor. Naiv, nannte man das wohl … verunsichert … schwach … unwissend … mehr denn je. Was wartete dort? Was würde kommen?
*
Schiff 1533-B sah das Mutterschiff noch immer nicht. Seine elektronischen Augen schauten immer noch zu den Sternen, zur Sonne und zu dem Planeten hinab. Aber dafür sprach das Mutterschiff 1533 mit ihm. War alles in Ordnung? Funktionierten alle Systeme? Gab es Probleme? Unzählige Daten flossen durch den leeren Raum zwischen ihnen. Und 1533 sah die anfliegende Fähre. Sein Radar tastete in die leere Dunkelheit, sandte seine Wellen aus und lauschte. Das zurückgeworfene Radarecho bewies ihm, dass da etwas kam, wie weit es noch entfernt war und wie es sich bewegte.
1533-B näherte sich seinem Manöverpunkt, dem höchsten Punkt der Ellipse. Das war alles vorprogrammiert. Ein letzter Check lief. Alles an Bord war in Ordnung. 1533-B aktivierte seine Steuerdüsen. Stoßweise blies es Treibstoff aus, in kleinen Mengen, mit zaghaften Impulsen. Das reichte schon. 1533-B rollte und schwenkte in die richtige Manöverlage. Dann war der Zeitpunkt erreicht. Das Haupttriebwerk zündete und schob das Schiff an. 1533-B beschleunigte mit 2,5g, in vollkommener Stille. Sein Orbit änderte sich. Der tiefste Punkt über dem Südpol stieg immer schneller an … 300km … 400 … 550 …800. Das Manöver dauerte 60 Sekunden. Dann schaltete 1533-B sein Triebwerk ab. Es schaute sich um. Die Sterne waren da, wo es sie erwartete, die Erde auch. Die eigene Lage war stabil. Es hatte die Rendezvousbahn erreicht, fast eine perfekte Kreisbahn 40000 Kilometer über der Erdoberfläche. Hier dauerte ein Umlauf jetzt mehr als 27 Stunden.
1533-B meldete sich bei Mutterschiff 1533. Alles war erfolgreich gewesen.
*
„Wieso haben wir eigentlich dieses Bullauge?“ Der Gedanke ließ Leona nicht los. Wenn sie schon bloß Fracht waren, und das hier eigentlich Frachtmodule waren, warum hatte man dann ein paar Bullaugen eingebaut?
„Das verhindert Panik, es reduziert die Gefahr zumindest deutlich. Das haben wir im ersten Jahr gelernt. Außerdem spendet es Licht, falls hier drin die Beleuchtung ausfällt.“
Das erschien sinnvoll, aber auch irgendwie kurios … so ein Detail.
„Das ist es!“, rief Jan aufgeregt.
Leona sah es auch, diese große Maschine im Dunkel des Alls. Im Sonnenschein thronte das Mutterschiff über ihnen. Es sah beeindruckend aus, auch für ihre ungeschulten Augen. Es war groß. Jan war richtig fasziniert. Da liefen Kabelstränge und Leitungen über die Außenhaut. Solarzellen glitzerten im Sonnenlicht. Antennen zeigten in verschiedene Richtungen. Folien und Thermalmatten verdeckten ganze Teile der Struktur. An einem Ende ragte eine große Glockendüse heraus. Davor waren die voluminösen Kugeltanks in einem breiten Karree angeordnet. Dann kam eine Sektion mit allerhand Geräten, Antennen, Folien, Kabeln, einem Manipulatorarm, Radiatorpanelen und großen Solarzellen. Und zuletzt war da noch die große Gitterstruktur für die Frachtfähren. Dort mussten sie rein.
Das war eine Maschine, eine richtiges Raumschiff, gemacht für das Weltall, mit seiner sengenden Hitze und eisigen Kälte, mit seiner tödlichen Strahlung, mit seiner gewaltigen Leere. Daran war nichts Ästhetisches, nichts für das menschliche Auge. Diese Maschine war kantig, technisch, irgendwie grobschlächtig … funktional.
„Und diese Dinger fliegen zum Mond?“
„Und zurück.“, ergänzte Jan. „Das sind Raumschlepper …“
„… und wir die Fracht.“
„Die pendeln ständig zwischen Erde und Mond. Damit bringen wir alles und jeden rüber.“
„Nicht jeden.“, bemerkte Leona. Nur die Glücklichen. Keine alten Menschen. Keine Kinder. Keine Kranken. Und dann sollte man am besten noch etwas können, das gebraucht wurde, das in der Neuen Welt sinnvoll und notwendig war. Es gab auch zig Verschwörungstheorien, dass Geld das letzte Wort hatte, dass man sich seinen Platz in den Kolonien kaufen konnte. Aber wen kümmerte heute noch Geld? Leona hatte so viele Menschen gesehen, mit ihren persönlichen Tragödien, reduziert auf das letzte Bisschen ängstliches, hilfloses Individuum. Jeder konnte sterben. Niemandem war sein Leben garantiert. Geld half nirgendwo mehr. Die ganze Flucht war beliebig ungerecht ... Manche hatten es auch „gerade gerecht“ genannt. Jetzt wurden alle Menschen nach demselben Maßstab gemessen.
Vom Heck des Containers kamen wieder diese dumpfen Töne, dann vom Bug. Ihr Schiff drehte sich. Dann ein knatterndes Geräusch und noch heftigere Bewegungen. Das war neu, das war unbekannt. Die Leute wurden wieder unruhig. Jeder griff nach irgendwelchen Halterungen oder Gurten. Irgendjemand schluchzte. Ein Mann brabbelte unverständlich erschrockenes Zeug.
Jan rief laut. „Wir docken! Das ist nur das Andockmanöver.“ Die meisten verstanden ihn sicher nicht. Jan machte beschwichtigende Handzeichen. „AN-DO-CKEN!“ Er schaffte es irgendwie mit beiden Fäusten das Anlegen zur verbildlichen. Die Leute beruhigten sich. Wahrscheinlich eher durch sein Auftreten, als dass sie ihn verstanden hätten. Kurz vor der Panik wirkte wohl jeder gefasste, ruhige Charakter besonders stark.
Leona schaute wieder raus. Sie waren jetzt viel dichter dran. Sie meinte zu erkennen, wo sie anlegen würden. Das dort drüben sah doch aus, wie eine andere Fähre. Also war das da 1533-A … und sie würden daneben …
Wieder gab es einen Schubs. Sie glitten auf das Mutterschiff zu …
*
1533-B empfing ein Kommando vom Mutterschiff. Sein Flugcomputer schaltete in den Rendezvous-Modus und lud neue Daten aus seinen Speicherbänken. Die Navigationslaser am Bug leuchteten auf. Sie tasteten in den Raum vor dem Schiff ... und fanden das Mutterschiff. Reflektoren warfen die Strahlen zurück. Zum ersten Mal sah 1533-B sein Ziel. Jetzt wusste es, wo es hin musste, wie weit es entfernt war und wie die letzten Meter zu fliegen waren.
1533-B meldete, dass es bereit war. Das Mutterschiff gab das „go“ für den Anflug.
1533-B zündete seine Manövertriebwerke. Meter für Meter schwebte es auf das Mutterschiff zu. Die Entfernung schrumpfte. Dann stieß es in den Andockadapter. Es rumpelte. Ein metallisches Kratzen lief durch die Struktur. Das Schiff zitterte. Die Bewegung stoppte mit einem Ruck. Der Adapter verriegelte. Angedockt!
1533-B übergab das Kommando ans Mutterschiff.