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ОглавлениеKapitel 1
Wie wir uns erinnern
Unsere Erfahrungen bestimmen, wer wir sind
Einleitung
Wenn wir Eltern werden, bringen wir Themen aus unserer Vergangenheit mit, die beeinflussen, wie wir unsere Kinder sehen und wie wir mit ihnen umgehen. Erlebnisse, die wir nicht vollständig verarbeitet haben, können ungelöste Themen oder unerledigte Angelegenheiten zum Vorschein bringen, die sich auf unser Verhalten gegenüber unseren Kindern auswirken und in einer Eltern-Kind-Beziehung sehr leicht zum Tragen kommen. Wenn dies geschieht, reagieren wir häufig sehr emotional oder impulsiv und unsere Wahrnehmung nach außen oder innen ist verzerrt. Diese extremen Geisteszustände lassen uns nicht mehr klar denken und machen uns unflexibel. Sie beeinträchtigen unseren Umgang mit und unsere Beziehung zu unseren Kindern. Dann verhalten wir uns nicht mehr wie die Eltern, die wir eigentlich sein wollen, und können uns oft nur noch darüber wundern, warum die Elternrolle manchmal das „Schlimmste in uns zum Vorschein bringt“. In unserer Vergangenheit verwurzelte Themen schlagen auf unsere heutige Realität durch und wirken sich unmittelbar darauf aus, wie wir unsere Kinder erleben und mit ihnen umgehen, auch wenn wir uns der Ursachen dafür nicht bewusst sind.
Wir bringen unser emotionales Gepäck in unsere Elternrolle mit, und es lässt sich nicht vorhersagen, wie dies sich auf unser Verhältnis zu unseren Kindern auswirken wird. Unerledigtes oder nicht verarbeitete traumatische Erlebnisse oder Verluste drehen sich um wichtige Themen aus unserer Vergangenheit, die sich aus wiederholten schwierigen oder emotional bedeutenden Erlebnissen in unseren ersten Lebensjahren herleiten. Diese Angelegenheiten können uns auch in der Gegenwart weiterhin belasten, insbesondere, wenn wir nie darüber nachgedacht und sie niemals in unser Selbstbild integriert haben. Wenn Ihre Mutter zum Beispiel oft, ohne sich zu verabschieden, das Haus verlassen hätte, weil sie Ihr Weinen nicht ertragen konnte, so hätten Sie, vor allem wenn es um mögliche Abschiede geht, kein Vertrauen mehr zu ihr. Sie wären verunsichert. Wenn sie fort war, hätten Sie das Haus nach ihr durchsucht und wären aufgeregt gewesen, weil sie nicht da war. Die Situation wäre noch schlimmer gewesen, wenn die Person, die auf Sie aufpasste, darauf bestand, dass Sie nicht weinten. Sie wären nicht nur aufgebracht gewesen und hätten sich um Ihre Mutter betrogen gefühlt, sondern Sie hätten auch Ihre emotionale Anspannung nicht verarbeiten können, weil niemand da war, bei dem Sie Gehör und Trost fanden, der sich auf Sie einstimmte und Ihnen das Gefühl gab, verbunden und verstanden zu sein. Mit einer solchen Vergangenheit wären Trennungserlebnisse für Sie als Mutter oder Vater ein Thema, das eine ganze Reihe emotionaler Reaktionen auslösen könnte. Plötzlich könnte Ihr eigenes Empfinden von Verlassenheit auftauchen und Ihnen beim Abschied von Ihrem Kind ein ungutes Gefühl geben. Dieses Unwohlsein würde vom Kind wahrgenommen, würde es verunsichern und zusätzlich belasten, wodurch wiederum Ihr eigenes ungutes Gefühl angesichts der Trennung noch verstärkt würde. Dadurch würde in einer Kettenreaktion eine Lawine von Gefühlen ausgelöst, die Ihre eigenen Kindheitserfahrungen widerspiegelt. Ohne weiteres Reflektieren und einen Prozess der Selbsterkenntnis würde dieser Ablauf in der Gegenwart jedoch als ganz „normal“ empfunden, da eine Trennung immer schwierig ist. Selbsterkenntnis kann den Weg zur Lösung dieser unerledigten Themen ebnen.
Unerledigtes wirkt sich häufig auf uns als Eltern aus und verursacht uns und unseren Kindern unnötige Frustrationen und Konflikte. Hier ein Beispiel über Marys Erfahrungen als Mutter und als Kind.
Schuhe kaufen
Als Mutter entdeckte ich verschiedene unerledigte Angelegenheiten aus meiner eigenen Kindheit, die mein Verhältnis zu meinen Kindern beeinträchtigten und uns daran hinderten, bestimmte Erlebnisse zu genießen. Schuhe kaufen war ein solcher Punkt. Ich bemerkte, dass ich mit Entsetzen verfolgte, wie sich die Tennisschuhe meiner beiden Söhne immer mehr abnutzten und somit der Zeitpunkt näher rückte, an dem ich mit ihnen ins Schuhgeschäft musste. Sie liebten es, neue Schuhe zu bekommen, und sahen diesem Ausflug, wie die meisten Kinder, voller Vorfreude entgegen. Hier boten sich alle Möglichkeiten für ein erfreuliches Erlebnis, da sich Kinder normalerweise gern neue Schuhe aussuchen; aber es kam immer anders.
Meine Söhne suchten sich Schuhe aus, die ihnen gefielen, wozu ich sie mit Worten ermutigte. Obwohl sie von ihrer Auswahl begeistert waren, verdarb ich es ihnen dann, indem ich die Farbe, den Preis, die Schuhgröße oder irgendetwas Greifbares, an dem ich meine Kritik festmachen konnte, in Zweifel zog. Die Begeisterung über ihre Wahl verblasste und machte einer entgegenkommenden Haltung Platz: „Nehmen wir einfach, was dir gefällt, Mama.“ Unentschlossen wägte ich die Vorteile verschiedener Schuhe gegeneinander ab und nach vielem Hin und Her verließen wir das Geschäft mit unseren Einkäufen. Wir waren alle erschöpft. Die Vorfreude auf die neuen Schuhe wurde unter den unerfreulichen Erinnerungen an dieses Erlebnis begraben.
Ich wollte mich nicht so verhalten, und doch wiederholte ich diesen Ablauf viele Male, wobei ich mich häufig bei meinen Kindern entschuldigte, wenn wir aus dem Geschäft kamen. Für mich endete dies immer in einem Wechselbad der Gefühle. „Wegen einem Paar Schuhe“ haderte ich mit mir. „Wie lächerlich.“ Warum wiederholte ich immer wieder ein Muster, das ich doch ändern wollte?
Eines Tages, nach einem weiteren enttäuschenden Einkauf, fragte mich mein sechsjähriger Sohn offenbar ziemlich ernüchtert: „Hast du als Kind nicht gern neue Schuhe bekommen?“ Ein überwältigendes „Nein“ flutete durch meinen Körper, als ich mich an meine eigenen frustrierenden Kindheitserlebnisse beim Schuhkauf erinnerte.
Ich war eines von neun Kindern. Meine Mutter ging, angesichts der Menge an Schuhen, die sie kaufen musste, immer nur zu Ausverkäufen, und zwar vorzugsweise zu großen. Die Läden waren brechend voll und die Preise entsprachen ihren Vorstellungen. Ich ging niemals allein mit meiner Mutter zum Einkaufen, denn es benötigten immer drei oder vier von uns gleichzeitig neue Schuhe. Im Ausverkaufsgetümmel suchte ich mit gemischten Gefühlen nach meinem nächsten Paar Schuhen. Ich wusste, dass ich kaum bekommen würde, was ich wollte. Ich hatte unglücklicherweise eine absolute Durchschnittsgröße, so dass die Auswahl beim Ausverkauf nur noch sehr klein war, und ich verliebte mich normalerweise immer in ein nicht reduziertes neues Modell. Das meine Mutter diese Wahl ablehnte, war so gut wie sicher.
Dann war da meine ältere Schwester, die einen „besonderen“, schmalen Fuß hatte und sich aussuchen konnte, was sie wollte, da ihre Schuhgröße sowieso nur selten im Ausverkauf war. Ich war wütend und fühlte mich vernachlässigt, aber ich hörte immer nur, dass ich dankbar sein sollte, dass es so einfach war, etwas Passendes für mich zu finden. Wenn meine Mutter uns endlich alle ausgestattet hatte, war sie bereits sehr erschöpft und gereizt. Ihre Unsicherheit, Entscheidungen zu treffen, und ihr Widerstreben, Geld auszugeben, traten deutlich zutage, und ich war besorgt über ihr Verhalten. Ich versank in einem Meer von Gefühlen und wollte nur noch nach Hause und den ganzen Einkauf hinter mir lassen. Was ein Abenteuer hätte sein können – nämlich mir selbst etwas auszusuchen –, war verdorben.
Und hier stand ich nun, Jahre später, mit einer Vorstellung vom Schuhkauf im Kopf, womit ich meinen Kindern die gleiche Anspannung vermittelte, die ich als Kind gefühlt hatte. Meine Mutter war zu beschäftigt damit, uns und unsere Einkäufe ins Auto zu bringen, als dass sie mir im Schuhgeschäft zugehört oder meinen Kummer auch nur wahrgenommen hätte. All das rief mir die Frage meines Sohnes ins Bewusstsein, und so konnte ich mich an meine frühen Erlebnisse und Sorgen erinnern, die nun mein Verhalten gegenüber meinen Kindern beeinträchtigten und mich daran hinderten, dies zu einer angenehmen Erfahrung zu machen. Es war nicht die jetzige Schuhkaufsituation, die mein Verhalten beeinflusste, sondern es waren die vielen Schuhkaufsituationen der Vergangenheit. Ich reagierte auf eine unerledigte Angelegenheit.
Ungelöste Themen sind den unerledigten Angelegenheiten ähnlich, aber sie sind extremer und bringen unser inneres Erleben und unsere zwischenmenschlichen Beziehungen viel stärker durcheinander. Ganz und gar überwältigende Erfahrungen, die möglicherweise mit Hilflosigkeit, Verzweiflung, Verlust, Schrecken und vielleicht Betrug einhergehen, sind häufig die Wurzel des Übels. Wir können als Beispiel erneut das Thema Trennung heranziehen, diesmal jedoch unter extremeren Bedingungen. Wenn die Mutter eines Kindes sich für einen längeren Zeitraum wegen Depressionen in einer Klinik aufhält und das Kind von einer Betreuungsperson zur nächsten gereicht wird, dann erfährt dieses Kind ein starkes Gefühl von Verlust und Verzweiflung. Trennungen werden möglicherweise immer wieder Anlass zur Sorge sein und die Fähigkeit des Kindes beeinträchtigen, sich später als Erwachsener auf eine gesunde Weise vom eigenen Kind zu verabschieden. Als Mutter hat sie vielleicht auch Schwierigkeiten, den Kontakt zu ihrem Kind herzustellen, da ihre eigene Bindung abrupt unterbrochen wurde und sie keine Unterstützung erhielt. Wenn das Kind später selbst Mutter wird und nie die Gelegenheit hatte, diese Ereignisse zu verarbeiten und die erschreckenden frühen Erlebnisse zu verstehen, werden sich wohl immer wieder Erinnerungen an Gefühle, Verhaltensweisen, Wahrnehmungen und körperliche Erlebnisse in ihr Leben drängen. Diese unerledigten Angelegenheiten können die Eltern-Kind-Beziehung grundlegend beeinträchtigen.
Als Eltern neigen wir besonders unter Stress dazu, auf der Grundlage früherer Erlebnisse zu reagieren. Hier eine Geschichte über ein Thema der Vergangenheit, das Dan sich wieder bewusst machte, kurz nachdem er Vater geworden war.
Hör auf zu weinen!
Ich fühlte mich immer sehr seltsam, wenn mein Sohn als Baby weinte und sich nicht trösten ließ. Ich war überrascht, dass ich vor Angst und Schrecken in Panik verfiel. Anstatt Ruhe, Geduld und Einsicht auszustrahlen, wurde ich ängstlich und ungeduldig.
Ich versuchte in mich zu gehen, um diese Gefühle zu verstehen. Ich dachte darüber nach, ob man mich in meiner frühen Kindheit vielleicht lange hatte weinen lassen. Ich konnte mich dessen nicht direkt entsinnen, aber ich wusste, dass der normale Vorgang der kindlichen Amnesie mich daran hindern würde, mir eine so frühe Erfahrung in Form einer zugänglichen autobiografischen Erinnerung ins Bewusstsein zu rufen. Ich fand keine andere plausible Erklärung für diese Panik.
Ich versuchte es mit einer Geschichte: „Ja, ich muss mich als Kind davor gefürchtet haben zu weinen. Ich musste mich wohl an das Gefühl, verlassen zu sein, anpassen. Wenn mein Sohn nun weint, werden meine Ängste reaktiviert und ich erlebe die damit verbundene Panik.“ Ich dachte lange und intensiv darüber nach. Ich hatte nicht das Gefühl, dass die Geschichte stimmte. Keine Bilder. Keine Empfindungen. Keine Gefühle. Keine Verhaltensimpulse. Mit anderen Worten: Diese Geschichte weckte keine nonverbalen Erinnerungen. Die Erklärung änderte zudem in keiner Weise meine Panik. Ich dachte, dass dies nicht zwangsläufig heißen musste, das sie nicht stimmte – sie war nur am jetzigen Punkt auf meinem Weg zum Verstehen keine Hilfe.
Eines Tages war ich gerade bei meinem Sohn, als er anfing zu weinen. Ich fühlte mich hilflos und unfähig, ihn zu trösten, und mich überkam das panische Gefühl, fliehen zu müssen. Dann tauchte in meinem Geist ein Bild auf, das meinen Kopf ganz auszufüllen schien. Die Panik verdichtete sich nun um einen zentralen Punkt. Dann formte sich vor meinem inneren Auge ein Bild, das mit meiner äußeren Wahrnehmung konkurrierte. Ich beschreibe dies nun als innerlich und als äußerlich, aber zu diesem Zeitpunkt waren beide sehr nah beieinander: wie doppelt belichtete Bilder auf einem Videoband. Ich schloss meine Augen. Die äußere Sicht verschwand und das innere Bild wurde klar.
Ich sah ein Kind, das schreiend auf einem Untersuchungstisch lag, mit einem Ausdruck von Entsetzen auf dem vor Schrecken verzerrten, geröteten Gesicht. Mein Kollege aus meiner Pflichtassistentenzeit auf der Kinderstation hielt das Kind auf dem Tisch fest. Ich hatte die Schreie zu ignorieren. Ich konnte den Raum erkennen. Es war das Behandlungszimmer der Kinderstation des Krankenhauses. Dorthin brachten wir die Kinder, denen Blut abgenommen werden musste. Es war mitten in der Nacht, und wir hatten Bereitschaft, und man hatte uns geweckt, damit wir herausfanden, warum dieser kleine Junge Fieber hatte. Er glühte förmlich, und wir mussten ihm Blut abnehmen, um eine Infektion ausschließen zu können.
Die Kinder am UCLA Medical Center waren, wie in jeder Universitätsklinik, sehr krank. Viele von ihnen waren schon oft und lange im Krankenhaus gewesen, was ihre Angst aber keineswegs verringerte. Sie wurde im Gegenteil durch die ständigen Blutabnahmen nur noch größer, und dabei wurden auch noch die Venen zerstört. Mein Kollege und ich mussten jede Nacht im Bereitschaftsdienst Blut abnehmen. Nun war ich mit der Abnahme an der Reihe.
Wenn die Armvenen eines Kindes so vernarbt sind, dass man kein Blut mehr abnehmen kann, muss man eine andere Vene finden. Manchmal mussten wir es wieder und wieder an verschiedenen Stellen versuchen. Wir wechselten uns beim Spritzen und Kindfesthalten ab. Wir mussten Ohren und Herz verschließen. Wir mussten den Blick von den angstvollen Gesichtern der Kinder abwenden, durften ihre Tränen nicht fühlen, die uns über die Hände rannen, und die Schreie nicht hören, die uns in den Ohren widerhallten.
Aber jetzt konnte ich diese Schreie hören. Es kam kein Blut. Ich musste eine andere Stelle finden. „Nur noch ein Mal“, sagte ich zu dem Kind, das mich nicht hören konnte. Und wenn es mich hören konnte, so verstand es mich nicht. Es fieberte und war krank, war verängstigt, schlug um sich, schrie und ließ sich nicht beruhigen.
Ich öffnete die Augen. Ich schwitzte. Meine Hände zitterten. Mein sechs Monate alter Sohn weinte noch immer. Und ich weinte ebenfalls.
Ich war erschüttert von diesem überfallartigen Rückblick. Ich hatte nicht oft an diese lange zurückliegende Pflichtassistenz auf der Kinderstation gedacht, hielt sie als ein „gutes Jahr“ im Gedächtnis und war froh, als es vorüber war. In den Tagen nach dem Rückblick dachte ich viel über diese Eindrücke nach. Ich sprach mit ein paar guten Freunden und Kollegen über meine Erfahrung. Immer wenn ich begann, über die Nächte im Bereitschaftsdienst zu sprechen, hatte ich ein flaues Gefühl im Magen. Meine Hände schmerzten und mir war, als würde ich eine Erkältung bekommen. Wenn die Bilder kamen, fühlte ich Angst und Verzweiflung und war von den Szenen mit den kleinen Kindern überwältigt. Ich versank in der Erinnerung: „Ich darf das Kind nicht ansehen, ich muss die Blutprobe nehmen.“ Ich versuchte sowohl in meiner Erinnerung als auch im Gespräch mit meinen Freunden, den Blick abzuwenden. Ich schämte mich und fühlte mich schlecht, den Kindern Schmerzen zugefügt zu haben. Ich erinnerte mich daran, dass ich jedes Mal, wenn nachts das Rufsignal ertönte, ein Gefühl der Panik unterdrücken musste. Es war keine Zeit, darüber zu sprechen, wie große Schmerzen die Kinder hatten oder wie sehr sie uns fürchteten. Es gab keine Gelegenheit, darüber nachzudenken, wie überwältigt und angsterfüllt wir waren. Wir mussten weitermachen; hätten wir ein Pause eingelegt, um nachzudenken, dann hätten wir es nicht ertragen können, fortzufahren.
Warum kam dieses Jahre zurückliegende „Trauma“ nicht schon früher, vor der Geburt meines Sohnes, in Form einer plötzlichen Rückblende, von Gefühlen, Verhaltensweisen oder Empfindungen zum Vorschein? Die Suche nach einer Antwort wirft Fragen nach dem Abruf von Gedächtnisinhalten und der einzigartigen Konfiguration ungelöster traumatischer Erinnerungen auf. Verschiedene Faktoren machen es wahrscheinlicher, dass eine Erinnerung abgerufen wird. Dies sind unter anderem die mit der Erinnerung verknüpften Assoziationen, das Thema oder der Kern der Erfahrung, der Lebensabschnitt der Person, die sich erinnert, der zwischenmenschliche Kontext und die geistige Verfassung des Einzelnen zur Zeit des Speicherns und des Abrufens.
Ich bin der Jüngste in der Familie und vor der Geburt meines Sohnes gab es in meinem Leben keine kleinen Kinder. Daher hatte ich nach meiner Assistenzzeit auf der Kinderstation nie Kontakt zu untröstlich weinenden Kindern. Als ich mich dann schließlich in der Gegenwart eines hartnäckig weinenden Kindes befand, reagierte ich darauf mit einem Gefühl von Panik. Diese Panik kann als eine nonverbale emotionale Erinnerung angesehen werden, die durch den Umstand hervorgerufen wurde, dass ein weinendes Kind bei mir war. Sobald mich die Panik überfiel, suchte der Erinnerungsprozess in meinem Geist zunächst nach einer autobiografischen Erinnerung, jedoch ohne etwas zu finden. Zu dieser Zeit gab es keine thematisch erzählende Erinnerung, in welche das Jahr auf der Kinderstation hätte eingewoben werden können. Das Jahr war als „Spaß und vorbei“ abgelegt und ich dachte nicht bewusst darüber nach. Dann kam die Rückblende.
Oft gibt es einen Grund dafür, dass traumatische Erfahrungen nicht so verarbeitet werden, dass man später jederzeit problemlos auf sie zugreifen kann. Während des Traumas kann eine überlebensnotwendige Anpassung darin bestehen, die Aufmerksamkeit von den schrecklichen Aspekten eines Erlebnisses abzuwenden. Übermäßiger Stress und Hormonausschüttungen während des Traumas können außerdem direkt die Funktionen der Teile des Gehirns beeinträchtigen, die für das Speichern autobiografischer Erinnerungen erforderlich sind. Nach dem Trauma plagt uns die Erinnerung an diese Details, die nur in nonverbaler Form abgelegt sind, mit großer Wahrscheinlichkeit mit zutiefst beunruhigenden Gefühlen.
Mein Mitgefühl mit den entsetzten Kindern im Krankenhaus war erdrückend. Das Jahr war so intensiv, die Arbeit so anstrengend, die Anzahl der Patienten so groß, die Fluktuation so hoch und der Grad der Erkrankungen so schwer, dass sich meine Kraft, damit fertig zu werden, dem Ende zuneigte. Ich fühlte mich zutiefst beschämt und schuldig, weil ich den Kindern Schmerzen und Angst verursachte. Als die Assistenzzeit vorüber war, hätte ich ja sagen können: „In Ordnung, jetzt werde ich versuchen, mich an all die Schmerzen, die ich diesen schwer kranken Kindern zufügen musste, zu erinnern.“ Stattdessen dachte ich nicht weiter über das Jahr auf der Kinderstation nach und setzte mein Studium mit dem Thema „Trauma“ fort.
Als Assistenten versuchten wir das überwältigende Bewusstsein, dass die Patienten sich als passiv, hilflos und verletzlich erlebten, zu verdrängen, indem wir uns als aktive, fähige und unverletzliche medizinische Kräfte sahen. Die Verletzlichkeit der Kinder wurde zu einer Bedrohung für unsere aktive, wenn auch unbewusste, Anstrengung, unsere eigenen Gefühle von Verletzlichkeit und Hilflosigkeit zu leugnen. Im Rückblick wurde die Verletzlichkeit der Kinder zu unserem Feind. Oftmals konnten wir nur wenig tun, um ihre verheerenden Krankheiten zu heilen, und unsere Unfähigkeit, ihnen zu helfen, kam zu unserem überwältigenden Gefühl von Traurigkeit und Verzweiflung noch hinzu.
In diesem unerbittlichen und schlaflosen Jahr bekämpften wir Krankheiten, bekämpften die existenzielle Realität von Tod und Verzweiflung. Wir mussten die Hilflosigkeit so weit es ging aus unserem Geist verbannen, oder wir wären einfach zusammengebrochen. Die Verletzlichkeit wurde das Ziel unseres Zorns auf das Verbrechen der Krankheit, die wir nicht besiegen konnten.
Diese unerledigte Angelegenheit zeigte sich mir in der Rolle als verletzlicher Vater meines ersten Kindes. Ich reagierte mit Scham und intensiven Gefühlen auf das Weinen und die Verletzlichkeit meines Sohnes – empfand sie als nahezu unerträglich – und auf meine eigene Hilflosigkeit, ihn zu trösten. Glücklicherweise konnte ich in einem schmerzhaften Prozess der Selbsterkenntnis durchschauen, dass dies etwas mit einer unerledigten Angelegenheit in mir selbst zu tun hatte und kein Fehler meines Sohnes war. Und aufgrund dieser Erfahrung kann ich sehr gut nachvollziehen, wie das als unerträglich empfundene Gefühl der Hilflosigkeit Eltern dazu bringen kann, in ihrem Verhalten gerade auf diese Hilflosigkeit bei Kindern abzuzielen und sie deswegen anzugreifen. Selbst mit Liebe und den besten Absichten können in uns immer noch alte Abwehrmechanismen wirken, die Verhaltensweisen und Erfahrungen unserer Kinder für uns unerträglich machen. Dies mag die Ursache für ein „ambivalentes Elternverhalten“ sein. Wenn Kinder in uns dieses unsägliche Gefühl hervorrufen, das wir nicht bewusst empfinden und sinnvoll in unser Leben integrieren können, laufen wir Gefahr, es auch in unseren Kindern nicht tolerieren zu können. Diese Intoleranz kann uns für die Gefühle unserer Kinder blind machen oder uns diese einfach ignorieren lassen. Dadurch empfinden die Kinder sie als unwirklich und werden von ihrer eigenen Gefühlswelt abgeschnitten. Unsere Intoleranz lässt uns manchmal auch energischer reagieren, zum Beispiel ungeduldig, verärgert oder sogar mit einem direkten, wenn auch nur unbewusst beabsichtigten Angriff auf die Hilflosigkeit und Verletzlichkeit des Kindes. Das arglose Kind wird zum Empfänger feindseliger Reaktionen, die mit seinem inneren Identitätsgefühl verwoben werden und seine Fähigkeit, diese Emotionen in sich selbst zu tolerieren, unmittelbar beeinträchtigen.
Wenn wir Unerledigtes oder Ungelöstes mit uns herumtragen, ist es unbedingt erforderlich, dass wir uns die Zeit nehmen, innezuhalten und unseren emotionalen Reaktionen gegenüber unseren Kindern nachzuspüren. Wenn wir uns selbst verstehen, geben wir unseren Kindern die Gelegenheit, ihr eigenes Gefühl von Lebendigkeit zu entwickeln, und die Freiheit, ihre eigene Gefühlswelt ohne Einschränkungen und Ängste zu erleben.
Unterschiedliche Arten des Gedächtnisses
Warum tragen wir Unerledigtes oder Ungelöstes mit uns herum? Warum beeinflussen vergangene Erlebnisse unsere Gegenwart? Wie wirkt sich Erfahrung eigentlich auf unseren Geist aus? Warum beeinflussen vergangene Ereignisse weiterhin unsere gegenwärtige Wahrnehmung und bestimmen mit, wie wir unsere Zukunft gestalten?
Die Gedächtnisforschung liefert aufregende Antworten auf diese grundlegenden Fragen. Vom Beginn unseres Lebens an können unsere Gehirne mit der Verknüpfung ihrer Grundbausteine, der Nervenzellen, auf Erlebnisse reagieren. Diese Verknüpfungen bilden die Gehirnstruktur und man hält sie für eine sehr wirkungsvolle Methode des Gehirns, sich an Erfahrungen zu erinnern. Die Gehirnstrukturen formen die Gehirnfunktionen. Die Funktionen wiederum bringen den Geist hervor. Zwar bestimmen auch genetische Informationen grundlegende Aspekte unserer Gehirnanatomie, aber unsere Erfahrungen erschaffen die einzigartigen Verknüpfungen und formen die individuelle Grundstruktur jedes Gehirns. Auf diese Weise formen unsere Erfahrungen unmittelbar die Struktur unseres Gehirns und bringen so den Geist hervor, durch den wir uns definieren.
Das Gedächtnis ist das Verfahren, mit dem das Gehirn auf Erlebnisse reagiert und neue Verknüpfungen herstellt. Die zwei Arten von Gedächtnis lassen sich durch die zwei Methoden beschreiben, wie Verknüpfungen hauptsächlich erzeugt werden: implizit und explizit. Für das implizite Gedächtnis werden bestimmte Schaltkreise im Gehirn angelegt, die für das Erzeugen von Emotionen, für Verhaltensreaktionen, Wahrnehmungen und wahrscheinlich die Verschlüsselung körperlicher Empfindungen zuständig sind. Es ist ein frühes, nonverbales Gedächtnis, das von der Geburt bis zum Lebensende verfügbar ist. Ein weiterer wichtiger Aspekt des impliziten Gedächtnisses sind die so genannten mentalen Modelle. Durch mentale Modelle erzeugt unser Geist Verallgemeinerungen wiederholter Erfahrungen. Wenn sich zum Beispiel ein Baby getröstet und geborgen fühlt, wenn die Mutter auf seinen Kummer antwortet, wird es diese Erfahrung verallgemeinern, so dass ihm die Anwesenheit der Mutter ein Gefühl von Wohlbefinden und Sicherheit vermittelt. Wenn es zukünftig über irgendetwas bekümmert ist, wird das mentale Modell seiner Beziehung zu seiner Mutter aktiviert und es wendet sich Trost suchend an seine Mutter. Unsere Bindungsbeziehungen beeinflussen, wie wir andere und uns selbst wahrnehmen. Durch wiederholte Erfahrungen mit unseren Bindungspersonen erzeugt unser Geist mentale Modelle, die unsere Vorstellungen über andere und uns selbst betreffen. In dem oben angeführten Beispiel erlebt das Kind seine Mutter als sicher und aufgeschlossen und sich selbst als fähig, etwas in seiner Umwelt zu bewirken und die Erfüllung seiner Bedürfnisse herbeizuführen. Diese Modelle erzeugen einen Filter, durch den wir unsere Wahrnehmungen nach bestimmten Mustern kanalisieren und unsere Reaktionen auf die Welt gestalten. Durch diese Filtermodelle entwickeln wir charakteristische Sichtweisen und Seinsarten.
Das faszinierende an impliziten Erinnerungen ist, dass sie ohne die innere Empfindung des „Sicherinnerns“ abgerufen werden. Der Einzelne ist sich nicht einmal bewusst, dass das innere Erlebnis durch etwas aus der Vergangenheit erzeugt wird. So können Gefühle, Verhaltensweisen, körperliche Empfindungen, Auslegungen von Wahrnehmungen und die verzerrende Wirkung bestimmter unbewusster mentaler Modelle unsere momentanen Erfahrungen sowohl in Bezug auf unsere Wahrnehmungen als auch auf unser Verhalten beeinflussen, ohne dass wir uns im Geringsten bewusst sind, dass unsere Vergangenheit gerade Einfluss auf uns nimmt. Erstaunlicherweise kann unser Gehirn implizite Erinnerungen ohne den Weg über unsere bewusste Aufmerksamkeit verschlüsseln. Das bedeutet, dass Elemente in unser implizites Gedächtnis Eingang finden können, ohne dass wir ihnen jemals bewusst unsere Aufmerksamkeit gewidmet haben müssen.
Nach unserem ersten Geburtstag wird in einem Gehirnbereich, dem so genannten Hippocampus, ein weiterer Schaltkreis angelegt, der die zweite zentrale Erinnerungsform, das explizite Gedächtnis, ins Leben ruft. Es hat zwei Bestandteile: das semantische Gedächtnis, das Fakten verarbeitet, und ungefähr ab einem Alter von anderthalb Jahren zur Verfügung steht, und das episodische oder autobiografische Gedächtnis, das sich irgendwann in dem Zeitraum um den zweiten Geburtstag zu entwickeln beginnt. Die Zeit, bevor das autobiografische Gedächtnis verfügbar ist, wird Kindheitsamnesie genannt und ist ein universelles Entwicklungsphänomen, das in allen Kulturen beobachtet werden kann; es hat nichts mit traumatischen Erlebnissen zu tun, sondern ergibt sich offenbar aus der Tatsache, dass bestimmte Gehirnstrukturen noch nicht ausgebildet sind. Im Gegensatz zum impliziten Gedächtnis gehen explizite Erinnerungen mit einem inneren Gefühl des Sicherinnerns einher. Beide Arten des expliziten Gedächtnisses bedürfen der bewussten Aufmerksamkeit für das Einspeichern von Eindrücken.
Einzigartig am autobiografischen Gedächtnis ist, dass es ein Gefühl von Selbst und Zeit beinhaltet. Voraussetzung für diese Art der Erinnerung ist die ausreichende Reife eines Gehirnteils, die um den zweiten Geburtstag herum erreicht wird. Dieser Teil des Gehirns wird präfrontaler Kortex oder Stirnlappen genannt, da er sich ganz vorn am vordersten Teil der obersten Gehirnschicht, dem Neokortex, befindet. Der präfrontale Kortex ist für eine ganze Reihe von Prozessen außerordentlich wichtig, unter anderem für das autobiografische Gedächtnis, für Selbsterkenntnis, flexibles Verhalten, Geistsicht und die Regulierung von Emotionen. All diese Prozesse werden durch Bindungen geformt. Die Entwicklung des präfrontalen Kortex scheint tief greifend durch zwischenmenschliche Erfahrungen beeinflusst zu werden. Darum hinterlassen unsere frühen Beziehungen einen so großen Eindruck in unserem Leben. Dieser wichtige, integrative Teil des Gehirns kann sich jedoch ein Leben lang weiter entwickeln, so dass uns die Möglichkeit, zu wachsen und uns zu verändern, immer erhalten bleibt.
Abb. 1: Darstellung des menschlichen Gehirns von der Mitte aus zur rechten Seite gesehen, mit einigen Schlüsselstrukturen des Gedächtnisses: u. a. Amygdala (Verarbeitung impliziter emotionaler Erinnerungen), der Hippocampus (explizite Gedächtnisarten), und orbitofrontaler Kortex (explizites autobiografisches Gedächtnis). Kohärente Lebensgeschichten, wie sie im nächsten Kapitel beschrieben werden, könnten auf die Integration von Informationen aus beiden Gehirnhälften über den Hippocampus angewiesen sein.
* Der schattierte Bereich zeigt, wo sich der Hippocampus auf der anderen Seite des Stammhirns in dieser Darstellung befinden würde. Die emotionsverarbeitende Amygdala liegt am Kopf des Hippocampus. Beide Strukturen sind Teil des medialen Temporallappens, der genau an den Seiten dieser Sicht entlang der Mittellinie liegt.
Klärung finden
Mit unserem neu gewonnenen Verständnis darüber, wie das Gehirn Gedächtnisinhalte speichert, können wir uns nun ansehen, wie sich unerledigte Angelegenheiten lösen lassen. Im Fall von Dan hatte das Formulieren einer sinnvollen Geschichte über eine Kindheitsamnesie keinerlei emotionale Auswirkungen und konnte sein Erleben nicht verändern. Es mag in dieser frühen Phase seines Lebens Erfahrungen gegeben haben, die für ihn nicht explizit verfügbar waren, aber möglicherweise implizit die emotionale Intensität seines Assistenzjahres beeinflusst haben. Ohne weiteres Nachdenken hätten seine Panik und Verärgerung weiterhin seinen Erziehungsstil dominieren können und ihn so daran gehindert, seinen Sohn in seinem Kummer wirksam zu begleiten. Unbewusst hätte er sich womöglich durch Verletzlichkeit und Hilflosigkeit bedroht gefühlt. Ein solcher innerer, unreflektierter emotionaler Vorgang hätte zum Leitbild in der Organisation seiner Beziehungen werden können. Als Ergebnis hätte Dan seinen Sohn hinsichtlich dessen ganz normaler Abhängigkeit entmutigt und ihn zu verfrühter Selbständigkeit gedrängt. Rational hätte Dan aus diesen Erlebnissen die Einstellung abgeleitet, dass „Kinder, die sich nicht beruhigen und zu viel weinen“, als verzogen und bedürftig anzusehen sind. Ohne weiteres Nachdenken hätte er seine unerledigte Angelegenheit ignoriert und sich weiter über seinen Sohn geärgert.
Tabelle 1: Arten des Gedächtnisses
Implizites Gedächtnis
• Bereits bei der Geburt vorhanden
• Kein Gefühl des sich Erinnerns, wenn Erinnerungen abgerufen werden
• Umfasst Erinnerungen bezüglich Verhalten, Emotionen, Wahrnehmungen und möglicherweise körperliche Empfindungen
• Beinhaltet mentale Modelle
• Zum Einspeichern ist keine bewusste Aufmerksamkeit nötig
• Umfasst nicht den Hippocampus
Explizites Gedächtnis
• Entwickelt sich im zweiten Lebensjahr und darüber hinaus
• Gefühl des Sicherinnerns, bei Abruf
• Autobiografisch: mit Gefühl von Selbst und Zweck verbunden
• Umfasst das semantische (Fakten-) und episodische (autobiografische) Gedächtnis
• Erfordert bewusste Aufmerksamkeit
• Umfasst den Hippocampus
• Autobiografisch: Schließt auch den präfrontalen Kortex mit ein
Elterliche Ambivalenz hat viele Formen, oft basiert oft auf unerledigten Angelegenheiten. Eltern können sich in einem Wechselbad widerstreitender Gefühle befinden, die ihre Fähigkeit, ihren Kindern gegenüber offen und liebevoll zu sein, beeinträchtigen. Die starren Verteidigungsstrukturen, die wir in unserer Kindheit und darüber hinaus aufgebaut haben, können uns lähmen, wenn wir unserer neuen Rolle, uns auf konsistente und klare Weise um unsere Kinder zu kümmern, gerecht werden wollen. Ganz normale Aspekte der Erlebniswelt unserer Kinder – wie ihre Emotionalität, ihre Hilflosigkeit und Verletzlichkeit und ihre Abhängigkeit von uns – können bedrohlich wirken und uns unerträglich werden.
Dan führt seine Geschichte fort: Obwohl ich meinem Sohn in Momenten des Kummers beistehen wollte, erzeugte meine eigene Ambivalenz einen Widerspruch zwischen meiner gewünschten Reaktion und meinem tatsächlichen Verhalten. Anstatt aufgeschlossen und tröstend zu wirken, war ich eine Quelle der Ungeduld und Verärgerung. Als ich mir das erst einmal bewusst gemacht hatte, konnte ich auch etwas dagegen unternehmen.
Ich sprach mit Freunden über die plötzliche Rückblende und die Erinnerungen an mein Assistenzjahr. Ich schrieb in mein Tagebuch – mit dem Wissen um Forschungsergebnisse, die zeigten, dass das Niederschreiben emotional traumatischer Erlebnisse zu grundlegenden psychischen und physischen Veränderungen und damit zu einer Lösung führen kann. Bei den Gesprächen und beim Schreiben zeigte sich mir, wie beängstigend und frisch all diese Eindrücke waren. Ich zeigte körperliche Reaktionen. Ich fühlte mich krank. Meine Arme zitterten und meine Hände schmerzten.
Zunächst fühlte ich weiterhin Panik und Ärger, wenn mein Sohn weinte. Dann sagte ich zu mir: „Das ist ein Gefühl aus meiner Assistenzzeit und hat nichts mit meinem Sohn zu tun.“ Die Panik blieb, aber ich fühlte mich irgendwie ein wenig besser. Als die Tage vergingen und weitere Unterhaltungen und Niederschriften folgten, konnte ich fühlen, wie wichtig es war, die Verletzlichkeit und Hilflosigkeit zu erkennen, zu akzeptieren und zu respektieren – sowohl bei meinem Sohn als auch bei mir. Panik und Verärgerung nahmen merklich ab. Ich erinnerte mich immer wieder daran, dass er nicht wegen mir weinte, und dass es für Kinder einfach völlig normal ist, verletzlich und hilfsbedürftig zu sein. Das Verarbeiten meiner Vergangenheit gab mir die Freiheit, das Weinen meines Sohnes genauso zu akzeptieren wie mein eigenes Gefühl der Verletzlichkeit, als ich lernte, mich in ihn einzufühlen und sein Vater zu sein.
Ich wurde nie wieder von dieser Rückblende heimgesucht. Die lähmende Panik blieb aus. Die zunächst nur impliziten Erinnerungen wurden nun auch explizit verarbeitet. Diese Veränderung vollzog sich durch die bewusste Verarbeitung der impliziten Erinnerungen als Teile einer größeren, expliziten autobiografischen Erzählung über dieses Jahr. In meiner Lebensgeschichte musste ich die emotionalen Schwierigkeiten mit Verletzlichkeit und Hilflosigkeit, die das Herzstück dieser Erfahrung waren, annehmen, um eine Lösung herbeizuführen.
Es geht weiter
Wenn Eltern nicht die Verantwortung für ihre eigenen nicht zu Ende gebrachten Dinge übernehmen, verpassen sie nicht nur die Gelegenheit, einfühlsamere Eltern zu werden, sondern auch, sich selbst weiterzuentwickeln. Menschen, die sich über die Beweggründe ihres eigenen Verhaltens und ihrer starken Gefühlsreaktionen im Unklaren bleiben, sind sich nicht bewusst, dass sie mit unerledigten Angelegenheiten zu kämpfen haben und sich dadurch als Eltern widersprüchlich – ambivalent – verhalten.
Das Leben ist reich an schwierigen Situationen, auf die wir uns schnell einstellen und in denen wir unser Bestes tun müssen. Die meisten unter uns tragen Unerledigtes oder Ungelöstes mit sich herum, das uns regelmäßig vor Probleme stellt. Eine unerledigte Angelegenheit nimmt uns die Flexibilität im Umgang mit unseren Kindern und wir können oft nicht so handeln, wie es für ihre Entwicklung am hilfreichsten wäre. Wir hören ihnen nicht wirklich zu, denn unsere eigenen inneren Erfahrungen machen so viel Lärm, dass wir nichts anderes hören können. Wir haben keinen wirklichen Bezug zu ihnen und wir werden wahrscheinlich immer wieder die gleichen, für uns und unsere Kinder erfolglosen und frustrierenden Handlungen ausführen, weil wir in Reaktionsmustern aus früheren Erlebnissen gefangen sind.
Wenn wir von unseren impliziten Erinnerungen an schmerzliche Erfahrungen und nicht verarbeitete Verluste überwältigt werden und völlig darin versinken, können wir nur schwerlich für unsere Kinder da sein. Dann machen unsere automatischen Anpassungen an diese vergangenen Erlebnisse aus, „wer wir sind“, und unsere Lebensgeschichte wird über uns und nicht von uns geschrieben. Unverarbeitetes kann sich unmittelbar auf unsere Sicht von uns selbst und unseren Austausch mit unseren Kindern auswirken. Wenn sie unsere Lebensgeschichte schreiben, dann wird sie nicht von uns selbst erzählt. Dann zeichnen wir nur auf, wie die Vergangenheit weiterhin, und oftmals ohne dass wir uns dessen bewusst sind, unsere gegenwärtigen Erfahrungen beeinflusst, und die Richtung unserer Zukunft bestimmt. Wir treffen keine wohl überlegten Entscheidungen, wie wir mit unseren Kindern leben möchten, sondern reagieren nur auf Grundlage vergangener Erfahrungen. Wir geben förmlich unsere freie Wahl der Richtung auf und schalten auf Autopilot, ohne dass wir auch nur im Geringsten wissen, wohin dieser uns führen wird. Oft versuchen wir die Gefühle und das Verhalten unserer Kinder zu steuern, obwohl es eigentlich unser eigenes inneres Erleben ist, das uns erst gegen dieses Verhalten aufbringt.
Wenn wir aufmerksam beobachten, was wir innerlich erleben, wenn uns das Verhalten unserer Kinder stört, dann können wir beginnen zu verstehen, wie unsere eigenen Handlungen der liebevollen Beziehung, die wir zu unseren Kindern haben möchten, zuwiderlaufen. Mit der Lösung unserer eigenen Angelegenheiten erhalten wir mehr Spielraum und werden im Austausch mit unseren Kindern flexibler. Wir können Erinnerungen in unsere Lebensgeschichten so integrieren, dass sie einen Sinn ergeben und die gesunde Entwicklung unserer Kinder, sowie unsere eigene, fördern.
Übungen von innen heraus
1. Schreiben Sie in Ihr Tagebuch, wann Sie emotional und gereizt reagieren. Vielleicht bemerken Sie bestimmte Interaktionsmuster im Austausch mit Ihrem Kind, die solche emotionalen Reaktionen hervorrufen. Belassen Sie es zunächst dabei, diese zu bemerken – versuchen Sie noch nicht, Ihre Reaktionen zu verändern, beobachten Sie nur.
2. Erweitern Sie Ihre Beobachtungen, indem Sie überlegen, ob die Reaktionen Ihrem Kind gegenüber implizite Ursachen haben könnten. Denken Sie an die impliziten Elemente des Gedächtnisses und an die Tatsache, dass diese nicht in Form von konkreten Erinnerungen wahrgenommen werden. Implizites explizit zu machen, indem man diesen eher automatischen Elementen aus der Vergangenheit bewusst seine Aufmerksamkeit widmet, ist ein wichtiger Schritt dahin, sich selbst besser zu verstehen und eine intensivere Beziehung zu seinem Kind aufbauen zu können.
3. Denken Sie an eine Angelegenheit aus Ihrem Leben, die Ihre Fähigkeit, eine flexible Beziehung zu Ihrem Kind aufzubauen, beeinträchtigt. Denken Sie an die vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Aspekte dieser Angelegenheit. Fallen Ihnen irgendwelche Themen oder allgemeine Muster aus früheren Interaktionen ein? Welche impliziten Gefühle und körperlichen Wahrnehmungen tauchen auf, wenn Sie heute an diese Angelegenheit denken? Haben Sie diese Gefühle auch bei anderen Gelegenheiten gehabt? Gibt es Punkte in Ihrer Vergangenheit, die dazu beitragen? Wie wirken sich diese Themen und Gefühle auf Ihr Selbstbild und Ihre Beziehung zu Ihrem Kind aus? Wie beeinflussen sie Ihre Erwartungen an die Zukunft?
IM LICHT DER WISSENSCHAFT
Wissen und Wissenschaft
Seit Anbeginn der Geschichtsschreibung sind Menschen daran interessiert, die Welt zu verstehen. Mit der Weiterentwicklung wissenschaftlicher Technik wurden die Fragen, die man stellen und zu beantworten versuchen konnte, immer anspruchsvoller, die verfügbaren Werkzeuge immer komplizierter und technischer, und die Forschungsgebiete immer zahlreicher. Es gibt Tausende professioneller Zeitschriften und Unmengen von Spezialisierungen in Dutzenden von akademischen Wissenschaften, in denen aktiv versucht wird, die Welt, in der wir leben, zu verstehen.
Um Wissen zu erlangen, verwendet dieses Buch einen interdisziplinären Ansatz, wie er in Daniel Siegels Buch The Developing Mind erforscht wird, das davon ausgeht, dass es in der Welt, einschließlich menschlicher Erfahrungen, eine „Realität“ gibt, die durch sorgfältige Untersuchungen im Detail erkannt werden kann. Jeder einseitige Ansatz muss jedoch begrenzt bleiben; so wie in dem alten indischen Gleichnis, in dem eine Gruppe Blinder die verschiedenen Teile eines Elefanten ertastet, kann eine einzelne Erfahrung oder ein einzelner Blickwinkel nur einen Teil der größeren Realität enthüllen. Wenn jeder Blinde seinen Teil an Informationen über den Elefanten beiträgt, formt sich allmählich das Bild des ganzen Elefanten.
Eine interdisziplinäre Sicht zielt darauf ab, die Berührungspunkte zwischen unabhängigen Wissensgebieten zu finden, so dass sich ein einheitliches Wissen herauskristallisieren kann. Der Evolutionsbiologe E. O. Wilson schrieb in seinem Buch Consilience (Die Einheit des Wissens), dass eine Vereinigung des Wissens im akademischen Umfeld aufgrund der Trennung der wissenschaftlichen Disziplinen voneinander nur schwer zu erreichen sei. Ein interdisziplinärer Ansatz vermag diese Trennungen jedoch zu überbrücken, so dass sich die Wissenschaft weiterentwickeln kann.
Jede Forschungsdisziplin, jede Quelle von Wissen, hat ihren ganz eigenen Ansatz, ihre Konzepte, ihr Vokabular und ihre Art und Weise, Fragen zu stellen. Ein interdisziplinärer Ansatz respektiert alle Mitwirkenden in gleicher Weise und erkennt an, dass diese Art der Zusammenarbeit der Weg ist, unsere Sicht der größeren Realität, die wir zu verstehen suchen, zu vertiefen. Dazu müssen wir mit Bescheidenheit und Offenheit danach streben, über die Grenzen der einzelnen Disziplinen hinweg herauszufinden, wie der Elefant tatsächlich aussieht.
Die Forschungsgebiete, auf die wir zurückgreifen werden, reichen von der Anthropologie bis zur Psychologie, von der Hirnforschung bis zur Psychiatrie und von Linguistik und Erziehungswissenschaften bis zur Erforschung der Kommunikation und komplexer Systeme. Ein Institut, an dem dieser übergreifende Ansatz verfolgt wird, ist die „Foundation for Psychocultural Research – UCLA Center for Culture, Brain, and Development“, eine Stiftung an der University of California in Los Angeles. Dieses Institut bietet Studenten und Fakultäten verschiedene Möglichkeiten der Aus- und Weiterbildung in solch einem interdisziplinären Umfeld, in der Hoffnung, eine neue Generation von sich einander annähernden Forschern, Lehrern und Praktikern zu unterstützen.
Bindungen, Geist und Gehirn
Seit Jahrtausenden versuchen Menschen die Essenz des Menschseins zu begreifen. Die menschliche Psyche, definiert als Seele, Intellekt und Geist, ist eine funktionierende Entität, von der man annimmt, dass sie aus den Gehirnaktivitäten entsteht. Das Gehirn, selbst ein integriertes System des Körpers, wird unter Zuhilfenahme der sich explosionsartig entwickelnden neuen Erkenntnisse der Neurowissenschaften erforscht. Die Gehirnforschung erkundet, wie geistige Vorgänge durch die Aktivität feuernder Neuronen im Gehirn entstehen.
Gleichzeitig befasst sich das unabhängige Fachgebiet Psychologie mit der Erforschung des Menschen entlang verschiedenen Dimensionen: Erinnerung, Denken, Emotionen und Entwicklung, um nur einige zu nennen. Unser Verständnis der kindlichen Entwicklung wurde durch ein Teilgebiet dieses Themenfeldes weit vorangebracht: die Bindungstheorie. Die Forschung in dieser Richtung hat uns neue Erkenntnisse darüber vermittelt, wie der Umgang der Eltern mit ihren Kindern deren spätere Entwicklung beeinflusst. Es konnte gezeigt werden, dass sich zwischenmenschliche Beziehungen und Kommunikationsmuster, die Kinder mit ihren Bezugspersonen erfahren, direkt auf die Entwicklung geistiger Prozesse auswirken.
So können wir nun das Wissen darüber, wie das Gehirn mentale Prozesse hervorbringt (Neurowissenschaften) mit dem Wissen, wie Beziehungen mentale Prozesse formen (Bindungsforschung) in eine direkte Beziehung zueinander setzen. Diese Konvergenz ist die Essenz unseres wissenschaftlichen Ansatzes, der „interpersonellen Neurobiologie“, und sie bildet das Gerüst, von dem aus wir zu einem Verständnis der alltäglichen Erfahrungen von Kindern und ihren Eltern gelangen können.
Die interpersonelle Neurobiologie geht hinsichtlich der Entwicklung von folgenden Grundprinzipien aus:
• Der Geist ist ein Prozess, der mit dem Fließen von Energie und Informationen zu tun hat.
• Der Geist (der Strom von Energie und Informationen) tritt durch das Zusammenspiel von neurophysiologischen Prozessen und zwischenmenschlichen Beziehungen zutage.
• Der Geist entwickelt sich, während das genetisch vorprogrammierte Heranreifen des Gehirns auf fortlaufende Erlebnisse reagiert.
Wissenschaftler gehen zwar davon aus, dass die Muster, in denen das neuronale Netzwerk feuert, den „Geist“ – nämlich Prozesse wie Aufmerksamkeit, Emotionen und Erinnerungen – hervorbringen. Jedoch wissen wir nicht genau, wie die Gehirnaktivitäten die subjektive Erfahrung von einem Geist entstehen lassen. Den Geist als einen Strom von Energie und Informationen zu betrachten, ist eine Art, von den Gehirnaktivitäten zum Geist zu gelangen. Eine Energie, die man im Geist beobachten kann, wäre zum Beispiel die körperliche Eigenschaft der Stimmlautstärke, der Zustand der Wachheit oder Müdigkeit, den man gerade verspürt, oder die Intensität der Kommunikation mit einer anderen Person. Ein Neurowissenschaftler würde untersuchen, wie viel Energie in den verschiedenen Bereichen des Gehirns verwendet wird. Das geschieht mit Hilfe eines Gehirnscans, der anhand des erhöhten Stoffwechsels in bestimmten Regionen zeigt, wo verschiedene chemische Stoffe verbraucht werden oder wo der Blutdruck erhöht ist, oder mit Hilfe eines Elektroenzephalogramms, kurz EEG, das die elektrischen Gehirnwellenmuster abbildet. Der Informationsfluss im Geist wären die Worte, die Sie gerade lesen, das heißt, deren Bedeutung, nicht die Druckerschwärze auf dem Papier oder der Klang der Worte. Frei nach Mark Twain ist der Unterschied zwischen der Bedeutung des richtigen Worts und der des beinahe richtigen Worts der gleiche wie der zwischen einem Blitz und einem Glühwürmchen. Bedeutung ist ein sehr gewichtiger Aspekt der Informationsverarbeitung im Geist. Die Symbolik, die wir für die Welt verwenden, hat einen unmittelbaren Einfluss auf unsere Wahrnehmung der Realität. Im Gehirn werden Informationen durch das Feuern entlang der Nervenverbindungen in verschiedenen Schaltkreisen erzeugt. Die Gehirnregion bestimmt die Art der Information (Sehen oder Hören); das spezifische Muster bestimmt den jeweiligen Inhalt (Sehen des Eiffelturms und nicht der Golden Gate Bridge).
Bei der Geburt zählen Menschen zu den hilflosesten Geschöpfen. Menschenkinder werden mit sehr schwach entwickelten Gehirnen geboren und sind für ihr Überleben auf die Hilfe Erwachsener angewiesen. Das heranwachsende Gehirn eines Kindes entwickelt seine erforderliche Komplexität aufgrund von Erbinformationen und von Erfahrung. Anders ausgedrückt: die Unreife des kindlichen Gehirns bedeutet, dass Erfahrungen eine entscheidende Rolle dabei spielen, welche einmaligen Eigenschaften durch die entstehenden Nervenverbindungen festgelegt werden. Sogar gerade die Gehirnstrukturen, die es ermöglichen, dass Erfahrungen wahrgenommen und gespeichert werden können, werden durch Erfahrungen geformt.
Die Betreuung durch Erwachsene fördert die Entwicklung der für das Überleben notwendigen geistigen Werkzeuge. Diese Bindungserfahrungen lassen Kinder gedeihen und machen sie flexibel und anpassungsfähig für einen ausgeglichenen Umgang mit ihren Emotionen, ihren Gedanken und ihrem Einfühlungsvermögen gegenüber anderen. Die Neurowissenschaft zeigt, dass diese geistigen Fähigkeiten durch die Integration bestimmter Schaltkreise im Gehirn entstehen. Davon unabhängige Ergebnisse der Bindungsforschung legen dar, welche Arten von Beziehungserfahrungen notwendig sind, damit ein Kind gedeiht und sich diese geistigen Prozesse gut entwickeln. Die interpersonelle Neurobiologie setzt die Puzzleteile des Elefanten, den die blinden Männer ertasten, zusammen und gelangt dadurch zu dem Ansatz, dass Bindungsbeziehungen wahrscheinlich die Entwicklung der integrativen Fähigkeiten des Gehirns unterstützen, indem sie den Erwerb dieser emotionalen, kognitiven und zwischenmenschlichen Fähigkeiten ermöglichen.
Gedächtnis, Gehirn und Entwicklung: Unsere Erinnerungen prägen uns
Die Gedächtnisforschung ist ein spannendes Gebiet mit einer Fülle neuer Erkenntnisse über die Art und Weise, wie sich Erfahrung auf Geist und Gehirn auswirkt. Wir wissen heute, dass Erfahrung die Verbindungen zwischen den Neuronen verändert und somit ein ganzes Leben lang das Gehirn formt. Eine „Erfahrung“ ist für das Gehirn das Feuern von Neuronen, wenn Ionen an diesen lang gestreckten Grundbausteinen des Gehirns entlangfließen. Im Gehirn befinden sich mehr als drei Millionen Kilometer Nervenfasern. Jedes der zwanzig Milliarden Neurone des Gehirns ist im Durchschnitt mit 10 000 weiteren verbunden. Daraus ergibt sich ein unglaublich komplexes, ineinander verwobenes Netzwerk aus Billiarden von Synapsen, oder neuronalen Verbindungen. Manche schätzen die Anzahl der Muster, in denen Neurone feuern – insgesamt im Gehirn mögliche Schaltungen von aktiven und inaktiven Neuronen – auf zehn hoch eine Million; also zehn, eine Million Mal mit zehn multipliziert. Das menschliche Gehirn wird als das komplexeste aller Gebilde natürlicher oder künstlicher Art im Universum angesehen.
Die Wissenschaft hat gezeigt, dass das Gedächtnis mit Veränderungen in den Neuronenverbindungen arbeitet. Wenn Neurone gleichzeitig aktiviert werden, erzeugt dies assoziative Verknüpfungen. Beißt uns ein Hund gerade in dem Moment, wo wir ein Feuerwerk hören, so kann daraus nicht nur eine Assoziation von Schmerz und Angst mit Hunden, sondern auch mit Feuerwerken entstehen. Dem ein halbes Jahrhundert alten Axiom des kanadischen Arztes und Psychologen Donald Hebb zufolge, entstehen diese Verknüpfungen, weil Neurone die gemeinsam aktiviert werden, sich miteinander verbinden: „Neurons which fire together, wire together.“ Vor wenigen Jahren erhielt der Psychiater und Neurobiologe Eric Kandel den Nobelpreis für den Nachweis, dass bei Neuronen, die wiederholt feuern (aktiviert werden), das genetische Material im Neuronenkern „angeregt“ wird, neue Proteine herzustellen, welche den Aufbau neuer Synapsenverbindungen zwischen den Neuronen ermöglichen. Das Feuern von Neuronen (Erfahrung) aktiviert genetische Mechanismen, die es dem Gehirn erlauben, seine internen Verknüpfungen (Gedächtnis) zu verändern.
Das Gehirn entwickelt sich auch, wenn Neurone wachsen und neue Verbindungen untereinander knüpfen. Das ist der Grund, warum die Wissenschaft uns sagt, dass Erinnerung und Entwicklung zwei einander überlappende Vorgänge sind: Erfahrungen beeinflussen, wie sich die Gehirnstruktur entwickelt; unsere Gene bestimmen zu einem großen Teil, wie sich Neurone miteinander verbinden. Aber genauso wichtig ist es, dass Erfahrung diese Gene überhaupt erst dazu aktiviert, den Verknüpfungsprozess zu beeinflussen. Es ist nutzlos, über diese voneinander abhängigen Vorgänge zu streiten und sie in allzu vereinfachenden Diskussionen gegeneinander zu setzen: etwa Erfahrung gegen Biologie oder Veranlagung gegen Erziehung zu setzen. Die Gehirnstruktur wird durch Erfahrung geformt. Erfahrung ist Biologie. Wie wir unsere Kinder behandeln, beeinflusst, wer sie sind und wie sie sich entwickeln. Ihre Gehirne bedürfen unserer elterlichen Beteiligung. Veranlagung benötigt eine Art äquate Beziehung.
Das Gehirn ist so aufgebaut, dass es sich im Allgemeinen selbst um die Grundlagen für eine normale Entwicklung kümmern kann – wir müssen lediglich die Erfahrungen von Interaktion und Reflexion beisteuern, die das wachsende soziale Gehirn eines Kindes benötigt, und keineswegs Sinne und Körper mit Reizen überfluten. Eltern formen aktiv die Gehirne ihrer heranwachsenden Kinder. Das unreife Gehirn eines Kindes ist so empfänglich für soziale Erfahrungen, dass Adoptiveltern eigentlich auch leibliche Eltern genannt werden sollten, da die familiären Erfahrungen, die sie erzeugen, die biologische Struktur der Gehirne ihrer Kinder formen. Die Zeugung ist nur ein Weg, wie Eltern biologisch auf das Leben ihrer Kinder Einfluss nehmen.
Erfahrung und die Entwicklung des Gedächtnisses und des Selbst
Erinnerungen sind durch Erfahrung hervorgerufene neuronale Verbindungen, bei denen gegenwärtige und zukünftige Aktivierungsmuster von Neuronen auf eine bestimmte Weise verändert werden. Wenn Sie nie zuvor von der Golden Gate Bridge gehört haben, dann werden diese Worte in Ihnen eine andere Reaktion auslösen als bei jemandem, der in San Francisco lebt und sich die Brücke leicht vorstellen sowie damit verknüpfte Wahrnehmungen, Emotionen und andere Assoziationen hervorrufen kann. Die beiden Hauptarten von Erinnerungen, explizite und implizite, sind ziemlich verschieden voneinander. Ein Säugling verfügt bereits ab der Geburt oder sogar früher über, wenn auch noch im Wachstum begriffene, funktionsfähige Schaltkreise für das implizite Gedächtnis (für Emotionen, Verhalten, Wahrnehmungen und körperliche Erfahrungen). Zu dieser Form des Gedächtnisses gehört auch die Art und Weise, wie das Gehirn Erfahrungen zu mentalen Modellen zusammenfasst.
Das explizite Gedächtnis verwendet grundlegend die gleichen Speichermechanismen wie das implizite Gedächtnis. Zusätzlich werden die Informationen jedoch noch durch eine integrierende Region des Gehirns verarbeitet, die man Hippocampus nennt. Daher ist es auf die Ausreifung dieser Region angewiesen, die erst im Alter von ungefähr anderthalb Jahren beginnt. Bis dahin ist das explizite Gedächtnis noch nicht in vollem Umfang verfügbar. Mit der Entwicklung des Hippocampus ist der Geist nun fähig, Verbindungen zwischen den unterschiedlichen Elementen des impliziten Gedächtnisses herzustellen, und die integrierten neuronalen Repräsentationen von Erfahrungen in ihrem Kontext abzubilden. Damit ist die Grundlage für die faktenorientierte und dann autobiografische Form des expliziten Gedächtnisses gelegt. Der Hippocampus dient also sozusagen als „Kartograph des Denkens“, indem er assoziative Verbindungen zwischen den Repräsentationen herstellt, die zeitlich getrennt sind oder verschiedenen Arten der Wahrnehmung (Sehen, Hören, Berühren) oder Gedanken (Ideen, Vorstellungen, Theorien) zugeordnet sind.
Um den zweiten Geburtstag herum entwickelt sich durch die weitere Heranreifung der präfrontalen Regionen des Gehirns allmählich eine Vorstellung von Zeit und von einem Selbst, und zeigt damit den Beginn des autobiografischen Gedächtnisses. Vor diesem Entwicklungsschritt befindet sich das Kind in der ersten Phase der „Kindheitsamnesie“, in welcher bereits das implizite, aber noch nicht das explizite Gedächtnis verfügbar ist. Aber auch nachdem die autobiografische Form des expliziten Gedächtnisses seine Arbeit aufgenommen hat, haben Kinder immer noch Schwierigkeiten, sich Ereignisse vor ihrem fünften Lebensjahr in genauer und kontinuierlicher Form ins Gedächtnis zu rufen.
Bis jetzt weiß noch niemand, warum das so ist. Eine Möglichkeit wäre, dass die Art, wie wir unsere Erinnerungen konsolidieren, wie wir also die riesige Menge Stoff in unseren Gedächtnisspeicher integrieren, erst in unserer Vorschulzeit wirklich ausgereift ist. Explizite Erinnerungen bewegen sich durch die Aktivität des Hippocampus vom ersten Speichern in das Kurzzeit- und dann in das Langzeitgedächtnis. Mit der Zeit, durch den Prozess der so genannten kortikalen Konsolidierung, werden die Langzeit-Erinnerungen permanent. Für die Transformierung dieser Gedächtnisinhalte in eine permanente Form, in der sie unabhängig vom wichtigen Hippocampus abgefragt werden können, benötigen wir unter anderem REM-Schlaf, also Schlafphasen, die durch schnelle Augenbewegungen (rapideye move- ment, abgekürzt REM) gekennzeichnet sind. Das sind die Phasen, in denen wir träumen. Beim Träumen kommen Emotionen und Erinnerungen und die Verarbeitungsfunktionen der rechten und linken Gehirnhälfte zusammen. Möglicherweise benötigen wir dazu bestimmte integrative Schaltkreise, die bei Kindern im Vorschulalter noch nicht genügend ausgereift sind, um in späteren Jahren einen einfachen Zugriff auf explizite autobiografische Erinnerungen aus dieser Zeit zu ermöglichen. Vorschulkinder träumen zwar und haben explizite Erinnerungen an ihre Erlebnisse, aber wir nehmen hier an, dass der Konsolidierungsprozess in diesem Alter noch nicht ausgereift ist, so dass die autobiografischen Erinnerungen nicht vom Langzeitgedächtnis in eine dauerhafte Form überführt werden können. Wenn das Reifestadium der kortikalen Konsolidierung den begrenzenden Faktor darstellt, dann wird verständlich, warum es den meisten Menschen nach dem Vorschulalter schwer fällt, sich in Form kontinuierlicher Abläufe an davor liegende Lebensphasen zu erinnern.
Kleine Kinder verarbeiten ihre Erlebnisse unter anderem im Spiel. Indem sie neue Szenarien erdachter und durchlebter Ereignisse erschaffen, können sie neue Fähigkeiten üben und die komplexen emotionalen Gegebenheiten der sozialen Welten, in denen sie leben, in sich aufnehmen. Unser Geist versucht möglicherweise durch das spielerische Erschaffen von Geschichten und vermutlich durch unsere Träume, aus unseren Erfahrungen „schlau zu werden“, und dieses Verständnis in einem Bild von uns selbst in der Welt zu festigen. Wenn Kinder aus dem Vorschulalter herauswachsen, tritt durch die Reifung des Balkens, der die beiden Gehirnhälften miteinander verbindet, und der präfrontalen Gehirnregionen möglicherweise ein Konsolidierungsprozess in Erscheinung, der die Vorstellung von einem Selbst im zeitlichen Zusammenhang verarbeiten kann und damit das Gerüst für ein Selbstverständnis bildet, das wir autobiografisches Gedächtnis nennen. Diese neurobiologische Reifung könnte erklären, warum der kontinuierliche Zugriff auf autobiografische Erinnerungen aus dieser Zeit erst mit einiger Verzögerung eintritt. Mit dieser Konsolidierung erzeugen wir wahrscheinlich unser autobiografisches Gefühl von einem Selbst – etwas, das durch Erfahrungen geformt wird und sich unser ganzes Leben hindurch weiterentwickelt.
Belastende Erlebnisse können sich anders auf unsere Erinnerung auswirken als nicht traumatische Ereignisse. Unverarbeitete Traumata können unter anderem die normale Verarbeitung von Erinnerungen blockieren, indem sie mit dem normalen Kodierungsund Speicherverfahren in Konflikt geraten. Beispielsweise kann eine überwältigende Erfahrung die Kodierung blockieren, indem sie die Verarbeitung der aufgenommenen Informationen im Hippocampus hemmt, so dass nur eine implizite und keine explizite Verarbeitung erfolgen kann. Dies könnte durch eine übermäßige Ausschüttung von Neurotransmittern oder Stresshormonen im Verlauf des schrecklichen Ereignisses ausgelöst werden. Sie blockieren die Kodierungsmechanismen des Hippocampus. Ein weiterer blockierender Faktor ist die Abwendung der Aufmerksamkeit, bei der die bewusste Wahrnehmung im Verlauf der Erfahrung auf einen nicht traumatischen Teil der Umgebung gerichtet wird. In dieser Situation könnte ebenfalls eine implizite Verarbeitung erfolgen, während die für eine explizite Kodierung durch den Hippocampus erforderliche Aufmerksamkeit blockiert ist. Beide Mechanismen führen zu rein impliziten Spuren von Erinnerungen, die beim Abruf den Geist der betreffenden Person erfüllen würden, ohne dass diese sie dabei als Erinnerungen empfindet. Darüber hinaus verfügen implizite Erinnerungen nicht über assoziative Verknüpfungen, wie sie vom Hippocampus geprägt werden und die sie in einen verständlichen Kontext bringen würden. Implizite Erinnerungen ohne explizite Verarbeitung können in extremen Fällen dazu führen, dass man einen Flashback erfährt, eine Rückblende, in der man Ereignisse noch einmal durchlebt. Im Allgemeinen sind sie jedoch eher die Ursache für starre, implizite, mentale Modelle, die Eltern daran hindern, im Umgang mit ihren Kindern flexibel und einfühlsam zu bleiben.